2024-04-24T13:20:38.835Z

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Trainer Ruben Ebenig stolz mit seinen beiden Schützlingen Nils Reichardt (links) und Marvin Schleimer (rechts) von der ID-Abteilung des TSV Klein-Linden.	Foto: Kühn-Haag
Trainer Ruben Ebenig stolz mit seinen beiden Schützlingen Nils Reichardt (links) und Marvin Schleimer (rechts) von der ID-Abteilung des TSV Klein-Linden. Foto: Kühn-Haag

Aufblühen durch Bewegung

FUSSBALL-ID: +++ Zwei Kicker der Fußball-ID-Abteilung des TSV Klein-Linden im Porträt / Verbessertes Sozialverhalten / Engagierte Vereinsverantwortliche +++

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Klein-Linden. Eine harmonische und doch sehr konzentrierte Atmosphäre erwartet den Besucher des Trainings der ID-Mannschaft des TSV Klein-Linden. „ID“ steht für „intellektuelles Defizit“. Das heißt, hier werden junge Leute mit intellektueller Beeinträchtigung, manche auch mit körperlichen Einschränkungen trainiert. Auch Marvin Schleimer (24) und Nils Reichhardt (16) sind dabei.

Ausgelöst wurde diese Mannschaftsgründung im Mai 2015 durch die Teilnahme eines Mannes mit geistiger Behinderung am Fußballspiel der Alt-Herren-Gruppe, der TSV-Pressewart Gerhard Kerzmann „darauf brachte“, dass viele Menschen mit geistiger Behinderung sicher gerne regelmäßig gemeinsam Fußball spielen würden. In Zusammenarbeit mit der Martin-Buber-Schule wurde eine eigene ID-Abteilung gegründet. Ruben Ebenig (27) stellte sich als der perfekte Trainer heraus, denn er vereinte zwei Kernkompetenzen: Viel Spaß am Fußball und die große Liebe dazu, Menschen mit Behinderung zu fördern. So studierte Ebenig Lehramt für Förderschulen und übt zur Zeit sein Referendariat aus.

Der 16-jährige Nils Reichhardt ist seit September 2016 dabei, diese Begegnung verdankt er einem Zufall: Als Nils wegen seines Autismus einen Arzt besuchte, fragte dieser ihn nach seinen Hobbys. Als Nils von den seit Kindesbeinen an bestehendem sehr starkem Interesse an Fußball berichtete – jeden Morgen liest er direkt nach dem Aufwachen die neuesten Fußballnachrichten im Videotext – berichtete sein Arzt von der Klein-Lindener ID-Fußballmannschaft. Seine Mutter fuhr Nils direkt ins erste Training. Begeistert erzählt sie, dass er sich gleich wohlfühlte und nahezu jede Übung mitmachte. Sehr vieles hat sich seitdem für ihn zum Positiven verändert. Der Junge, der bisher sehr für sich allein und in sich gekehrt lebte und unfähig war, auf Menschen zuzugehen, hat nun eine Gelegenheit gefunden, sich mittels einer geliebten sportlichen Tätigkeit zu öffnen. Gerade Fußball ist keine Sportart für Einzelkämpfer, sondern erfordert viel Mannschaftsgeist, und Nils war in der Lage, diesen in sich zu entdecken und auszubauen, vor allem auch – so seine Mutter – der großartigen Fähigkeit des Trainers geschuldet, mit Nils Defiziten sehr geschickt und geduldig umzugehen.

Laut Ebenig hat der Junge sich immer besser in die Gruppe einfügen können. Und nicht nur sein Fußballspiel hat sich deutlich verbessert, er hat nun zusätzlich einen Platz gefunden, an dem er sich nicht nur akzeptiert, sondern auch angenommen fühlt. Hier hat er endlich Freunde gefunden, die er auch außerhalb der Fußballzeiten trifft. Dies alles ist konträr zu der stigmatisierenden Äußerung eines Therapeuten geglückt, für Nils als Mensch mit Autismusstörung wäre ein Gruppenzusammensein nicht möglich und schrecklich unangenehm. Dadurch, dass dem 16-Jährigen das Fußballspielen so sehr Spaß macht, wächst der sonst eher wortkarge Junge über seine Grenzen hinaus und kommuniziert deutlich mehr. Körperlich und mental ist er immer ausgeglichener. In diesem Sommer wird Nils seinen Hauptschulabschluss machen und im Anschluss daran einer unterstützten Beschäftigung nachgehen. Und seine Eltern sind sehr glücklich und dankbar, dass ihr Sohn einen Ort und eine Tätigkeit gefunden hat, die ihn ausfüllt, ihm Selbstwertgefühl vermittelt und ihn zufriedener macht. Gerne fährt sie hierfür 53 Kilometer von Homberg (Ohm) nach Kleinlinden.

Trainer Ebenig erzählt begeistert von den großen Fortschritten seines Schützlings: „Anfangs war Nils total zurückhaltend, ist nicht auf andere zugegangen. Jetzt ist er gut ins Team integriert und ist der fitteste in der Mannschaft, was die Ausdauer anbelangt. Und hat ein gutes Auge fürs Passspiel.“

Fragt man den Trainer, was bewirkt hat, dass Nils sich so wohlfühlt, erklärt Ebenig, dass das Spiel viel Spaß bringt und alles auflockert. Ihm ist es sehr wichtig, die einzelnen Spieler wirklich zu sehen und mit ihren Bedürfnissen ernstzunehmen. Dazu kommt, dass hier Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen aufeinandertreffen, die sich stillschweigend darüber einig sind, sich gegenseitig mit ihren Besonderheiten zu akzeptieren und glücklich darüber sind, selbst akzeptiert und gemocht zu werden.

Marvin Schleimer (24) schwamm in seiner Herkunftsstadt Aachen in einer Mannschaft für Menschen mit Behinderung. Er leidet an einer starken Schwerhörigkeit und Halbseitenlähmung. Ein Kollege der Lebenshilfe verteilte Flyer über die ID-Fußballmannschaft und Marvin schaute erstmals vorbei. Er war von seiner ersten Trainingsstunde total begeistert, fühlte sich zum ersten Mal ernstgenommen: „Endlich richtiges Training!“ Für Marvin ist es ganz wichtig, sich mit dem Verein zu identifizieren und dazuzugehören. Da er Anweisungen des Trainers oft kaum vernimmt, ist er sehr darauf „gepolt“, intensiv Trainer und Mitspieler zu beobachten und die Handlungen nachzuahmen – und hierfür legt er sich mit viel Enthusiasmus sehr ins Zeug. Eines seiner Probleme war, sehr ungehalten und verständnislos auf Verbesserungsvorschläge und Kritik zu reagieren. Dies ist heute sehr viel seltener der Fall, im gemeinsamen Training mit anderen konnte er verstehen, dass Regeln für alle gelten und dies erst ein Zusammenspiel ermöglicht. Ebenig betont, dass sich Marvins Ausdauerbereitschaft und sein Durchhaltevermögen auch bei Misserfolgen sehr verbessert haben. Wie auch Nils‘ Mutter sind sich Marvins Eltern einig, dass sie die Fußballtätigkeit ihres Sohnes nicht mehr missen wollen und bereit sind, andere Verpflichtungen um dieses wertvolle Hobby herum zu platzieren.

Und die Vereinszugehörigkeit im ID-Team Kleinlindens bringt auch weitere schöne Erlebnisse mit sich: Ende März werden Marvin und Nils einlaufen, wenn die Giessen 46ers ein Heimspiel haben. Der Fußball bleibt aber Sport Nummer eins.



Aufrufe: 08.3.2018, 09:30 Uhr
Juliane Kühn-Haag (Gießener Anzeiger)Autor