Wer etwas über Konflikte im Amateurfußball wissen möchte, der muss in den Kindergarten. Genauer: zum MUMM-Familienservice in Mönchengladbach-Rheydt. Dort arbeitet Matthias Bongartz, 32 Jahre, als Koordinator und Fachberater für den Kindergartenträger. In seiner Freizeit gehört sein Leben jedoch dem Fußball.
Allerdings nur noch selten als Aktiver, eine Knieverletzung zwang ihn zum Kürzertreten. Er beschäftigt sich nun in erster Linie mit sogenannten „Vorkommnissen“, wie es der Deutsche Fußball-Bund (DFB) nennt. Auf seinem Schreibtisch landet all das Unschöne, was auf den Fußballplätzen vorfällt: Rassismus, Beleidigungen, tätliche Angriffe. Bongartz ist der Kreiskonfliktbeauftragte im Fußballkreis Mönchengladbach- Viersen.
Diese Bezeichnung löste im deutschen Fußball 2014 den Begriff des Fußballlotsen ab. Sie ist zum einen als Meldestelle gedacht, die Vorfälle im Kreis dokumentiert und an den DFB weiterleitet, zum anderen als Anlaufstelle für Spieler, Schiedsrichter oder Funktionäre, wenn Redebedarf besteht. „Ich bin kein Gericht. Sanktionen darf nur das Sportgericht aussprechen. Ich bin dafür da, Gespräche zu führen, damit es zu keinen weiteren Konflikten kommt“, sagt Bongartz.
Er nennt ein fiktives Beispiel: Ein Derby in der Kreisliga C, in dem es in früheren Spielen schon mehrfach zu Raufereien kam – und nun besteht die Sorge, dass es wieder knallt. „Dann kann man sich an meine Adresse wenden. Ich zeige Wege und Möglichkeiten auf, beispielsweise, dass mehr Ordner zur Verfügung gestellt werden oder ein Schiedsrichtergespann aus Hauptschiedsrichter und Assistenten die Partie leitet“, sagt Bongartz. Er könne aber nur Empfehlungen geben, keine Maßnahmen vorschreiben. Alles, was negativ vorfällt, wird bei Bongartz gebündelt. Er nennt es seinen digitalen Vereinsstapel. „Fällt ein Verein dann ungewöhnlich häufig auf, wird versucht, den Verein an den Tisch zu holen – zusammen mit dem Kreisvorstand. Bei diesen Runden bin ich als kommunikativer Vermittler auch dabei“, sagt Bongartz.
Der 32-Jährige übernahm 2016 die Position des Konfliktbeauftragten im Fußballkreis. Zuvor saß er für den Bereich Futsal im Kreisausschuss – 2015 war er im Futsal mit dem Team Holzpfosten Schwerte sogar deutscher Vizemeister. Im Kreis lernte man ihn als kommunikativen Typen mit sozialem Hintergrund kennen. Bongartz zögerte keine Sekunde. „Ich bin gelernter Erzieher und immer sozial engagiert gewesen – und daher immer bestrebt, fair und gerecht zu sein“, sagt er.
Dass der Amateurfußball Leute wie Bongartz braucht, liegt an dessen Gewaltproblem. Im Herbst 2022 veröffentlichte der DFB einen Lagebericht, der für die Spielzeit 2021/22 im Amateurfußball so viele Spielabbrüche wie nie zuvor auswies – es war die erste komplette Saison nach den Corona-Abbrüchen. 911 Partien sind demnach aufgrund von Gewalt- oder Diskriminierungsvorfällen abgebrochen worden. Das ist ein Anteil von 0,075 Prozent an allen Begegnungen, was nach wenig klingt, und trotzdem viel zu hoch ist.
Im Kreis Mönchengladbach-Viersen zeigt sich ein ähnliches Bild: Nach Zahlen des Fußballverbands Niederrhein (FVN) gab es in der Saison 2021/22 sechs Spielabbrüche unter 1972 Partien. In den vier Spielzeiten zuvor, inklusive der Saisonabbrüche 2019/20 und 2020/21, waren es zusammen nur drei. Was ebenfalls auffällt: Insgesamt 50 „Vorkommnisse“ führt der FVN in seiner Statistik zur Vorsaison aus dem hiesigen Fußballkreis, also Fälle, in denen der Schiedsrichter im Spielberichtsbogen bei „Gibt es eine Meldung zu Gewalthandlungen und/oder Diskriminierungen?“ einen Haken setzte. In Summe galt das bei 2,54 Prozent aller Partien. Ein Höchstwert der vergangenen Jahre. In den ebenfalls komplett ausgetragenen Spielzeiten 2017/18 und 2018/19 gab es in Mönchengladbach-Viersen 38 beziehungsweise 24 solcher Meldungen. Zum Vergleich: Im Kreis Grevenbroich-Neuss kam es in der Spielzeit 2021/22 zu 30 Vorfällen und fünf Spielabbrüchen – bei mehr Spielen (2534) als im Kreis von Bongartz. Weitere Zahlen konnte der Verband auf Anfrage nicht mitteilen.
„Jede Tat ist eine zu viel. Gewalt ist nicht zu rechtfertigen“, sagt Bongartz. Er relativiert jedoch für seinen Kreis: „Im Vergleich zu beispielsweise Berlin sind wir ein gelobtes Land. Auch Schiedsrichter werden bei uns nicht so oft angegangen wie in anderen Kreisen.“ Diese Ansicht bestätigt der FVN. Insbesondere Duisburg, Essen oder Oberhausen gelten dort als Problemkreise. „Da ist jedes Wochenende etwas los“, sagt Jürgen Kreyer, FVN-Vizepräsident und Fair Play-Beauftragter im Verband. Er fügt an: „In Mönchengladbach ist Jahrzehnte lang fast gar nichts vorgefallen, es gab nur Einzelfälle. In anderen Kreisen gibt es fünf bis sechs Meldungen pro Wochenende.“
Trotzdem ist der Anstieg an Vorfällen in Mönchengladbach-Viersen unverkennbar. Das hat auch Bongartz registriert. „Als ich 2016 angefangen habe, waren es gefühlt zwei Meldungen in der Saison. Es war über Wochen und Monate ruhig. Inzwischen hat sich das vervielfacht“, sagt er. „Ich würde gerne wissen, warum es so steigt. Langeweile, Unzufriedenheit?“
Die Tübinger Kriminologin Thaya Vester forscht genau zu diesem Thema. Sie hat mehrere Studien zu Spielabbrüchen im bundesweiten Amateurfußball veröffentlicht und für den DFB bei den Ergebnissen des Lageberichts beraten. Sie sagt zum Gewaltproblem: „Im Fußball hat sich in den vergangenen Jahren eine Wutkultur entwickelt, die wahnsinnig schwierig wieder zu durchbrechen ist.“ In anderen Amateursportarten sind Gewaltvorfälle hingegen deutlich seltener. „Es kommen andere Personengruppen zum Handball als zum Fußball“, sagt Vester dazu, „es ist ein anderes Setting, niederschwelliger: Im Fußball treffen Bevölkerungsgruppen aufeinander, die es woanders nicht tun.“ Das gilt sowohl für Zuschauer als auch für Spieler. Der Fußball sei daher kein Spiegelbild der Gesellschaft, sondern ein Brennglas, sagt Vester – wobei damit der Männerfußball gemeint ist, bei den Frauen gibt es laut Vester kaum Vorfälle.
In ihren Studien hat sie ermittelt, dass sich das Gewaltgeschehen insbesondere in den unteren Ligen abspielt – Bongartz kann das mit Blick auf seinen Kreis bestätigen. In den höheren Amateurspielklassen wie der Ober-, Landes- und Bezirksliga sei der Leistungsgedanke bereits sehr ausgeprägt: Die Spieler tragen dort mehr Verantwortung für ihr Handeln – wer negativ auffällt, ist auf diesem Niveau nicht mehr tragbar. Das gilt für die unteren Ligen nur bedingt. Hinzu kommt ein Schiedsrichtermangel: In den Kreisligen pfeifen Unparteiische zumeist ohne Assistenten, wodurch leichter Fehler entstehen, die dann wiederum zu Konflikten führen. Das rechtfertig in keiner Weise eine Eskalation, ist aber oft eine Erklärung.
Warum es nach Corona nun einen deutlichen Anstieg an Spielabbrüchen gibt, darüber kann Vester nur mutmaßen. „Da kommen wir in den Bereich der Spekulation. Naheliegend ist, dass es an den Krisen liegt und ein besonderer Druck auf den Personen lastet. Dadurch flippen sie eher aus. Aber richtig festmachen kann man es nicht“, sagt sie.
Im Kreis Mönchengladbach-Viersen führte im Vorjahr unter anderem der Spielabbruch der A-Liga-Partie von Türkiyemspor und dem ASV Süchteln II zu größerer Aufmerksamkeit – ausgelöst durch einen Disput zwischen einem Spieler und einem Zuschauer. Im Anschluss eskalierte die Situation vor allem außerhalb des Platzes, woraufhin der Schiedsrichter die Begegnung abbrach. Es kam zu einem Wiederholungsspiel. Noch bedrückender fielen die Bilder mit mehreren Schlägereien während der Kreisliga-C-Partie zwischen Rot-Weiß Hockstein IV und Turanspor Rheydt aus. Auch diese Partie brach der Schiedsrichter ab. Resultat: Fünf Spieler bekamen vom Sportgericht längere Spielsperre ausgesprochen, einen Akteur sperrte das Sportgericht für Schläge ins Gesicht eines Zuschauers für ein Jahr.
Wie sind solche Szenen zu verhindern? Durch härtere Strafen? In den Rechts- und Verfahrensordnungen der Sportgerichte ist ein härteres Strafmaß in der Theorie möglich. Ein Blick in die Ausarbeitung des FVN: Für tätliche Angriffe sind Sperren bis zu 72 Spielen festgehalten, in schweren Fällen bis zu drei Jahren. Geht es um Diskriminierung, sind neben Sperren zusätzliche Geldstrafen ab 500 oder 1000 Euro für Spieler oder Verein möglich. Für Vereine kann es sogar Punktabzüge geben. Vester sagt jedoch: „Es mangelt nicht daran, dass der Strafrahmen zu niedrig ist. Es liegt eher an der Anwendung.“ Ihr geht es zudem um eine konsequentere Regelauslegung auf dem Platz. Dazu bräuchte es aber Rückendeckung von den Verbänden und den Sportgerichten. „Wenn ein einzelner Schiedsrichter auf dem Dorfplatz sagt: Ich fahre jetzt eine härtere Linie, dann erwartet ihn Gegenwind von Spielern, Kollegen und womöglich vom Sportgericht – er pfeife zu kleinlich. Das funktioniert nur in einem gemeinsamen Beschluss. Das Risiko, strafreich davon zu kommen, muss minimiert werden. Das ist die Abschreckung“, sagt Vester.
Mehr Konsequenz bei den Regeln ist auch der Ansatz von Jürgen Kreyer, dem FVN-Vizepräsidenten, der einst selbst als Schiedsrichter in der 2. Bundesliga auf dem Platz stand. Er sieht dafür jedoch die Bundesliga in der Pflicht und befürwortet dort eine härtere Linie der Schiedsrichter. Diese würde dann positiv auf die unteren Klassen abfärben, ist Kreyer überzeugt: „Das versuchen wir als Amateursport den Profis zu signalisieren: Ihr habt die Vorbildfunktion: Ball wegschießen, Ball wegtragen oder bei jedem Foul den Schiedsrichter umzingeln – das sind so Unsitten. Es muss in der Bundesliga vorgelebt werden. Das hat Tragweite.“ Also weniger Probleme im Amateurfußball durch härteres Durchgreifen in der Bundesliga?
Präventivarbeit scheint hingegen kaum etwas zu erreichen. Der FVN installierte vor einigen Jahren einen Lehrstab mit szenebekannten Juristen und Ex-Polizeibeamten. Dieser bietet kostenlose Schulungen für Vereine an, die Nachfrage ist gering. Mehr Wirkung erzielt es laut Kreyer, wenn der Lehrstab als Strafmaßnahme der Sportgerichte zu den Vereinen kommt – eine neue Strategie, die 2016 eingeführt und nun verstärkt angewendet wird. „Das ist deutlich nachhaltiger als früher, als der Verein 500 Euro an Geldstrafe bekam und beteuerte, den Spieler rauszuschmeißen – und damit war das Thema durch. Das ist heute nicht mehr der Fall.“ Nun schreibt der Lehrstab Berichte, dokumentiert, wie sich die Betroffenen in den Schulungen eingebracht haben. Es werden Vorgaben erarbeitet, an die sich der Verein als Bewährungsauflage zu halten hat. „Die Betroffenen müssen richtig arbeiten und liefern. Und es wird kontrolliert. Das stößt nicht immer auf Gegenliebe, ist aber wichtig“, sagt Kreyer.
Eine andere Maßnahme etablierte sich in Duisburg, einem der Problemkreise im Verband: Dort erarbeitete der FVN zusammen mit der Stadt, dem Fußballkreis, dem Stadtsportbund und den Vereinen eine Charta mit Verhaltensrichtlinien. Wer dagegen verstößt, wird sanktioniert. Zwei Vereine mussten daraufhin bei der Stadt vorsprechen und fürchten, ihr Nutzungsrecht für die Sportanlage zu verlieren – was quasi das Ende des Vereins bedeutet hätte. „Danach haben sich die Vereine diszipliniert. In Duisburg hat ein Umdenken stattgefunden. Das Projekt hat uns weit nach vorne und Duisburg etwas aus den Schlagzeilen gebracht“, sagt Kreyer.
In Mönchengladbach sind solche Maßnahmen noch nicht nötig. Bongartz ist wichtig: Kein Verein im Kreis sei ein Problemfall. „Bei den Fällen, die es hier zuletzt gab, haben sich die Vereine sofort von den Spielern getrennt“, sagt Bongartz. „Die Vereine haben sich in den Gesprächen reflektiert und sachlich gezeigt und es nicht zur Seite geschoben.“ Trotzdem sind auch hier die steigenden Vorfälle bedenklich.
Man könnte nun meinen, dass Bongartz daher ein häufig aufgesuchter Ansprechpartner ist. Dem ist allerdings nicht so. Das Problem aus seiner Sicht: Nur wenige aus dem Fußballkreis kennen seine Aufgabe überhaupt. Nur zwei Klubs suchten ihn seit 2016 für eine Beratung auf. Einmal ging es um einen Konflikt zwischen zwei Vereinen, ein anderes Mal um einen internen Konflikt zwischen einem Spieler und einem Betreuer. Außerdem habe ihn mal jemand von Verbandsseite sowie eine Handvoll Schiedsrichter aufgesucht, erzählt Bongartz „Ein Schiedsrichter hat mich angerufen, um sein Herz auszuschütten. Ich sei ein gutes Ohr, um alles Mal loszuwerden, hat er mir gesagt.“ Mehr Anliegen an seine Adresse gab es bislang nicht.
Dabei scheint der Bedarf vorhanden. „Die Vereine sollten das mehr im Fokus haben – schließlich haben sie später die Probleme mit den Sanktionen“, sagt Bongartz. Der FVN will künftig die Aufgaben der Konfliktbeauftragen stärker bewerben. Es muss zudem nicht immer etwas Negatives sein. „Man kann auch positive Vorkommnisse melden“, sagt Bongartz, „für den Fairplay-Preis.“ Das sei aber auch noch nicht vorgekommen.
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