2024-05-24T11:28:31.627Z

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Sieg futsch: Trotzdem nur Gewinner

Bewegende Geschichte um mit Down-Syndrom spielenden Jan Schultz +++ Großenwörden III lehnt Sieg am grünen Tisch ab

Jan Schultz (19) ist Stürmer beim MTV Wangersen. Vierte Kreisklasse. Er hat das Down-Syndrom. Er spielt die Hauptrolle in einem Verfahren der Fußball-Funktionäre, in dem es um mehr geht als Siege, Niederlagen oder aberkannte Punkte. Um Menschlichkeit.

Es passiert am 20. September. Dritter Spieltag in der vierten Kreisklasse. Der MTV Wangersen empfängt die dritte Mannschaft des TSV Großenwörden. 41 Minuten sind gespielt. Der MTV führt 7:0. Allein das ist schon eine Nachricht wert. Denn die Fußballer aus Wangersen galten vor Jahren noch als das schlechteste Team weit und breit.MTV-Trainer Heinz Ludwig (54) beordert Jan Schultz in die Sturmspitze. Der fünfte Spielerwechsel an diesem Tag. Vier sind nur erlaubt. So steht es in den Statuten des Niedersächsischen Fußballverbandes für den Kreis Stade. Heinz Ludwig denkt sich nichts dabei. Der Wechsel steht für den Coach als Belohnung dafür, dass Jan Schultz mit Herzblut dabei ist und kein Training verpasst.

Aufgrund seiner geistigen Behinderung sind die fußballerischen Fähigkeiten von Jan Schultz limitiert. Sein Trainer sagt immer zu ihm, er soll in den Angriff gehen, auf die Neunerposition, und wenn er den Ball bekommt "draufhauen". Als Elfmeterschütze ist der 19-Jährige gesetzt. Jan Schultz überlegt bei Strafstößen nicht lange. "Er semmelt einfach drauf und zeigt keine Nerven", sagt seine Mutter Silvia. In die taktischen Feinheiten weiht Heinz Ludwig seinen Schützling zwar ein. Aber das Begreifen des 4:3:3-Systems oder der 4:4:2-Ausrichtung gegen stärkere Gegner fällt schwer. "Er zieht mit, wie er kann. Ich behandele ihn wie jeden anderen Spieler auch", sagt der Trainer. Aber der angeborene Gendefekt lässt kontrolliertes Kicken und taktisches Verständnis einfach nicht zu.
Der fünfte Wechsel in der 41. Minute wird dem MTV Wangersen zum Verhängnis. Der Schiedsrichter weist den Trainer nicht auf den Regelverstoß hin. Muss er auch nicht. Der detaillierte Spielbericht landet beim Spielausschuss, bei den Funktionären, die sich an Recht und Ordnung halten müssen. "Wir können nur nach den Regeln entscheiden", sagt der Spielausschussvorsitzende Helmut Willuhn. Willuhn graut vor dieser Entscheidung. Später wird er angemessen reagieren, fast schon hemdsärmelig, vorbei an den Statuten. Menschlich.In dieser Woche ging der sogenannte Verwaltungsentscheid an den MTV Wangersen raus. Die Partie vom 20. September wird mit 5:0 für den TSV Großenwörden gewertet. Der MTV Wangersen gibt die drei Punkte wieder ab. Trainer Heinz Ludwig versteht die Welt nicht mehr. Er zweifelt an der Ethik. Der MTV darf natürlich Einspruch einlegen. Aber in der vierten Kreisklasse? In der Kicken noch reines Hobby ist? Vielleicht regelt sich der Fall auf dem kurzen Dienstweg.

Donnerstag ist Training auf dem Wangerser Sportplatz. Es schüttet wie aus Kübeln. Jan Schultz ist der Erste auf dem Gelände. Von all dem Wirbel um seine Person hat der 19-Jährige nichts mitbekommen. Aber er genießt an diesem Abend das Rampenlicht, gibt ein Interview, wie ein alter Hase und posiert mit dem Ball am Fuß vor der Kamera. Er scharrt mit den Stollenschuhen, als die Mannschaftskollegen schon auf den Rasen gehen und damit beginnen, zum Aufwärmen mehrfach um den Platz zu laufen. Schließlich rennt er seinen Freunden hinterher. Vier, fünf Runden schafft er, bevor die Puste ausgeht.Jan Schultz drückt die pure Lust am Fußball aus. Mit jeder Faser. Und das seitdem er bei einer kleinen Radtour im Dorf den Sportplatz entdeckt hat. Das, was die jungen Männer da auf dem Rasen gemacht haben, wollte er auch machen. Mit 16 fuhr er nach der Schule fast täglich zum Bolzplatz und kickte mit seinem Kumpel Lukas Bröcker (23) oder der Kneipenmannschaft "Willis Tränke". Mit 18 trat er in den MTV Wangersen ein und begann als Mittelstürmer in der damaligen zweiten Mannschaft.

Während eines kleinen Spielchens beim Training am Donnerstag steht Jan Schultz im Tor. Er klatscht rhythmisch mit den Händen über dem Kopf. Er peitscht seine Vorderleute an und feiert mit geballten Fäusten jedes Tor, das sie vorne schießen. "Guuut", ruft Jan Schultz, bevor es in die verdiente Trinkpause geht.Wenn Jan Schultz das Trikot mit der Nummer 19 anhat, strahlt er. "Dann merkt er, dass er dazugehört", sagt Lukas Bröcker. "Die Jungs haben ihn gut aufgenommen", sagt Jans Mutter. Schön, dass er integriert werde. Alles geschieht lautlos. Normal eben. Und wenn doch mal einer lästert, einer von den Neuen, die Jan noch nicht kennen, "gibt es sofort eine Breitseite", sagt Lukas Bröcker. Selbst von den Gegnern habe er noch nichts Negatives gehört, meint Heinz Ludwig. "Die Teams zollen uns Respekt, weil wir Jan diese Möglichkeit geben." Allerdings sehe der MTV Wangersen das nicht als etwas Besonderes an. Auf dem Platz wisse Jan, wo das Tor steht, sagt Lukas Bröcker. "Bei den Schussübungen vom Sechszehner trifft er manchmal besser als wir."

Jan habe in seiner Kindheit nie Probleme mit Mobbing gehabt, sagt seine Mutter. Er ging in eine heilpädagogische Kindertagesstätte in Selsingen und danach an ganz normale Schulen mit Integrationsklassen in der Region. Jetzt lernt er am Berufsbildungswerk in Bremervörde verschiedene handwerkliche Berufe und möchte sich auf den Garten- und Landschaftsbau spezialisieren. Zu Hause kümmert sich Jan Schultz um die Hühner und die Pferde. "Unser Ziel war es immer, dass Jan halbwegs selbstständig leben kann", sagt Silvia Schultz. Er musste seine eigenen Erfahrungen sammeln.Die sportlichen Erfahrungen sammelt er jetzt beim MTV. Bei den Antifußballern von einst. So sagt es jedenfalls das Klischee, das den Trainerposten für Heinz Ludwig zur Herausforderung machte. Konditionell sei die Mannschaft am Ende gewesen, disziplinlos, ohne Leben. "Jetzt ziehen sie durch. Laufen pro Woche 20 Kilometer", sagt Heinz Ludwig. Und sie kommen bei jedem Sauwetter zum Training. Sie wollen so schnell wie möglich aufsteigen. Mit Jan Schultz. Wohin? "In die Bundesliga", sagt der. Dieses Ziel ist fern.

Die drei Punkte aus dem aberkannten Sieg gegen den TSV Großenwörden sind aber greifbar. "Wir wollen die Punkte so nicht haben", sagt Andreas Schläfer aus dem TSV-Trainerstab am Freitag. Menschlich findet es der Verein super, dass Wangersen Jan Schultz ein paar Minuten auf dem Platz schenkt. Wenn es nach dem TSV ginge, auch in jedem anderen Spiel als fünfter Mann. Eine schöne Geste. Wenn alle Vereine der vierten Kreisklasse bei der Ausnahmeregel mitziehen, könnte Jan Schultz häufiger spielen. Dann muss der Trainer nicht mehr die Balance finden zwischen gelebter Integration und dem ergebnisorientierten Fußball. De facto macht sein Stürmer den MTV ja sportlich nicht stärker.Dass die Gegner einen fünften Wechsel beim MTV erlauben und dass Großenwörden die am grünen Tisch gewonnenen Punkte wieder zurückgibt, steht übrigens in keinem Regelwerk. Helmut Willuhn, der Hüter dieser Regeln im Kreis, schaut darüber hinweg. Mit Freuden.

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Aufrufe: 010.10.2020, 12:00 Uhr
Tageblatt / Daniel BerlinAutor