Borussia Mönchengladbachs U19-Trainer Oliver Kirch blickt auf die Entwicklung seiner Mannschaft und seine eigene am Ende eines erfolgreiches Jahres.
Oliver Kirch, Sie standen mit der U19 im Mai im Halbfinale um die Deutsche Meisterschaft, die Vorrunde der neuen Nachwuchsliga haben Sie auf Platz eins abgeschlossen. Wie fällt Ihr Fazit des Fußballjahres 2024 aus?
Oliver Kirch: "Grundsätzlich bin ich sehr stolz auf die Jungs, ihre individuelle Entwicklung und unsere Entwicklung als Mannschaft. Wir haben versucht, den Jungs zu vermitteln, dass auch das Halbfinale ein Erfolg ist. Es war eine erfolgreiche Saison, auch wenn es kein Märchenende gab. Das hat uns zusammengeschweißt und wenn wir uns in 20 Jahren wieder treffen, haben wir uns was zu erzählen."
Das Erlebnis, sich als Team bei einem Bundesligaspiel vor der Nordkurve feiern zu lassen, vergisst man sicher nicht.
Kirch: "Exakt. Ich glaube, das Bild hängt bei vielen an der Wand. Da hat man gesehen, dass es nicht nur um Ergebnisse, sondern auch um gemeinsame Erlebnisse geht."
In der Vorrunde sind Sie in Ihrer Gruppe mit zehn Punkten Vorsprung Erster geworden, wie hat sich die Reform der Nachwuchsligen des DFB aus Ihrer Sicht bemerkbar gemacht?
Kirch: "Ich sehe bislang keinen nennenswerten Unterschied. Es sind ähnliche Gegner, die Zahl der Duelle mit vermeintlich kleineren Gegnern und die Zahl der Top-Spiele haben sich nicht geändert, wenn man es hochrechnet. Der Unterschied kommt jetzt im neuen Jahr."
In der Hauptrunde trifft Borussia auf den VfL Wolfsburg, Fortuna Düsseldorf, Hertha BSC, 1860 München und den VfB Stuttgart. Wie schätzen Sie die Gruppe ein?
Kirch: "Das ist eine der stärksten Gruppen, aber das ist genau das, was wir wollten. Wir kriegen die Vergleiche auf hohem Niveau. Wolfsburg investiert viel in die Jugend und hat deshalb Jahr für Jahr eine Top-Mannschaft, Hertha war schon häufiger in der Endrunde dabei. Der VfB Stuttgart ist in der Youth League marschiert, Düsseldorf ist für uns ein kleines Derby und 1860 ist traditionell für eine gute Jugendarbeit bekannt."
Zieht man nach der Vorrunde den bundesweiten Vergleich, kann sich Gladbach wohl nicht dagegen wehren, mit der U19 zu den Meisterschaftsfavoriten zu zählen.
Kirch: "Dass wir zu den besten Mannschaften Deutschlands gehören, kann man ablesen. Zusammen mit Bayern und dem BVB haben wir die höchste Punktzahl aller Mannschaften erreicht. Das ist ein gutes Zeichen. Aber unsere oberste Zielsetzung ist es nicht, Meister zu werden. Bei uns geht es immer um Entwicklung, und das Ziel kann man im Nachwuchs noch glaubhaft vermitteln. Die Entwicklung findet bei uns auf einem hohen Niveau und konstant statt. Wir wollen die Endrunde erreichen, dafür müssen wir in der Gruppe unter die ersten Vier kommen. Danach gibt es ab dem Achtelfinale ein K.o.-System mit nur einem Spiel – da kann ich nicht sagen, wir werden Meister, weil es brutal auf die Tagesform ankommt. In der Theorie ist es durch das neue System etwas leichter, sich für dieEndrunde zu qualifizieren. Ab dann ist es eher wie ein Pokal-Wettbewerb."
In Tiago Pereira Cardoso trainieren Sie einen A-Nationalspieler. Wie macht sich das bemerkbar, wenn er am Montagabend noch in der Nations League für Luxemburg im Tor steht und dann zurück nach Gladbach kommt?
Kirch: "Es macht Spaß zu sehen, wie seine Persönlichkeit weiterwächst, damit strahlt er unheimlich viel aus. Ein Beispiel: Er kommt von der Nationalmannschaft zurück und hätte eigentlich einen freien Tag, aber will unbedingt trainieren. Und macht das dann auch. Zweites Beispiel: Anfang Dezember ist er mit uns nach Leverkusen zum Spiel gefahren, er war aber gesperrt. Nach dem Spiel komme ich in die Kabine – und er ist derjenige, der einen Besen in der Hand hält und von sich aus die Kabine reinigt. Das ist außergewöhnlich."
Wie groß ist die Chance denn tatsächlich, dass es bei den Spielern einen Effekt hat, wenn sie sich früh auf einem höheren Niveau messen dürfen?
Kirch: "Ich finde, das ist ein ganz klarer Push. Ich bin ein Freund davon, Spieler früh in höheren Mannschaften zu integrieren, wenn es sich anbietet. Elias Vali Fard hat als U17-Spieler jedes Spiel bei uns gemacht. Bei ihm spürt man, dass er diesen Schritt gebraucht hat."
Welche Eigenschaften sind unabdingbar, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, den Durchbruch zu schaffen?
Kirch: "Klammern wir die fußballerische Qualität als Grundvoraussetzung mal aus – was dir dann extrem hilft, im Training bei den Profis akzeptiert zu werden, ist das Thema Verlässlichkeit. Das gilt für das eigene Spiel auf dem Platz wie für das Verhalten in der Kabine. Dann braucht es Biss und Hartnäckigkeit."
Und die Fähigkeit, mit Rückschlägen umzugehen?
Kirch: "Ja, es wird nicht in einer Tour steil nach oben gehen, nicht alle werden dich mit offenen Armen empfangen. Man bekommt als junger Spieler auch mal einen auf den Deckel. Die Frage ist dann: Wie geht man damit um? Wie widerstandsfähig und lernfähig ist man? Das ist entscheidend."
Sie selbst haben in der U19 noch in Vreden gespielt. Tim Kleindienst und Deniz Undav zeigen, dass unkonventionelle Wege sogar noch in die Nationalmannschaft führen können. Wird das in Zukunft noch möglich sein?
Kirch: "Wir tauschen uns auch mit kleineren Klubs aus. Oder Trainer, die gegen Mannschaften aus der Umgebung spielen, machen sich Notizen. Es wäre total fahrlässig, das nicht zu tun, denn diese Umwege werden auf keinen Fall aussterben – auch wenn man das jetzt seit 30 Jahren prophezeit. Das Netz ist sehr engmaschig, aber es gibt immer Jungs, die sich spät entwickeln oder keine auffällige Qualität haben, sondern vor allem keine Schwäche. Es heißt, jedes Talent brauche eine „Waffe“, aber vielseitig zu sein, finde ich genauso wichtig."
Sie mussten, um die Uefa-Pro-Lizenz zu erlangen, Ihre Fußballphilosophie niederschreiben. Wie sieht sie aus?
Kirch: "Ich habe das vor einem Jahr gemacht, ganz ehrlich: Das würde jetzt schon wieder anders aussehen, und so dürfte das bleiben. Bei der Trainervision ging es darum, die eigenen Gedanken zu ordnen, von daher war das wertvoll. Ich musste Prinzipien erarbeiten – für den Platz,die Führung des Teams, den Staff und die gesamte Organisation. Dabei bin ich auf dem Platz gar kein großer Fan von festen Prinzipien, weil ich glaube, dass das den Spielern etwas wegnimmt."
Warum?
Kirch: "Ein Prinzip bedeutet oft: Du musst das machen. Gerade im eigenen Ballbesitz sollte es aber heißen: Du darfst das machen – und wenn dir etwas Eigenes einfällt, kann das auch geil sein. Oft kann ich die Lösung mitsprechen, die ein Spieler wählen wird, als hätte ich einen Playstation-Controller in der Hand. Auch das ist ein cooler Moment, nur freue ich mich noch mehr, wenn jemand etwas Überraschendes macht. Je höher das Niveau der Spieler geworden ist, die ich trainieren darf, desto mehr habe ich mir abgewöhnt, so viel vorzugeben."
Es ist kein Geheimnis, dass Sie irgendwann im Seniorenfußball landen wollen. Inwiefern ist die aktuelle Phase noch Lernzeit für Sie und wer hilft Ihnen selbst bei der Entwicklung?
Kirch: "Sowohl intern als auch extern gibt es da Menschen. Meine Vorstellungen sind vor allem 2024 aber viel klarer geworden – sowohl, was die Führung der Spieler angeht, als auch die Spielweise auf dem Rasen. Ich kann mir vorstellen, dass das alles kein Gegensatz ist zur Arbeit mit einer Profimannschaft. Logischerweise gibt es dennoch Unterschiede zum Jugendtraining abends um halb sieben und zu Topspielen gegen Leverkusen vor 200 Zuschauern."
Wie groß ist bei der Weiterentwicklung der Einfluss der täglichen Arbeit und welche Rolle spielen Erfahrungen aus Ihrer Laufbahn? Sie haben Champions League gespielt und unter Jürgen Klopp trainiert.
Kirch: "Es ist immer wieder ein Abgleich: Was machen wir? Welche guten Ideen haben andere Mannschaften? Und dann erinnere ich mich natürlich an die eigene Karriere, ich kann mir auch nicht vorstellen, dass das aufhört."
Woraus ziehen Sie Inspiration?
Kirch: "Es ist immer spannend, wenn irgendwo Neues entsteht oder Vereine neue Trainer bekommen: Vincent Kompany bei den Bayern oder Hansi Flick bei Barça zum Beispiel. Dann lohnt es sich immer, auf die zweite Saison von Mannschaften zu schauen, die besonders erfolgreich waren – Leverkusen oder Stuttgart zum Beispiel. Nuri Sahin verfolge ich in Dortmund, weil er ein Freund von mir ist, Fabian Hürzeler in Brighton ist spannend – ich könnte den ganzen Tag Fußball gucken."
Könnten Sie jederzeit Jürgen Klopp anrufen und um Rat fragen unter Trainern?
Kirch: "Das könnte ich sicherlich – und werde ich jetzt in der Winterpause bestimmt mal tun. Das kann aber auch jeder seiner Ex-Spieler bestätigen: Du rufst ihn an und er nimmt ab, aus ehrlichem Interesse und Hilfsbereitschaft."
Klopp hat aber die Regel aufgestellt, dass nur Spieler bei ihm hospitieren können, die unter ihm trainiert haben.
Kirch: "Da hab‘ ich Glück gehabt. (lacht) Kurz vor Corona war ich anderthalb Wochen in Liverpool. Aber er nimmt selbst eher nicht den Hörer in die Hand – weil er sowieso immer angerufen wird."
Es geht jetzt wieder um Vorsätze fürs neue Jahr. 2024 haben Sie oft gewonnen mit Ihrer Mannschaft, an enttäuschenden Stellen aber auch nicht. Was wird Ihnen 2025wichtig sein?
Kirch: "Die Gesundheit steht über allem, dieses Jahr gab es leider zu viele Verletzungen. Das ist einfach essenziell für die Entwicklung der Spieler. Sportlich ist klar, dass wir mindestens Vierter werden und uns fürs Achtelfinale qualifizieren wollen. Und es wäre schön, wenn vielleicht das erste Eigengewächs debütiert, das unter mir trainiert hat."
Wie lange sehen Sie sich noch im Jugendbereich? Bei Ihren Spielern ist klar, wann sie hochgehen.
Kirch: "Ich habe keinen Fünf-Jahres-Plan, gerade mal einen Ein-Jahres-Plan. Was wir machen, macht extrem Spaß. Im Profibereich zu arbeiten, ist ein Ziel – aber es ist überhaupt nicht klar, was der nächste Schritt ist."
Das Interview führten Hannah Gobrecht und Jannik Sorgatz