2024-06-04T08:56:08.599Z

Interview

»Ich bin überzeugt, dass wir drinbleiben«

RL SÜDWEST: +++ Der neue Sportliche Leiter des FC Gießen, Franz Gerber, über seine Aufgaben, das Mannschaftsgefüge, den Standort Gießen und das „Kuluturgut“ Fußball +++

GIESSEN. Seit seiner Vorstellung als Sportlicher Leiter am 11. Juni sind einige Wochen vergangen, in denen sich Franz Gerber ein Bild vom FC Gießen gemacht und sich eingearbeitet hat. Wenige Tage vor dem Rundenstart mit der Auswärtspartie bei der SV Elversberg spricht der 65-jährige Ex-Profi (306 Einsätze in der Ersten und Zweiten Liga, 145 Treffer), der nach seiner aktiven Laufbahn als Trainer und Sportdirektor unter anderem bei Hannover 96 und dem SSV Jahn Regensburg tätig war, über alle wichtigen Themen beim Neu-Regionalligisten.

Herr Gerber, wie gefällt es Ihnen in Gießen? Haben Sie sich bereits eingelebt?

Die Zeit bis jetzt war ziemlich kurz, aber ich fühle mich wohl. Seit Anfang Juli bin ich richtig hier, zuvor hatte ich noch mit meinem Bauvorhaben in Österreich zu tun. Noch wohne ich im Hotel, aber ich bin auf der Suche nach einer Wohnung. Durch die Freundschaftsspiele habe ich schon ein bisschen von Gießen und der Umgebung gesehen und natürlich die Innenstadt. Da lässt es sich gut aushalten, da ist durch die vielen Studenten Leben drin.

Wie läuft die Zusammenarbeit mit Trainer Daniyel Cimen, gerade auch, was die Verpflichtung der noch benötigten Neuzugänge anbelangt?

Wenn man nicht anwesend ist, über das Telefon. Außerdem war ich immer ein paar Tage hier und da haben wir persönlich über die Dinge gesprochen. Dabei standen die Mannschaft, Neuzugänge, aber auch die gesamten Abläufe im Vordergrund. Über das Thema Neuzugänge haben wir uns ausgetauscht: Was hält der Trainer von einem Spieler, was halte ich von ihm? Das funktioniert nur im Einvernehmen, um dann zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen.

Lange ist in Sachen Transfers wenig bis gar nichts passiert. Ist die Zeit zu knapp geworden, um den Kader für die Regionalliga zu verbessern?

Den Vorsprung, den der Verein dadurch hatte, dass der Aufstieg schon einige Spieltage vor Saisonschluss feststand, ist verloren gegangen. Aber ich denke, dass uns das nicht weh tun wird. Wir haben eine vernünftige Mannschaft, wobei wir noch Qualität benötigen. Der eine oder andere Spieler muss schon noch den Weg nach Gießen finden, um die Mannschaft zu verstärken. Wir müssen noch an Qualität und Erfahrung dazu gewinnen. Wir haben ein junges Team, das ist gut. Aber in dieser Liga braucht es auch erfahrene Spieler. Jure Colak ist eine solche gute Verpflichtung gewesen, dazu haben wir mit Sascha Heil und Sammy Kittel zwei Talente geholt. Die können sich aber nur in einem gesunden Umfeld mit erfahrenen Spielern entwickeln, die in schwierigen Situationen das Heft in die Hand nehmen. Wichtig war auch, dass Timo Cecen geblieben ist, den ich quasi ebenfalls als Neuzugang sehe, da er eigentlich schon weg war. Da waren Daniyel Cimen und ich uns auch einig, dass wir ihn unbedingt halten müssen.

Wird der Verein den Weg, auf Spieler zu bauen, die in der Region ihre Wurzeln haben, verlassen, um sich auf den genannten Positionen zu verstärken?

Zuerst kommt die Qualität, da sind sich alle Verantwortlichen im Verein einig. Wenn es sich dann noch damit verbinden lässt, dass der Spieler aus der Region stammt, ist es natürlich ideal, zumal bei demjenigen die Identifikation sehr hoch ist und er sich hier auskennt.

Ein junger Spieler, der beides vereint und zudem auf der noch zu besetzenden Sechser-Position spielt, ist der Gießener Nico Rinderknecht, der beim FC Ingolstadt II lediglich die Chance auf die fünfte Liga hat. Ist er ein Kandidat für den FCG?

Nico wäre auf alle Fälle ein guter Mann für uns, eine sehr gute Verstärkung. Es ist die Frage, ob es aus vertraglicher und wirtschaftlicher Sicht machbar ist. Aber er ist sicher ein Thema für uns.

Sollte Rinderknecht dazu stoßen, ist der Kader dann komplett?

Dann müssen wir gucken, ob aus wirtschaftlicher Sicht noch ein weiterer Transfer möglich ist. Die Mannschaft hat ein gewisses Niveau, sie passt gut zusammen, es stimmt vieles. Aber wir wollen nicht blauäugig sein, die Regionalliga Südwest ist eine sehr starke Klasse. Viel Qualität zu haben ist wichtig, um den Konkurrenzkampf zu fördern und für Verletzungen gewappnet zu sein.

Denken Sie an eine bestimmte Position?

Das müsste dann eigentlich ein Allrounder sein. Komplett festlegen können wir uns da aber nicht, denn manchmal kommen Spieler auf den Markt, von denen man sagt: Den müssen wir nehmen, unabhängig von der Position.

Trainer Cimen hat angeführt, dass die Vorbereitung, vor allem in puncto Eingespieltheit, erschwert wird, da die neuen Spieler peu a peu dazu kommen. Wie sehen Sie das?

Ideal wäre es natürlich gewesen, wenn alle schon am Anfang dabei gewesen wären – darüber müssen wir nicht reden. Daraus muss man das Beste machen. Aykut Öztürk ist jetzt schon lange dabei, Sascha Heil ebenfalls. Sammy Kittel muss noch aufgebaut werden, er kommt direkt aus der Jugend. Timo Cecen hat auch nur die ersten paar Tage gefehlt. Das kriegt der Trainer sehr gut hin, da bin ich zuversichtlich.

Als Vorgänger-Club Teutonia Watzenborn-Steinberg vor drei Jahren den ersten Versuch in der Regionalliga startete, wurden Spieler deutschlandweit und auch aus Holland geholt. Gehört es jetzt zur Philosophie des Vereins, auf Spieler zu setzen, die eine Beziehung zur Region haben, womit sich auch die Zuschauer besser identifizieren können?

Dass wir momentan so viele Spieler aus der Region haben, ist auch ein glücklicher Umstand. Generell haben wir uns auf die Fahnen geschrieben, dass eine gewisse Regionalität vorhanden sein sollte. Oberste Priorität hat jedoch die Qualität.

Welchen Eindruck macht die Mannschaft auf Sie?

Die Mannschaft versteht sich sehr gut und harmoniert. Es sind viele Talente dabei und Spieler mit Niveau. Jetzt kommt es darauf an, wie dieses Niveau auf die Regionalliga projiziert wird. Sind wir gut genug? Das müssen die Spieler beweisen. Die Liga hat als Profiliga eine andere Akzeptanz, viel mehr Anerkennung mindestens im halben Bundesgebiet, wenn nicht gar bundesweit. Man kennt im Südwesten nun den FC Gießen, er hat ein Standing. Jetzt muss man sehen, inwieweit die Spieler mit dieser Klasse mithalten können.

Daniyel Cimen hat betont, dass das Ziel nur der Klassenerhalt sein kann. Teilen Sie diese Meinung?

Natürlich. Viele Vereine sind schon länger dabei in der Regionalliga und kennen sie besser. Die sind besser gewappnet und haben einen Vorsprung. Deswegen wird es für uns darum gehen, in der Liga zu bleiben.

Der FC Gießen ist in der Aufstiegssaison von den Zuschauern sehr gut angenommen worden. Es wurde, auch von handelnden Verantwortlichen im Verein, schon darüber gesprochen, dass die Regionalliga auf dem Weg nach oben nicht die Endstation sein muss. Der fußballinteressierte Beobachter konnte den Eindruck bekommen, als würde es mit dem Erfolg nahtlos weiter durch die Decke gehen. Ist es wichtig, den Menschen zu vermitteln, dass damit eben vermutlich nicht zu rechnen ist?

Den geschilderten Eindruck sollen die Menschen bitte nicht haben. Man würde die Situation völlig verkennen, wenn man sagen würde, dass wir die Regionalliga im Sturm und Hurra-Stil erobern. Das wird nicht der Fall sein, es wird eine schwere Saison. Weil die Liga stark ist und wir zahlreiche Spieler haben, die noch nicht viel Regionalliga-Erfahrung haben. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir drin bleiben. Jeder sollte sich von anderen Zielen als dem Klassenerhalt verabschieden. Was nicht heißt, dass wir nicht irgendwann später sehen können, ob nicht noch mehr drin ist, wenn wir den Vorsprung der anderen aufgeholt haben.

Sie haben viel von den jungen Spielern gesprochen. Wen sehen Sie denn in der Pflicht, die Mannschaft anzuführen?

Da sehe ich die, die auch letztes Jahr in der Verantwortung standen. Frederic Löhe ist jemand, der das vom Charakter und seinen Möglichkeiten her kann. Oder auch Kevin Nennhuber und Jure Colak. Das wird sich weiter herauskristallisieren. Da gibt es die so genannten sportlichen Anführer und die, die eher über die menschliche Komponente kommen. Anerkennung bekommt nur der, der die Leistung bringt. Da wird sich anfangs nicht viel verschieben in der Mannschaft. Aber dann kommt es darauf an, wie die Spieler die Saison gestalten.

Sie kümmern sich federführend um die Transfers – wie sehen Sie Ihr weiteres Aufgabengebiet abgesteckt?

Ich stehe in ständigem Austausch mit dem Trainerteam und werde genau beobachten, wie die Saison verläuft: Wie kommt die Mannschaft unter sich aus? Wie kommt sie mit dem Umfeld aus? Denn die Spieler brauchen ein Umfeld, in dem sie sich wohl fühlen, um gerne zu kommen. Das muss passen und natürlich müssen auch die Abläufe in der Mannschaft stimmen. Dazu muss man nah dran sein. Und ich bin Bindeglied zwischen Führung, Mannschaft und Trainer.

Schauen Sie sich die Trainingseinheiten an?

Nicht immer, aber dreimal in der Woche bin ich auf alle Fälle beim Training. Einfach auch, um zu sehen: Passt es? Welche Stimmung ist in der Kabine und auf dem Trainingsplatz? Gibt es Probleme oder atmosphärische Störungen? Wenn trainiert wird, kann ich mir ein Bild machen vom Gesamten und einzelnen Spielern. Wenn Spieler beispielsweise Probleme haben, kann man das ansprechen. Ob es mit dem Verein zu tun hat oder auch auf privater Ebene etwas nicht so läuft. Da kann der Club oftmals helfen, sodass sich der Spieler dann wieder auf das Wesentliche, den Fußball, konzentrieren kann.

Wo werden Sie die Punktspiele verfolgen?

Ich denke, ich werde auf der Tribüne sitzen. So ist es zumindest geplant. Wenn der Trainer möchte, dass ich mich mit auf die Bank setze, habe ich damit auch keine Probleme. Vor den Spielen und in der Halbzeitpause werde ich sicherlich in der Kabine sein.

Auf Ihren vorherigen Stationen haben Sie einiges bewirkt, was die Infrastruktur angeht. Werden Sie sich beim FCG in diesem Bereich in Sachen Waldstadion auch einbringen?

Wie auch bei meinen anderen Stationen ist das eigentlich nicht meine Aufgabe, aber ich habe das damals mit angepackt, weil ich finde, dass die Infrastruktur und das Stadion enorm wichtig sind für einen Verein. Das gilt auch für die Stadt und die Region, da ist ein Stadion doch ein gewisses Aushängeschild. Fußball ist auch ein Kulturgut. Die einen gehen ins Theater, und viele gehen in Deutschland eben zum Fußball. Deswegen hat der Fußball einen großen Stellenwert und dementsprechend sollte für die Fans und Einwohner der Stadt etwas getan werden. Sowohl vonseiten der Stadt als auch vom Verein aus. Daher habe ich mich immer eingesetzt, um eine gute Spielstätte zu kreieren. Man sieht es mittlerweile an Jahn Regensburg. Da sagt jeder: Tolles Stadion, direkt an der Autobahn, herrlich. Das hebt das Bild der ganzen Stadt, die erhält ein ganz anderes Erscheinungsbild, und der Verein gleich mit. Alle profitieren davon. Das Waldstadion ist eine tolle Anlage, weitläufig und, und, und. Hier sollte ein bisschen etwas geschehen, um das auch Stadion-like zu machen. Das wird Zeit brauchen und Arbeit in Anspruch nehmen, aber warum sollte man es nicht versuchen, das so weit wie möglich auf den Weg zu bringen? Wenn es jemand anders sehr gut kann, ist es mir das sogar lieber. Wenn niemand da ist, und so war es in Regensburg, beim FC St. Pauli und Hannover 96, bringe ich mich ein. Selbstverständlich mit anderen zusammen. Durch den Erfolg in Regensburg und Hannover war die Stadt eher bereit, etwas für den Verein zu machen. Der erste Schritt in Gießen ist mit der Regionalliga getan worden. Dort hat man eine andere Aufmerksamkeit, noch mehr, wenn du zwei, drei Jahre dabei bist. Die Menschen kennen dann den FC Gießen. So war es in Regensburg auch. Diese Akzeptanz muss genutzt werden, die nächsten Schritte sollten hoffentlich folgen. Wir wollen das Ganze langfristig und nachhaltig angehen.

Was muss sich aus Ihrer Sicht rund um die Mannschaft durch den Klassensprung verändern?

Wir werden mehr Manpower brauchen, was zum Beispiel die Geschäftsstelle und das Marketing betreffen. Jeder arbeitet gut, aber irgendwo auch am Anschlag. Wer zeitlich so voll ausgelastet ist, kann sich nicht auch noch um andere wichtige Dinge in puncto Marketing, Infrastruktur und Mannschaft kümmern. Drei, vier Leute schaffen das nicht, da wird Unterstützung benötigt. In der Regionalliga solltest du ein Profiverein sein. Es geht zwar nicht um die Zahlen wie oben in der Bundesliga, aber die Aufgaben und der Zeitaufwand sind gleich. Ob das die Arbeit mit dem Verband oder die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ist. Aktionen für die Zuschauer, Präsenz zeigen und im Gespräch sein. Vielleicht kann der eine oder andere Spieler eine Jugendmannschaft trainieren. Der FC Bayern schickt die Spieler regelmäßig zu den Fanclubs. Dass die Zuschauer auch sehen, dass die Spieler ganz normale Menschen sind, wenn man sie trifft. Wir sollten eine Nähe ausstrahlen, die dann zurückstrahlen wird. Dazu braucht es Leute, die das alles koordinieren. Es ist überall Verbesserungspotenzial, ohne Kritik üben zu wollen, denn es ist schon viel erreicht worden. Aber es gibt einen gewissen Anspruch und eine Verpflichtung, die Dinge anzugehen. Das macht das Image aus, das draußen herrscht. Und mit einem guten Image tut man sich leichter, Zuschauer und auch Marketing- und Sponsoreneinnahmen zu erzielen. Das Ziel muss sein, dass die Leute in Gießen wissen: Alle 14 Tage findet ein Event statt und wir wollen dabei sein, da sie ansonsten womöglich etwas versäumen.

Die Regionalliga Südwest umfasst Clubs mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Ambitionen. Finanzstarke Profivereine, Bundesliga-Talentschmieden wie die TSG Hoffenheim, SC Freiburg und FSV Mainz 05 und die mit weniger Mitteln Vereine ausgestatteten Vereine, bei denen kein Profitum herrscht und für die die vierte Liga das Nonplusultra ist. Wo verorten Sie da den FC Gießen, kurzfristig und auf längere Strecke?

Wir sollten uns gut dazwischen platzieren, indem wir denen, die zuletzt genannt wurden, einen Schritt voraus sind, wobei man anerkennen sollte, was sie leisten, weil es oft kleinere Städte oder Gemeinden sind. Wir haben das Glück, dass wir hier in Gießen sind mit einer guten Einwohnerzahl und einer Wirtschaft drumherum. Da müssen wir sehen, dass wir die Ressourcen nutzen. Zu Mannschaften wie Offenbach oder Saarbrücken ist es noch ein Schritt hin. Irgendwann wollen wir die sicher mal angreifen, aber davon sind wir im Moment noch weit entfernt.



Aufrufe: 017.7.2019, 08:00 Uhr
Thomas Suer (Gießener Anzeiger)Autor