2024-05-29T12:18:09.228Z

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Foto: NOZ MEDIEN
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Wie sich ein junger Koma-Patient zurück ins Leben kämpft

Jannik Kuzma aus Hagen

Osnabrück. Immer hing Jannik Kuzmas Glück am Ball. Bis zum 5. Juli 2015. Da hatte der Fußballer aus Hagen einen schweren Kopfball-Unfall, lag mit Hirnblutungen im Koma. Vier Wochen, nach denen alles noch so war wie vorher – nur er selbst nicht.

Der Tag, der Janniks Leben entscheidend verändert, beginnt unverschämt banal mit Weißbrot und Nutella. Die Eltern sind im Urlaub, er frühstückt mit Freundin Larissa und dem großen Bruder Hendrik, quatscht ihm noch die Schienbeinschoner ab, bevor er sich am Nachmittag für die 1. Herren des Hagener SV auf den Weg zum Spiel gegen den SC Lüstringen macht. Dann wird es holperig. Jannik vergisst sein Trikot, muss eine Extrarunde drehen und sitzt die erste Halbzeit auf der Bank. „Noch nie ist mir das passiert“, ärgert sich der heute 23-Jährige, der auch schon für die A-Jugend GMHütte in der Regionaliga spielte. Als er in der zweiten Halbzeit endlich auf den Platz darf, gibt der Stürmer Gas. Ein langer Ball kommt nach vorn, Jannik geht voll rein, der Torwart der gegnerischen Mannschaft nicht weniger ambitioniert raus aus seinem Sechzehner, sie schlagen in der Luft mit den Köpfen zusammen, beide gehen zu Boden, Jannik aber steht nicht mehr auf. „So war das“, sagt er und schiebt schnell ein „also sagt man“ hinterher. Denn alles, was auf dem Sportplatz passiert ist, musste er sich erzählen lassen. Seit dem Unfall liegt es für ihn im Dunkeln. Erloschen. Vielleicht für immer. Eine unvergessliche, vergessene 65. Minute.

Knock-out 2015: Jannik liegt mit Streckkrämpfen auf dem Platz. Die Sanitäter bringen ihn ins Marienhospital Osnabrück, das Testspiel wird abgebrochen. Ein Zeitpunkt, zu dem seine Eltern gerade auf dem Campingplatz in Bensersiel entspannen, zu dem sich Larissa für den Nebenjob umzieht, zu dem der Bruder mit dem Zug auf dem Weg nach Mönchengladbach ist. Um 16.09 Uhr bekommt Hendrik eine Whatsapp-Nachricht von einem Hagener Kumpel: „Dein Bruder wird vom RTW abgeholt beim Fußball. Keine Ahnung was da war… Papa sagt Blackout - mit Torwart zusammengerasselt.“ Nicht schon wieder, denkt der Große, der die Verletzungsgeschichte des Kleinen kennt. Mal das Schienbein, mal das Knie. Eine Serie, die ihn auch denken lässt: Sicher nichts Schlimmes - „nur wieder 200 Prozent Gas gegeben“. Typisch Jannik. Dabei hat das, was kommt, nichts mehr mit den bekannten Sportplatz-Wehwehchen zu tun. Jannik wird beatmet, liegt mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma (Grad 3) mit doppeltem Schädelbruch und Hirnblutungen im Koma. Erst im Marienhospital (MHO), später im Klinikum.

Besuch im MHO 2018: Jannik nimmt den Weg auf die Intensivstation des MHO ein zweites Mal - drei Jahre später, im Sommer 2018, aufrecht und bei vollem Bewusstsein. Im Warteraum, wo sich der Geruch von Angstschweiß in den des Hygienemittels mischt, ist jeder zweite Platz schon besetzt - von Anspannung. Jannik lässt sich unbeschwert auf einen Stuhl neben seine Freundin sinken. „Ich kann mich an nichts erinnern“, sagt er. Larissa schon. Stationsleiter Jens Zarling lässt die beiden in ein leeres Zimmer. Larissa kann ihre Erinnerung auf das Weiß der Wände projizieren: „Ich sollte mich Jannik gegenüber so verhalten wie immer.“ Begrüßung mit Kuss, Händchen halten, erzählen vom Tag. Leichter gesagt als getan, wenn das Echo ausbleibt, Schläuche das Küssen behindern, Geräte piepen. „Das Schlimmste für Intensivpatienten ist die fehlende Ruhe“, erklärt Zarling. Maximal bekämen sie 20 Minuten am Stück. Im signalgebenden Raum mit getönten Scheiben, in dem streng überwacht und intensiv gepflegt wird, weicht das Gefühl für Raum und Zeit. „So funktioniert sonst Folter“, bringt Zarling den Kontrollverlust auf den Punkt, der in diesem Fall nicht zu verhindern ist. Jannik nickt. Nur weil er sich nicht erinnern kann, heißt das nicht, dass er die psychischen Folgen seines Aufenthaltes nicht zu spüren bekäme: „Irgendwo hier muss auch mein Schlaf-Wach-Rhythmus verloren gegangen sein“, überlegt er. Und nicht nur der.

Das Intensivtagebuch: Jannik fehlen Erinnerungen an mehr als vier Wochen. Ein Krater, bei dem das Intensivtagebuch ansetzt. Als Jannik nichts mitbekommt, führen andere für ihn Buch. Ein Pfleger schreibt von Fieberkrämpfen in der Nacht, der Bruder: „Deine ganze Fußballmannschaft denkt an Dich. Ich komme morgen wieder. Ich vermisse Dich so sehr.“ Das Tagebuch, eine Idee aus Skandinavien, seit 2013 im MHO eingeführt, soll helfen, verlorene Zeit zurückzugeben. Ob es zum Einsatz kommt, hängt von der Dramatik des Falls und der Situation der Angehörigen ab. „Für mich füllt es ein Loch, das ich selbst nicht füllen kann“, sagt Jannik und blättert durch die Fotos seiner Mutter: Janniks erste Regung zu „Wie schön Du bist“ und „Stern des Südens“ für den Bayernfan, sein erster Tag Vollkost mit Mantaplatte, sein erster Schritt. „Das ist krass“, sagt Jannik und deutet auf ein Bild, das zeigt, wie er untergehakt über den Flur läuft. „Da gehe ich, da habe ich die Augen offen, und ich weiß nichts davon.“ Weg. Irgendwo im Synapsen-Gewirr verloren. „Du bist gar nicht mehr du“, sagt er. Ein Satz, der über das Foto und den Gang hinausreicht. Am Anfang sei er von den Medikamenten so entrückt gewesen, da sei es nur darum gegangen, irgendwie am Leben teilzunehmen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, zu sprechen. „Ich war vom Kopf so weit zurück“, sagt er. Inzwischen geht es um mehr.

Kampf zurück ins Leben: Trotz Luftröhrenverkürzung schnappt Jannik weiter nach Luft, zieht durch, will vorankommen. Die lang angestrebte Ausbildung bei der Polizei kann er knicken, er hat einen Schwerbehindertenausweis, ist seit den Hirnblutungen auf einem Auge erblindet, vergisst manchmal. Vor dem Unfall schließt er die elfte Klasse mit einem Notendurchschnitt von 1,8 ab. Nach dem Unfall paukt er bis zum Umfallen, um sein Fachabitur mit Nachteilsausgleich zu packen. Während sich manche Mitschüler fragen: Was will ich eigentlich machen?, beschäftigt Jannik eine andere Frage: Was kann ich eigentlich noch machen? „Meistens kommt dann der Dämpfer.“ Im Sommer 2017 darf er in Münster eine Ausbildung beim Zoll starten. Eine tolle Chance, klasse gemacht, applaudieren alle, Jannik aber bricht zusammen und die Ausbildung ab. „Ich hatte bis dahin keine Zeit, alles zu verarbeiten: büffeln, bewerben, weitermachen“, beschreibt er seinen selbst verordneten Lauf - ja, wohin eigentlich? Was mit ihm passiert ist, seit die Welt schwarz wurde, ein großes Fragezeichen. In Hagen, wo ihn Familie, Freunde, Mitschüler kennen, ist klar: Das ist doch Jannik, der leidenschaftliche Fußballer, Jannik, der mit dem schweren Unfall - aber eben Jannik. In Münster kennt ihn keiner. Wer ist Jannik? Der, der zigmal nach den Namen fragt? Der mit der Narbe? „Ich war zurückgeworfen auf mich, ohne zu wissen, was von mir noch da ist.“

Sportplatz Hagen: Jannik spielt wieder Fußball, Kopfbälle inklusive. „Wovor soll ich Angst haben?“, fragt er. „Ich kann mich an nichts erinnern.“ Wer sich nicht erinnert, ist furchtlos. Die, die sich erinnern, sind es nicht. Janniks Eltern und seine Freundin Larissa sorgen sich, raten ab. Kumpels vom Fußball, Zeugen der Streckkrämpfe, sagen: „Bist du bekloppt, dass du wieder auf den Platz gehst?“ Nicht bekloppt, leidenschaftlich: „Ich kann nicht ohne“, sagt Jannik. Jannik startet da, wo er herkommt: Kreisliga, 1. Herren. Bei denen, die ihm ein neues „Kuzi“-Hagener-SV-Trikot auf die Intensivstation brachten, weil sein altes blutverschmiert zerschnitten wurde. Schnell stellt er fest: „Leistungsbezogen Fußball spielen geht nicht mehr.“ Er trägt den Verbandskasten und erträgt das nicht. Jannik wechselt in die 2. Herren. Er trainiert, trägt die Ausstattung zu Turnieren so, wie er bei der Feuerwehr Unfallstellen absichert. „Hilfsarbeiten.“ Wenn es brennt, kommt er nicht zum Zug. Das gilt für die Feuerwehr wie für die Spiele der 2. Herren. Er darf in den letzten fünf Minuten auf den Platz. „Dann, wenn es um nichts mehr geht.“

Jannik geht noch einen Schritt zurück. Erstes Training, 3. Herren. Die Mannschaft läuft sich warm, Jannik setzt seinen Styroporhelm auf, versicherungstechnisch Pflicht seit der Schädelverletzung, und läuft mit. Die Luft ist feucht an diesem Abend. Fünf gegen fünf. „Druck machen“, schallt über den Platz oder „Ruhig rüberschieben“ und „Passiert, abhaken“. Eine Fußball-Philosophie, die in Janniks Leben immer aufgegangen ist - bis zum Unfall. Passiert, abhaken? „Ich muss mal runter“, schnauft Jannik und kommt an den Spielfeldrand, lehnt am Geländer, schnappt nach Luft, den Blick auf die gerichtet, die locker weitertrainieren. „Deprimierend“, bringt er nach fünf Minuten hervor. „Ich weiß einfach noch zu gut, wie es mal war.“ Damals, als er locker zehn Kilometer laufen und nicht nach zweien schnaufen musste. Alle kommen zusammen, Training beendet. „Jungs, ich will hier keinen hören: Ich kann nicht mehr. Wenn ihr die Kondition nicht habt, dann ist das Training der Ort, sie sich zurückzuholen“, ruft der Trainer. „Aber nicht ohne Rücksicht auf Verletzungen. Spielt mit Kopp, verdammt.“ Jannik schmunzelt. Seine Spezialität.

Alles gut so? Er wird wiederkommen, auf in die nächste Runde, aufgeben gilt nicht. Auch beim Zoll ist er im Sommer 2018 ein zweites Mal in die Ausbildung gestartet. „Es wird Zeit, dass ich wieder anfange, die Zeit zu genießen.“ Bei all den Unfall-Schilderungen vom Platz, bei den Fotos von Schläuchen, beim Gang auf die Intensiv, so oft habe er gedacht, für seine Liebsten war der Unfall viel, viel härter als für ihn. „Ich möchte nicht tauschen“, sagt Jannik und zögert. Möchte er nicht? Er weiß es nicht. „Wenn ich sagen kann, dass alles gut so ist, wie es ist, dann habe ich es richtig geschafft.“

Aufrufe: 04.3.2019, 13:00 Uhr
Neue Osnabrücker ZeitungAutor