Sebastan Patzel: Das war ein U17-Mädchenspiel: SVG Neuss-Weißenberg gegen den 1. FC Mönchengladbach. Ich erinnere mich noch gut daran, aber nur weil’s so kalt war: mit Schneeregen im Spätherbst.
FuPa: Von wie vielen Spielern wurden Sie seither bedroht?
Patzel: Das war überschaubar. Dass mal irgendein flapsiger Satz rausrutscht, kann immer mal passieren. Als ich in der Landesliga eingesetzt wurde, habe ich jedoch festgestellt: Je höher man pfeift, umso besser sind die Spieler erzogen.
FuPa: Wo wurde die Grenze denn doch einmal überschritten?
Patzel: Das erste Mal war ich mit Gewalt in Berührung, als mir ein CJugend- Trainer an die Gurgel gehen wollte. So etwas passiert einem Schiedsrichter aber eher selten. Und an die Beleidigungen gewöhnt man sich.
FuPa: Gehört das Leiden zum Schiedsrichtersein also einfach dazu?
Patzel: Ja, das bringt unsere heutige Gesellschaft so mit sich. Der Schiedsrichter war früher eine Respektsperson. Inzwischen ist dieser Status stark angeknackst. Der Schüler, der dem Lehrer etwas an den Kopf wirft, verhält sich auch auf dem Platz nicht viel anders.
FuPa: Sie haben selbst Fußball gespielt. Wie war das zu Ihrer aktiven Zeit?
Patzel: Früher ist man sofort ausgewechselt worden, wenn man sich nicht benommen hat. Die Trainer heute sind jedoch Kumpeltypen, die sogar meistens geduzt werden. Das hat damit zu tun, dass heute jeder genommen wird, weil kaum noch einer Zeit hat für ein solches Hobby. Die Klubs sind froh über jeden, der’s macht, und das sind nicht immer die qualifiziertesten.
FuPa: Wie haben Sie sich auf Ihre Spiele eingestellt?
Patzel: Es gibt zwei Arten von Schiedsrichtern. Manche bereiten sich gewissenhaft vor, und wissen sogar, wie viele Karten welcher Spieler bekommen hat. Ich habe mich hingegen nie vorbereitet, wollte so unvoreingenommen wie möglich ins Spiel gehen. Ich habe mir eigentlich nur die aktuelle Tabelle angeschaut.
FuPa: Ihr erster Kontakt zu den Teams fand immer wo statt?
Patzel: Ich habe mich schon vorher in der Kabine bei beiden Mannschaften vorgestellt. Und dann habe ich mir die Leitwölfe gesucht. Das sind übrigens nicht immer die Spielführer.
FuPa: Sondern?
Patzel: Häufig war es ganz einfach der älteste Spieler. Bei einem Leitwolf lässt man auch mal eine Gelbe Karte stecken, damit der einem im Gegenzug in kritischen Situationen hilft.
FuPa: Das Lebensthema eines Schiedsrichters muss Gerechtigkeit sein. Trifft das auch auf Sie zu?
Patzel: Definitiv. Selbst mein Chef sagt immer, dass ich ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden habe. Ich äußere mich in der Firma halt immer klar und deutlich, wenn ich etwas ungerecht finde. Mein Chef sagt dann oft: Es ist halt nicht alles gerecht auf dieser Welt.
FuPa: Wann begann Ihre Obsession für den Fußball?
Patzel: Ich bin von Freunden in der C-Jugend zur DJK Rheinkraft Neuss mitgeschleppt worden, war dann Spielführer bis zur A-Jugend. Eines Tages stand vor unserer Schule ein Schiri-Funktionär und hat Flyer für einen Lehrgang verteilt. Da bin ich dann einfach mal hingegangen.
FuPa: Was hat der Lehrgang mit Ihnen gemacht?
Patzel: Erst dadurch ist meine Leidenschaft für den Fußball richtig entflammt. Ich hatte endlich meinen Platz gefunden. Als Spieler waren meine Fähigkeiten limitiert, als Schiedsrichter wurde ich erfolgreicher, schaffte es bis in die Landesliga.
FuPa: Was waren die meisten Spiele, die sie mal während einer Saison gepfiffen haben?
Patzel: Ich habe immer sehr viele Spiele gepfiffen: zwei bis drei pro Woche. Ein schöner Nebeneffekt war das Geld, dass ich zusätzlich zu meinem Beruf verdiente. In meiner Spitzensaison bin ich so auf fast 300 Spiele gekommen.
FuPa: Was waren Ihre Lieblingsmannschaften?
Patzel: Es ist natürlich schon etwas anderes, wenn da Fortuna Düsseldorf, Borussia Dortmund oder der FC Schalke 04 auflaufen, und sei es eine Jugendmannschaft. Eigentlich waren Spiele bei mir aber immer nur Trikotfarbe A gegen Trikotfarbe B.
FuPa: Hatten Sie jemanden, den Sie anrufen konnten, wenn ein Spiel schief gelaufen ist?
Patzel: Das war immer ein schwieriges Thema. Der Obmann wollte zwar angerufen werden, wenn es Probleme gegeben hatte. Eine richtige Anlaufstelle gab es aber nicht, ebenso wenig eine Rechtsberatung. Es wäre ein großer Fortschritt, wenn Schiedsrichter mehr Unterstützung bekämen, im mentalen wie im juristischen Bereich.
FuPa: Wie ist die aktuelle Situation?
Patzel: Die Schiedsrichter an der Basis werden oft vergessen. Es gibt einmal im Monat eine Schulung, aber es existiert niemand, der sich um ihre Sorgen und Nöte kümmert. Sobald man ein Problem hat, steht man ganz alleine da. Wie man mit Problemen umgeht, ist auch kein Teil der Ausbildung. Es werden einem letztendlich nur die Spielregeln eingetrichtert.
FuPa: Kann man denn überhaupt 90 Minuten lang fehlerfrei pfeifen?
Patzel: Ich halte das für ausgeschlossen. Es sei denn, das Spiel ist sehr einseitig. Oder bei den Frauen geht’s auch schon mal. Die gehen viel fairer miteinander um, regeln vieles selbst. Neulich hat eine Frau sogar zugegeben, dass sie den Ball mit der Hand gespielt hat. Das ist eine Fair-Play-Liga, wie man sich das als Schiedsrichter wünscht.
FuPa: Und bei den Männern?
Patzel: Es ist schon deshalb unmöglich, fehlerfrei zu pfeifen, weil man alleine ist. Wie soll man alleine Abseits korrekt entscheiden, wenn es um Zentimeter geht und man keine Zeitlupe hat? Hinzu kommt: Die Spieler versuchen oft, einen in die Irre zu führen. Bei jedem langen Ball heben zwei den Arm und rufen: Abseits!
FuPa: Haben Sie die Bezahlung als gerecht empfunden?
Patzel: Sie war nie gerecht. In den unteren Klassen gibt es nur sehr wenig Geld, da deckt es oft nur die Kosten. Für die Vereine sind die Kosten allerdings auch recht hoch, weil sie Fahrtkosten und Spesen erstatten müssen. Die meisten Schiedsrichter machen es nicht des Geldes wegen. Ich habe auch schon mal vergessen abzurechnen.
FuPa: Was war Ihr schönster Moment?
Patzel: Ich habe einmal die U21-Nationalmannschaft von Japan gepfiffen, aber mein tollstes Erlebnis hatte ich beim Futsal. Ich durfte ein internationales Gehörlosen-Turnier pfeifen. Ich habe gepfiffen und dazu eine Fahne gehoben. Der Umgang der Gehörlosen miteinander hat mich schwer beeindruckt. Sie haben sich umeinander gekümmert, hatten einfach Spaß am Fußball, waren nicht so verbissen.
FuPa: Nach fast 20 Jahren haben Sie im Sommer vorerst aufgehört, nachdem sie in der vergangenen Saison auf dem Platz attackiert wurden. Ihr schlimmster Moment – wie haben Sie ihn erlebt?
Patzel: Zur Halbzeit hatte ich nur Schulterklopfer, war der beste Schiri der Welt. Der SV Genclerbirligi hat 1:0 geführt durch einen Handelfmeter. Dann hat der Gegner das Spiel gedreht. Man lag also plötzlich 2:1 hinten und dazu kamen zwei Rote Karten. Schon nach der ersten wusste ich, dass es jetzt schwierig werden würde. Die Spieler hatten plötzlich immer mehr Redebedarf, ich musste immer mehr Ermahnungen aussprechen. Ein Spieler hat mich dann beleidigt.
FuPa: Wie haben Sie reagiert?
Patzel: Ich bin während des Spiels dreimal zum Trainer an den Spielfeldrand gegangen und habe ihn sogar gefragt, ob ich das Spiel für eine halbe Stunde unterbrechen soll. Ich fragte mich: Hat er seine Mannschaft noch im Griff? Im Nachhinein war es ein Fehler, dass ich das Spiel nicht sofort unterbrochen habe.
FuPa: Was ist dann passiert?
Patzel: Nach dem zweiten Platzverweis war das Spiel praktisch vorbei. Ein Zuschauer ist auf den Platz gelaufen, wollte mich tätlich angreifen. Ich bin sofort in die Kabine geflüchtet. Ich hatte aber die ganze Zeit im Hinterkopf, dass das Hinspiel auch schon abgebrochen werden musste. Damals hatte man dem Schiedsrichter hinterher vorgeworfen, nicht alle Mittel ausgeschöpft zu haben.
FuPa: Wie war Ihr Geisteszustand in der Kabine?
Patzel: Eher unruhig. Ich habe das gegnerische Team gefragt: Wollt Ihr weiterspielen? Die Antwort war: Auf jeden Fall, geht um den Aufstieg. In der Kabine von Genclerbirligi wurde aber schnell klar, dass es dafür keine Grundlage mehr gab. Ich habe mich dann zusammen mit meinem Gespann und drei neutralen Schiedsrichtern, die zufällig anwesend waren, dafür entschieden, das Spiel abzubrechen.
FuPa: Ihre Begründung?
Patzel: Die Sicherheit war nicht mehr gewährleistet. Der Verein musste sowieso schon drei Ordner stellen, weil er zuvor zwei Spielabbrüche verursacht hatte, aber es waren weit mehr als hundert Zuschauer. Wir haben dann auch die Polizei gerufen.
FuPa: Sonst hatten Sie keine Unterstützung?
Patzel: Es spielte der Erste gegen den Zweiten, mehr Brisanz geht eigentlich kaum. Die Probleme mit Genclerbirligi waren hinlänglich bekannt, aber es war trotzdem kein Verbandsvertreter vor Ort. Wir waren darüber schon sehr überrascht, fühlten uns in dieser schwierigen Situation allein gelassen.
FuPa: Hinterher wurden Sie aber sicherlich rasch angerufen?
Patzel: Nein, auch anschließend hat sich niemand vom Kreis gemeldet! Nur der Staffelleiter meldete sich und mahnte den Sonderbericht an.
FuPa: Haben Sie Hilfe gesucht?
Patzel: Leider gibt es beim Verband keine Instanz, um sich rechtlichen Beistand zu holen. Ich habe auch lange auf die Spruchkammersitzung warten müssen. Man hat beim Kreis erst einmal die restlichen Saisonspiele abgewartet.
FuPa: Was haben Sie selbst unternommen?
Patzel: Ich habe zivilrechtlich Anzeige gegen den Spieler erstattet, der mich beleidigt hat. Gegen den Zuschauer konnte ich leider nicht vorgehen. Ich habe bis heute nichts von der Staatsanwaltschaft gehört, das Verfahren läuft.
FuPa: Wie wurde Ihre Entscheidung vor dem Sportgericht bewertet?
Patzel: In der Sitzung ist zunächst alles bestätigt worden, wie es sich zugetragen hat. Ich saß vor der Urteilsverkündung mit dem Obmann und meinen Assistenten auf dem Flur, als der Staffelleiter überraschend mitteilte: Ich glaube, es gibt ein Wiederholungsspiel. In der Urteilsbegründung wurde dann tatsächlich gesagt, dass ich nicht alle Mittel ausgeschöpft habe. Das war ein Schlag ins Gesicht für mich. Ich hatte in meinem Sonderbericht sieben Gründe aufgeführt – davon vier, die zwingend zu einem Spielabbruch führen.
FuPa: Sie haben natürlich sofort Einspruch eingelegt.
Patzel: Nein, das kann ich als Schiedsrichter gar nicht. Das Urteil anfechten konnte nur der betroffene Verein. Der FC Straberg ist dann – auch auf meine Bitte hin – in die nächste Instanz gegangen und natürlich wurde die Schuld von Genclerbirligi zweifelsfrei festgestellt. Der Kreis wollte wohl vorher einfach nicht, dass der Aufstieg am „Grünen Tisch“ entschieden wird.
FuPa: Welche Strafen erhielten Spieler und Zuschauer?
Patzel: Der Spieler, der mich bedroht hatte, darf sechs Monate nicht spielen. Ein anderer, der zu meinem Assistenten gesagt hatte „Wir sehen uns noch“, ist zu drei Monaten verurteilt worden. Und der Zuschauer, der mir ans Zeug wollte und der übrigens auch einen Spielerpass besaß, ist für ein Jahr aus dem Geschäft.
FuPa: Sie haben danach hingeworfen, üben ihr liebstes Hobby nicht weiter aus. Warum?
Patzel: Ich fand es unerträglich, dass eine sportliche Instanz ein Urteil gefällt hat, das die Täter schützte und ein Fehlverhalten des Opfers suggerierte. Ein Schiedsrichter hat keine Ordner, keine Schutzweste. Man muss darauf vertrauen können, dass man vom Sportgericht geschützt wird. Ich bin Familienvater. Nach dem Spiel hat jemand zu mir gesagt: Wenn man den Zuschauer nicht fünf Meter vor Dir gestoppt hätte, wärest Du im Krankenhaus aufgewacht. Es stimmt grundsätzlich etwas nicht, wenn der Schiedsrichter nicht geschützt wird. Dass das Urteil aufgehoben wurde, ist ein guter Schritt. Die Personen, die falsch geurteilt haben, sind aber immer noch da.
FuPa: Wie schwierig war die Entscheidung aufzuhören?
Patzel: Sehr, sehr schwierig. Ich habe mir erst einmal eine Auszeit genommen, weniger gemacht, wollte mich nächste Saison wieder darauf konzentrieren. Ja, ich habe sogar die Schiedsrichterprüfung für die Saison 2015/16 abgelegt, sollte im Gespann eines jungen Schiedsrichters in der Landesliga eingesetzt werden, aber dann bin ich ausgerastet...
FuPa: Was ist genau passiert?
Patzel: Ich habe das Spiel Novesia II gegen Rheinkraft III gepfiffen und in einer Situation total überreagiert. Ich habe einem Spieler vorschnell die Rote Karte gezeigt, weil ich mich nicht im Griff hatte. Das hätte ich früher niemals gemacht. Ich bin in dieser Phase bei der kleinsten Kritik an die Decke gegangen.
FuPa: Wie haben Sie Ihre Fehlentscheidung korrigiert?
Patzel: Ich habe noch auf dem Platz zu mir selbst gesagt: „Patzel, was machst Du da? Der hat doch nichts gemacht.“ Dann bin ich zum Spieler hingegangen und habe ihn wieder auf den Platz geholt. Das war – streng genommen – zwar ein Regelverstoß, aber es war für mich die einzig richtige Entscheidung.
FuPa: Was hat Ihre Familie gesagt?
Patzel: Jeder wusste, wie viel mir das Pfeifen bedeutet. Meine Freundin hat mich zuerst eher positiv bestätigt und unterstützt weiterzumachen. Doch auch sie hat recht schnell gemerkt, wie emotional mich die Geschichte angefasst hat.
FuPa: Stimmt der Eindruck: Um die Schiedsrichter wird es immer einsamer?
Patzel: Ja, wir sind halt Einzelkämpfer. Es ist keiner für einen da. Etwas weiter oben im Ligabetrieb hat man wenigstens seine Assistenten, als normaler Amateurfußball-Schiri ist man auf sich alleine gestellt. Würde man die Nähe zu den Mannschaften suchen, wäre das fatal. Es könnte dazu führen, dass man sich unpopuläre Entscheidungen nicht mehr traut.
FuPa: Welche Schiedsrichter-Schicksale haben Sie selbst mitbekommen?
Patzel: Es gibt unzählige Beispiele, auch von bekannten Schiedsrichter- Funktionären. Ein Lehrwart hat wegen Gewalt von heute auf morgen aufgehört. Bei den Jugendschiedsrichtern gibt’s eine große Fluktuation, weil sie von den Eltern angeschrien werden. Wenn fünf von zwanzig übrig bleiben, ist das inzwischen eine gute Quote.
FuPa: Was muss sich ändern, damit nicht noch mehr Schiedsrichter aussteigen?
Patzel: Was jetzt neu eingeführt wurde, ist der Handshake vor dem Spiel. Das haben Menschen entschieden, die nicht selbst auf dem Platz dabei sind. Wirklich etwas ändern könnten Regelschulungen für Spieler und Trainer.
FuPa: Warum?
Patzel: Der Schiedsrichter kann auf dem Platz nicht immer alles erklären und diskutieren. Sein Job ist es zu entscheiden. Die Spieler brauchen mehr Verständnis dafür, warum der Schiedsrichter wie entscheidet. Woher soll der Spieler wissen, dass er sich falsch verhält, wenn er die Spielregeln nicht kennt?
FuPa: Was ändert sich für Sie, wenn Sie jetzt nicht mehr nach der Saison leben?
Patzel: Ich habe mehr Zeit für meine Familie und mehr Zeit, Spiele zu beobachten – ich mache nämlich auch gerne Fotos von Amateurfußballspielen. Vielleicht übernehme ich auch irgendein Traineramt oder werde sogar wieder Spieler. Mit 33 Jahren bin ich ja noch nicht zu alt dafür.