2024-06-17T07:46:28.129Z

Ligabericht
– Foto: Thies Meyer

»Pudding in den Beinen«

RL SÜDWEST / Text-Update vom 14. März: +++ 30-Meter-Lauf ins Glück: Samir Benamar punktet für FC Gießen vor der eigenen Haustür / Über Umwege nach Mittelhessen +++

Gießen (thos). 30 Meter: Mit der Kugel am Fuß nicht die Regel für einen Fußballer, kann dieser Weg auch ziemlich lang werden. Für Samir Benamar war es Freitagabend ein Lauf ins Glück, denn der Flügelflitzer erzielte vier Minuten vor dem Ende in Unterzahl den eminent wichtigen 1:0-Siegtreffer für den FC Gießen im Gastspiel beim FSV Frankfurt. Damit ist FCG in der Regionalliga Südwest - auch wenn derzeit nicht seriös absehbar ist, wann und ob der Spielbetrieb für diese Runde wieder aufgenommen wird - wieder mittendrin im Kampf um den Klassenerhalt. Zwar rangiert der Neuling nach wie vor auf dem sehr wahrscheinlichen Abstiegsrang 15, bis zum Zehnten FC Bayern Alzenau sind es nun aber nur noch drei Zähler Rückstand.

"Pudding in den Beinen auf dem tiefen und aufgeweichten Rasen", gibt Benamar zu, habe er gleich in der Anfangsviertelstunde verspürt, in der die Frankfurter drückten und sich fünf Eckstöße erarbeiten. Wenngleich der ehemalige Zweitligist über die gesamte Spielzeit Feldvorteile hatte und deutlich mehr Ballbesitz, fighteten Benamar und Co zurück und ließen defensiv wenig zu. Ausgerechnet zu zehnt, nach Aykut Öztürks Ampelkarte wegen Ellenbogeneinsatzes im Luftduell mit Nestor Djengoue, schlug Gießen zu.

"Ich habe in sein Gesicht geschaut und da die Überzeugung gesehen, mir den Ball zu spielen. Da wusste ich, dass ich da sein muss", schildert Benamar seine Gedanken, als Innenverteidiger Jure Colak das Leder Muhamed Alawie abknöpfte und ihm vom eigenen Sechzehner aus auf Höhe der Mittelinie vorlegte. Pfeilschnell dribbelte der 27-Jährige auf Keeper Mujezinovic zu: "Ein, zwei Kontakte, der Ball hoppelte, der Torwart hat Spielchen gespielt. Dann kam der richtige Zeitpunkt, und ich habe ihn links unten rein geknallt." Es folgte grenzenloser Jubel, bei allen Gießenern, speziell aber beim Schützen des goldenen Treffers am Bornheimer Hang. "Das ist schon sehr besonders für mich gewesen. Meine Jungs waren da, meine Familie, sogar mein Friseur. Ich bin ein Frankfurter Junge, bin hier aufgewachsen, wohne aktuell sogar in Bornheim", lacht der Deutsch-Marokkaner, der seine ersten Schritte im hochklassigen Amateurfußball übrigens in der U23 des FSV gemacht hat.

Der Club löste die Reserve 2014 aus Kostengründen auf, Benamar zog es in die Regionalliga Südwest zum TuS Koblenz. Dort überzeugte der Linksfuß so sehr, dass ihn Arminia Bielefeld in der Winterpause verpflichtete und mit einem Drei-Jahres-Vertrag austattete. Im Sommer 2015 folgte der Wechsel zu den Ostwestfalen, die in die Zweite Bundesliga aufgestiegen waren - für den damals 22-Jährigen ein Sprung von drei Ligen binnen lediglich zwölf Monaten. "Das Trainingslager lief richtig gut für mich, ich bin davon ausgegangen, im ersten Spiel zumindest im Kader zu sein", erinnert er sich Benamar, der einen Tag vor dem Auftakt im Abschlusstraining auf ebenso tragische Weise ausgebremst wurde: "Ich bin ins Kopfballduell mit Fabian Klos. Vielleicht war das eine falsche Entscheidung, er ist ja eine echte Kante. Aber ich hatte eben großen Ehrgeiz. Mein Körper hat sich in der Luft verdreht, ich bin, ohne mich abstützen zu können, aufgeprallt. Ich muss um die drei Minuten bewusstlos gewesen sein, hatte meine Zunge verschluckt. Unser Physiotherapeut hat mich gerettet." Der Unfall hatte dramatische Folgen, wie der zweifache Familienvater berichtet: "Ich konnte 14 Wochen lang nichts tun, nur im Bett liegen, essen, trinken, schlafen und zur Toilette gehen."

Im Winter 2016 ließ er sich zum Drittligisten Rot-Weiß Erfurt transferieren und kam dort über fast zwei Jahre gut zurecht, garniert mit dem Gewinn des Landespokals und der DFB-Pokal-Partie gegen die TSG Hoffenheim. Trainer Stefan Emmerling musterte ihn Ende 2017 dennoch aus, obwohl er in jener Runde 13 Mal in der Startelf gestanden hatte. "Der Fußball ist manchmal dreckig", sagt Benamar, "als Begründung nannte man mir, ich würde nicht richtig gegen den Abstieg spielen wollen - eine billige Ausrede." Danach probierte er etwas "Verrücktes", so der 27-Jährige, und strebte einen Auslandswechsel an. Ein Erstligist in Marokko holte ihn, gewisse Standards von seinen Stationen in Deutschland gewöhnt, fühlte sich nicht wohl und löste seinen Kontrakt auf.

Das nächste Abenteuer suchte er in Tschechien, in der Ersten Liga bei Karvina mit dem ehemaligen Bundesliga-Legionär Frantisek Straka als Coach. Als der plötzlich entlassen wurde, hatte Benamar keinen Ansprechpartner mehr, der des Deutschen mächtig war. Also verließ er den Verein. Einige Monate hielt er sich mit einem Personal Trainer fit, später beim FC Bayern Alzenau. Im Herbst 2019 schließlich schlug der Deutsch-Marokkaner beim FC Gießen auf und hat seitdem acht Meisterschaftsspiele absolviert. "Ich bin super aufgenommen worden und wollte nicht noch länger warten", erklärt er seinen Entschluss, sich dem FCG anzuschließen.

Nach dem 1:2 und einer mäßigen Leistung zum Restrundenbeginn beim TSV Steinbach Haiger teilte ihm Trainer Daniyel Cimen mit, dass er ihn für das Match gegen Rot-Weiß Koblenz aus der Anfangsformation nehmen werde - für den ehrgeizigen Benamar nur schwer zu ertragen: "Da war ich richtig wütend. Ich habe Daniyel gesagt: Wenn du das meinst, muss es so sein. Er ist der Chef, ich muss das akzeptieren. Aber als ich raus gegangen bin, hat er sicher gemerkt, wie sauer ich gewesen bin. Ich habe mir vorgenommen zu zeigen, was Sache ist. Ich bin nicht hier, um auf der Bank sitzen, sondern um der Mannschaft zu helfen." Den Ärger münzte der Außenbahnspieler in Energie um und war nach seiner Einwechslung mit seiner Dynamik wesentlich daran beteiligt, dass die Gießener den 0:1-Rückstand in einen 2:1-Sieg verwandelten.

Durch Benamars erfolgreich vollendendeten 30 Meter-Lauf in Frankfurt hat der Aufsteiger erstmals zwei Dreier am Stück geholt - noch dazu zweimal gegen Widerstände. "Die Mannschaft hat Charakter, eine gute Mischung. Diese Themen rund um Gehälter, Sponsoren-GmbH und so weiter hat uns weiter zusammen geschweißt."

Aufrufe: 08.3.2020, 21:03 Uhr
Gießener AnzeigerAutor