2024-06-14T14:12:32.331Z

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Selbst der Krieg kann das Fußballspiel nicht stoppen. Hier ein von Andrew Edwards geschaffenes Denkmal, das in Westflandern daran erinnert, dass deutsche und britische Soldaten an Weihnachten 1914 sogar über die Schützengräben hinweg gemeinsam Fußball gespielt haben (sollen).	Foto: Imago
Selbst der Krieg kann das Fußballspiel nicht stoppen. Hier ein von Andrew Edwards geschaffenes Denkmal, das in Westflandern daran erinnert, dass deutsche und britische Soldaten an Weihnachten 1914 sogar über die Schützengräben hinweg gemeinsam Fußball gespielt haben (sollen). Foto: Imago

Was selbst Kriege nicht vermochten

CORONA: +++ Ein Virus stoppt den deutschen Fußball / Kicker lassen sich auch von „Spanischer Grippe“, Flächenbombardements, Kaltem Krieg und Ölpreiskrise nicht bremsen +++

GIESSEN. „Das war‘s. Die Bundesliga stellt den Betrieb ein“, schrieb eine deutsche Zeitung dieser Tage und der Leser blickte auf die Fotos von 18 verlassenen und menschenleeren Fußballstadien. Ein eindrückliches Dokument, denn erstmals in der 57-jährigen Geschichte der deutschen Eliteliga wurde ein Spieltag nicht einfach nur abgesagt, nein, der Spielbetrieb wurde komplett eingestellt, da eine akute Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung gegeben ist und in der Folge auch ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossen werden kann.

Vom „Ausnahmezustand im Fußball“ ist seitdem die Rede, da der Ball auch in allen anderen Ligen bis hinunter in die Kreisliga ruht. „Das Spiel ist aus“, schrieb ein Nachrichtenmagazin wohl zutreffend und führte aus, durch das Conoravirus würde jetzt nicht nur der nationale Fußball, sondern die gesamte internationale Sportwelt im Chaos versinken. Und tatsächlich, die Situation ist einzigartig, denn in der langen und äußerst wechselvollen Geschichte des deutschen Fußballs, die fast 150 Jahre zurückreicht, gab es bisher nur zwei kurze Phasen, in denen aufgrund äußerer Einflüsse nicht gespielt wurde, unmittelbar nach den beiden Weltkriegen, als die alten Ordnungen zusammengebrochen waren und die neuen sich gerade erst am Horizont abzuzeichnen begannen.

Darüber hinaus hat sich das Spiel ungeachtet von Krisen, Konflikten und sonstigen Katastrophen – und die gab es bekanntermaßen reichlich – als erstaunlich resistent erwiesen.

Hinter Frontlinien

Als der „Große Krieg“ im August 1914 begann, den man später ob seines Ausmaßes, seiner Dauer und der Anzahl der Opfer als den 1. Weltkrieg einordnen würde, war der Fußball auch in Deutschland bereits auf dem besten Weg zum Volkssport. Zwar wurde die nationale Meisterschaft mit Kriegsbeginn ausgesetzt und es fanden auch keine Länderspiele mehr statt, aber zum Erliegen kam der Spielbetrieb keineswegs. Auf regionaler und lokaler Ebene wurde, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, bis 1918 weitergespielt und selbst in den Ruhequartieren hinter den Frontlinien wurde von den Soldaten mit Begeisterung gekickt. Berühmt geworden ist die Episode, als deutsche und britische Soldaten an Weihnachten 1914 sogar über die Schützengräben hinweg gemeinsam Fußball gespielt haben sollen.

Demgegenüber waren die Monate vor und nach dem Jahreswechsel 1918/19 in Deutschland eine Zeit, die man als weitgehend „fußballlos“ bezeichnen könnte. Die Armee war geschlagen, der Kaiser hatte abgedankt und die politische Lage war, um es vornehm auszudrücken, instabil. Aber noch bevor die neue Ordnung, die parlamentarische Demokratie, Gestalt angenommen hatte, traf sich der Deutsche Fußball-Bund im April 1919 bereits wieder zu einem Bundestag, wenig später kam der Spielbetrieb wieder in Gang und binnen Jahresfrist sollte es auch wieder einen Deutschen Meister und die ersten Länderspiele geben.

All dies geschah, während die sogenannte „Spanische Grippe“ wütete, eine weltweit auftretende Virus-Infektion, die zwischen 1918 und 1920 zig Millionen Opfer gefordert hat. Schätzungen gehen davon aus, dass es alleine 1918 in Deutschland 600 000 Tote gegeben haben soll. Zwar gibt es so gut wie keine Erkenntnisse, ob und wie sich die Infektion konkret auf den Fußball ausgewirkt hat, eine Schweizer Zeitschrift hat aber unlängst berichtet, bei den Eidgenossen seien damals reihenweise Fußballspiele ausgefallen, weil Spieler erkrankt gewesen seien. Aber auch dort wurde damals nicht daran gedacht, den Ligabetrieb einzustellen.

Und auch für den Fußball in Spanien hatte die Infektion „weitreichende“ Folgen, heißt es doch, der Madrider Club de Fútbol hätte vor allem deshalb den Beinamen „Real“, das heißt königlich, erhalten, weil der spanische König Alfons XIII., der die Infektion überlebte, erkannt hätte, dass sportliche Betätigung, also auch das Fußballspielen, die Abwehrkräfte des Menschen stärken könne und dem wollte er durch den königlichen Beinamen Ausdruck verleihen.

Keinen unmittelbaren Einfluss auf den Spielbetrieb hatten hingegen die Inflation des Jahres 1923 und die Weltwirtschaftskrise 1929, wenngleich die Auswirkungen auf die Menschen und die Gesellschaft natürlich immens waren und sich bis heute tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben haben. Aber Spielverlegungen oder die Unterbrechung der Meisterschaften waren in Deutschland nie ein Thema, obwohl das Geld nahezu stündlich an Wert verlor, die Arbeitslosenzahlen auf über sechs Millionen stiegen oder ganze Bevölkerungsgruppen der Fürsorge anheimfielen.

Auch als am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen der 2. Weltkrieg begann, dachte niemand der in Deutschland Verantwortlichen ernsthaft daran, das Fußballspielen einzustellen. Ganz im Gegenteil: der Fußball war jetzt „kriegswichtig“, denn er sollte dem Publikum Zerstreuung bieten und von dem ablenken, was tatsächlich im Lande und in den eroberten Gebieten vor sich ging.

Verständlicherweise war zu diesem Zeitpunkt auch vom internationalen Fußball nicht mehr viel übrig geblieben. Der Mitropacup, Vorläufer des Europapokals und der Champions League, wurde nicht mehr ausgespielt, Wettbewerbe für Nationalmannschaften wie die British Home Championship, der International Cup oder die Skandinavische Meisterschaften ruhten und auch die Weltmeisterschaft 1942, für deren Austragung sich sowohl Deutschland als auch Brasilien beworben hatten, war nur noch Illusion.

Aber während sogar in England, dem Mutterland des Fußballs, die nationale Meisterschaft ausgesetzt worden war, kickte man im nationalsozialistischen Deutschland mit Ausnahme der Länderspiele, die in Folge der Niederlage in Stalingrad gestoppt worden waren, selbst dann noch um nationale Titel, als die Flächenbombardements der Briten und Amerikaner nach und nach die deutschen Städte in Schutt und Asche legten. Helmut Schön, der spätere Bundestrainer, der in den 1930er und 1940er Jahren für den Dresdner SC spielte, schildert in seinen Erinnerungen, wie sein Club 1943 in Hamburg antreten musste, dass gerade verheerende Bombenangriffe erlebt hatte. Die ganze Dresdner Mannschaft sei regelrecht geschockt gewesen vom Anblick der Hansestadt, so Schön, da Dresden bisher von jeglichen Bombardierungen verschont geblieben war und man sich solche Zerstörungen nicht habe vorstellen können.

Nur kurze Pause

Doch gespielt wurde in Deutschland fast bis zum bitteren Ende und erst, als die feindlichen Soldaten schon an den Reichsgrenzen standen, kam auch der Ball langsam zu Ruhe. Allerdings nur für kurze Zeit, denn bereits wenige Wochen nach der Kapitulation im Mai 1945 gab es bereits wieder Fußballspiele und ab Herbst auch erste lokale Meisterschaften, wobei übrigens der Raum Gießen deutschlandweit mit zu den Pionieren zählte.

Der Kalte Krieg und die Konfrontation der ehemaligen Verbündeten USA und UdSSR wurden fortan zur bestimmenden Größe in der deutschen Wirklichkeit und bescherte dem Land nicht nur seine Teilung, sondern auch manch ernste politische Krise. Die Blockade Berlins, die Korea-Krise, der Bau der Berliner Mauer und die Kuba-Krise führten den Zeitgenossen bis in die frühen 1960er Jahre immer wieder vor Augen, wie brüchig der Frieden im Grunde war, zumal nun nicht nur der Westen, sondern auch der Osten über Atomwaffen verfügte und die Arsenale auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ beständig wuchsen. Auf den Fußball hat sich das alles aber vergleichsweise wenig ausgewirkt, sieht man einmal davon ab, dass der Fußball nun auch in Berlin geteilt war, dass man Qualifikationsspiele für die Olympischen Spiele gegen die „DDR“, die man im Westen natürlich in Anführungszeichen schrieb, ohne Zuschauer als „Geisterspiele“ durchführte und dass die Beziehungen zwischen den Fußballverbänden in Ost und West mitunter durchaus gespannt waren.

Es ist aus heutiger Sicht erstaunlich, dass vor allem die Kuba-Krise, in der Ost und West ja letztlich und durchaus glaubhaft damit drohten, sich gegenseitig zu vernichten, im Herbst 1962 keinerlei Widerhall in der Sportpresse gefunden hat und der Fußballbetrieb völlig ungestört weiterlief, obwohl die Angst vor dem Krieg mit Händen zu greifen war. Lieber diskutierte man in den Fachblättern jedoch, ob es nicht für die Nationalelf effektvoller sei, Uwe Seeler vom Hamburger SV zukünftig nicht mehr als Mittelstürmer, sondern als Rechtsaußen aufzubieten und wahrscheinlich hätte man dies auch dann noch angetan, wenn bereits die ersten Atomraketen im Anflug gewesen wären. Aber vielleicht war dies ja auch genau die Funktion, die dem Fußball zukam, einfach für etwas Ablenkung zu sorgen, in einer Welt, die aus den Fugen zu geraten schien.

Die Presse berichtete in jedem Fall, von allen westdeutschen Großstädten sei die Angst vor einem Krieg in Stuttgart am wenigsten zu spüren gewesen, denn das Länderspiel gegen Frankreich, ein 2:2 vor 75 000 Zuschauern durch Tore von Timo Konietzka und Einwechselspieler Heinz Steinmann, hätte die „Kuba-Angst“ überschattet.

Zum Glück konnte die Krise bald überwunden werden und so konnte sich der bundesdeutsche Fußball rund zehn Jahre später, im Herbst 1973, als er sich gerade von seinem Bestechungsskandal erholte, einer völlig anders gelagerten Herausforderung stellen: dem „Sonntagsfahrverbot“. Hintergrund war der Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn und das sich daran anschließende Embargo der erdölexportierenden Staaten, das die Ölversorgung der als israelfreundlich identifizierten Länder gefährden und so politischen Druck aufbauen sollte. Die Bundesregierung reagierte u.a. mit vier autofreien Sonntagen zwischen dem 25. November und dem 16. Dezember 1973, die vor allem Energie einsparen sollten. Da der Sonntag ja der klassische Spieltag der Amateurfußballer ist, war die Sorge anfangs groß, dass der Fußball ins Mark getroffen werden könnte.

Aber die Befürchtungen waren weitgehend unbegründet. Der erste autofreie Sonntag fiel auf den Totensonntag, an dem ohnehin Spielverbot herrschte, und ansonsten wurde eben, so gut es ging, an den Samstagen gespielt oder man fuhr mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Spielen. Die Sonntage ohne Auto schufen aber auch ganz neue Fußballerlebnisse, denn auf dem Berliner Kurfürstendamm etwa konnte man sich nun plötzlich ungestört die Bälle zupassen.

Radioaktivität ignoriert

Eine potenziell völlig andere Art von Bedrohung für den Fußball stellte die Reaktorkatastrophe 1986 in Tschernobyl dar, auch wenn lange völlig unklar blieb, was genau passiert war und welche Folgen zu erwarten waren. Erst im Nachhinein wurde bekannt, dass eine riesige radioaktive Wolke über Europa hinweggezogen war, ganze Landstriche im Umfeld des Reaktors in der Ukraine kontaminiert waren und wohl Tausende mit ihrem Leben bezahlt hatten. Und so ist, bezogen auf den deutschen Fußball, eigentlich bis heute nur in Erinnerung geblieben, dass beim Zweitligaspiel zwischen Hessen Kassel und Blau-Weiß 90 Berlin im Mai 1986 im Auestadion erhöhte radioaktive Strahlenwerte gemessen wurden, denen man dadurch begegnete, dass man vor dem Anpfiff den Rasen „gesondert behandelte“ und nach der Partie, denn gespielt wurde natürlich trotzdem, die Trikots der Spieler in Plastiksäcke packte und einer speziellen Reinigung unterzog.

Ganz ähnlich verhielt es sich mit der sogenannten „Schweinegrippe“, einer gefährlichen Virus-Infektion, die im Jahre 2009 von den Gesundheitsbehörden ebenfalls als Pandemie eingestuft wurde und natürlich auch den Fußball und die Fußballer berührte. Aber von flächendeckenden Spielabsagen oder der Überlegung, die Saison auszusetzen oder gar abzubrechen, keine Spur, zumal in diesem Fall auch eine Impfung zur Verfügung stand und man deshalb vergleichsweise schnell zur Tagesordnung übergehen konnte.

Aber war es im Fußball nicht schon immer so? Egal ob Seuchen drohten, man Militärdiktaturen hofierte (Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien), sich die Fans im Stadion zu Tode quetschten (Brüsseler Heysel-Stadion 1985), oder Spieler sich umbrachten (Robert Enke 2009) – man hielt kurz inne, zeigte seine Betroffenheit und berief sich dann im Zweifel schnell auf den Grundsatz „The Games must go on!“, den Avery Brundage, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees 1972 nach dem Olympia-Attentat in München formuliert hatte.

Aber vielleicht ist es diesmal ja anders und der durch höhere Gewalt erzwungene „Shut Down“ lässt die Verantwortlichen im Fußball innehalten und über die ein oder andere Fehlentwicklung der Vergangenheit zumindest einmal nachdenken. Zu naiv, vielleicht, aber es wäre der Dimension der aktuellen Herausforderung zumindest angebracht – und nötig hätte es der Fußball sowieso.

Aufrufe: 022.3.2020, 16:40 Uhr
Christian von Berg (Gießener Anzeiger)Autor