Im Jahr 1900 regiert in Berlin Kaiser Wilhelm II., in Borkum wird die Küstenfunkstelle eröffnet, in Friedrichshafen unternimmt Ferdinand von Zeppelin erste Probefahrten mit dem Ballon, in Paris wird die erste Strecke der Metro freigegeben, und in ganz Deutschland breitet sich eine neue Sportart aus, der Fußball. 1900 ist das Gründungsjahr von (unter anderem) Borussia Mönchengladbach, Bayern München, des 1. FC Nürnberg, des 1. FC Kaiserslautern und des Deutschen Fußball-Bundes.
Vor 125 Jahren war das eine Art Protestbewegung gegen das Turnwesen, gegen stramm-nationale Vereine, in denen Leibesübungen mit militärischem Drill betrieben wurden. Die Gründerlegenden der Klubs in Mönchengladbach, München und Nürnberg klingen in einer Hinsicht ganz ähnlich: Immer ist es ein Häuflein von elf bis 18 jungen Männern, das sich das Fußballspielen in den Turnvereinen nicht mehr verbieten lässt und im Hinterzimmer einer Gastwirtschaft einen eigenen Klub aus der Taufe hebt.
Das richtige Gegengewicht zu den Turnern bildet der DFB, zu dem sich Vertreter von 80 Vereinen in Leipzig zusammenschließen. Vor der Gründung des heute mit fast acht Millionen Mitgliedern größten Einzelsportverbandes der Welt stehen harte Debatten. Es geht um die Spielregeln, die Zugangsvoraussetzungen und um die Frage, ob die beiden Prager Vereine DFC (Deutscher Fußball-Club) und Germania aufgenommen werden dürfen. Sie dürfen, der DFC-Vorsitzende Ferdinand Hueppe wird sogar der erste DFB-Präsident.
Der Verband schreibt die Regeln um, die der Braunschweiger Oberlehrer Konrad Koch dem Spiel gegeben hat. Da sind noch 15 Spieler pro Mannschaft und der gelegentliche Transport des Balles mit der Hand erlaubt.
Koch bringt das Spiel 1874 ans Martino-Katharineum-Gymnasium, und es tritt von dort seinen Siegeszug an. Sogar der preußische Kulturminister Gustav von Gossler empfiehlt das Spiel für alle Schulen. Er schreibt: „Das Spiel lehrt und übt Gemeinsinn, weckt und stärkt die Freude am tatkräftigen Leben und die volle Hingabe an gemeinsam gestellte Aufgaben und Ziele.“
Nicht alle sind so begeistert wie der Kulturminister. Vor allem Turner rümpfen kräftig die Nase und ziehen in Schmähschriften gegen den neuen Sport zu Felde. Sie sprechen von einer „englischen Krankheit“, von einem „dem Hundstritt abgeschauten, widernatürlichen Spiel, das den Menschen zum Affen erniedrigt“, von „Fußlümmelei“.
Den Fußball halten sie damit allerdings nicht auf. Er wird eine Massenbewegung und findet in den 1930er Jahren in Deutschland eine alles dominierende Mannschaft, den FC Schalke 04. Er tritt seinen Siegeszug allerdings erst nach einem großen Skandal an. Der Westdeutsche Spielverband sperrt 1930 vierzehn Schalker Spieler lebenslänglich, unter ihnen die Stars Fritz Szepan und Ernst Kuzorra, weil ihnen der Verein zu hohe Handgelder gezahlt hat, ein Verstoß gegen das Amateurstatut. Der Verein wird vom Spielbetrieb zurückgezogen. Erlaubt sind Spesen bis fünf Mark (pro Monat), Schalke zahlt zehn – wie vermutlich alle anderen Konkurrenten im erwachenden Spitzenfußball.
Zeitzeugen vermuten, dass an Schalke ein Exempel statuiert wird, weil der erklärte (Berg-) Arbeiterverein mit seinen zahlreichen Nachkommen polnischer Einwanderer wegen seiner Erfolge bei den feinen Funktionären nicht eben beliebt ist. Aus Scham über das Urteil begeht Finanzobmann Willi Nier, ein peinlich korrekter Bankkaufmann, Selbstmord. Er geht in den Rhein-Herne-Kanal.
Erst unter dem Eindruck dieser Tragödie begnadigt der Verband die Schalker, und die gewinnen in den folgenden Jahren sechsmal das Endspiel um die Meisterschaft, einmal den Pokal. Mit dem „Schalker Kreisel“, einem schnellen Kurzpass-Spiel, wie es heute wieder modern ist, sind die Gelsenkirchener die Bayern der 1930er.
Mit der Gründung der Bundesliga 1963 schafft Deutschland den Anschluss an den überall in Europa etablierten Profifußball, und die Spieler werden langsam zu Mitgliedern einer neuen gesellschaftlichen Klasse, gleichberechtigt neben Film- und Unterhaltungsstars. Den Weg ebnen der Mönchengladbacher Günter Netzer und der Münchner Franz Beckenbauer, die den Fußball auf eine neue Ebene bringen.
Vom durchkommerzialisierten Kosmos Fußball unserer Zeit und den längst jeder sittlichen Kategorie entwachsenen Gehältern können allerdings auch sie nur träumen. Verglichen mit dem täglichen Zirkus der 2020er Jahre ist der Fußball der 1960er, 1970er und 1980er noch biederes Fußwerk auf häufig matschigen Feldern vor einem überschaubaren, meist männlichen Publikum in zugigen Stadien.
Das moderne Hochglanz-Produkt ist bunter, heller, schriller, schneller und auf jeden Fall abgehobener. Er hat gar nichts mehr mit der Gründerzeit zu tun, weil es nicht mehr um „Leibesübungen und Gemeinsinn“ geht, sondern um ein großes Geschäft, in dessen Natur es liegt, stetig wachsen zu müssen.
Konrad Koch, der Lehrer aus Braunschweig, hätte da bestimmt laute Bedenken vorgetragen. Aber ihm hat schon bei der Gründung des DFB niemand mehr zugehört.