2024-04-25T08:06:26.759Z

Interview
Kumpeltyp mit klaren Ansagen: Sascha Kolb pfeift für den TSV Ettringen und ist mittlerweile in der Bezirksliga angekommen. Er findet das Gespräch mit Spielern vor und während des Spiels wichtig.	F.: Dieter Latzel
Kumpeltyp mit klaren Ansagen: Sascha Kolb pfeift für den TSV Ettringen und ist mittlerweile in der Bezirksliga angekommen. Er findet das Gespräch mit Spielern vor und während des Spiels wichtig. F.: Dieter Latzel

„Es darf keine Vorurteile geben“

Wie gerecht geht es im Fußball zu? Schiedsrichter Sascha Kolb über Videobeweis, Pappenheimer und Selbstkritik

Nahezu alle statistischen Daten zeigen: Deutschland geht es so gut wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Dennoch beschleicht immer mehr Menschen das Gefühl, dass es in der Gesellschaft weniger gerecht zugeht. Auch bei des Deutschen liebstem Kind, dem Fußball. Torlinientechnik, Videobeweis, Profischiedsrichter – der Fußball will möglichst wenig Fehler produzieren. Zumindest im Profibereich. Im Amateurbereich sind Schiedsrichter immer noch die erste und letzte Instanz auf dem Spielfeld. Wir haben mit Sascha Kolb, Schiedsrichter des TSV Ettringen, über Gerechtigkeit auf dem Platz gesprochen.

Herr Kolb, geht es im Fußball gerecht zu?

Kolb: Im Profi- oder im Amateurbereich?

Zunächst an der Basis, wo auch Sie im Einsatz sind: im Amateurbereich.

Kolb: Es gibt zumindest nicht das perfekte Spiel, in dem alles richtig läuft. Das muss man akzeptieren. Wir Schiedsrichter müssen Szenen im Bruchteil einer Sekunde erkennen und beurteilen. Das tun wir nach bestem Wissen und Gewissen. Und wir müssen von Fall zu Fall entscheiden. Wir müssen Entscheidungen treffen, ohne dass vorhergehende Entscheidungen mit rein spielen.

Stichwort Konzessionsentscheidung. Wie schwer ist es aber tatsächlich, einen Fehler im Spiel nicht anderweitig wieder gut machen zu wollen?

Kolb: Das ist die Kunst. Man darf in einem Spiel nicht an alten Situationen hängen, man muss es abhaken. Am Anfang habe ich mir da schon auch schwergetan. Wenn es etwa einen Freistoß oder Elfmeter für den gleichen Spieler gab. Da denkt man dann: „Schon wieder für den, schon wieder für den.“ Aber man muss von Fall zu Fall entscheiden und darf ja nicht versuchen, irgendetwas ausgleichen zu wollen. Nach dem Motto: Das nächste Foul sehe ich mal nicht.

Ihre Kollegen in der Bundesliga haben dafür nun den Videobeweis. Ist die Technik wirklich ein Hilfsmittel für mehr Gerechtigkeit?

Kolb: Jaein. Ob der Videobeweis aktuell wirklich zum gewünschten Erfolg führt, müssen die Nutzer, also Bundesligaspieler, Schiedsrichter, der DFB und DFL, genau prüfen. Ob ich da nach so kurzer Zeit eine gerechte Antwort geben kann, da bin ich mir nicht sicher.

Was sind denn Ihrer Meinung nach noch die Probleme?

Kolb: Ein Beispiel: In der Bundesliga wurden an den ersten beiden Spieltag zwei Tore wegen vorangegangenen Abseits per Videobeweis zurückgenommen. Der Schiedsrichterassistent an der Linie wurde also überstimmt. Was aber ist, wenn es anders herum ein Fehler ist? Wenn der Linienrichter die Fahne hebt, obwohl es kein Abseits ist? Dann ist die Spielsituation tot. Gerecht ist das nicht. Andererseits haben wir auch Szenen gesehen, die der Schiedsrichter anders wahrgenommen hat, diese aber nachträglich berichtigt wurden. Man muss das differenziert betrachten.

Wie müsste der Videobeweis dann angewandt werden, um gerechter zu werden?

Kolb: Ein für mich sinnvolles Modell wäre, wie es im American Football oder im Tennis auf ähnliche Art funktioniert. Jede Mannschaft hat zwei Mal pro Halbzeit die Chance, Szenen per Videobeweis überprüfen zu lassen.

Im Eishockey wird in der DEL zur neuen Saison die sogenannte „Diving–Liste“ eingeführt. Hier werden Spieler, die Schwalben vortäuschen, vermerkt und im Wiederholungsfall mit Geldstrafen bestraft. Ist das auch im Fußball denkbar und hilfreich für mehr Gerechtigkeit?

Kolb: Denkbar ja, aber ich könnte mir vorstellen, dass dann die Objektivität verloren geht. Man wird im Vorfeld schon darauf hingewiesen, dass ein bestimmter Spieler leicht fällt. Im Zweifel kommt dann wieder der Videobeweis vermehrt zum Einsatz.

Aber Schiedsrichter tauschen sich ja auch im Amateurbereich aus. Man kennt doch als Schiedsrichter seine Pappenheimer.

Kolb: Das schon. Genauso, wie es Vereine gibt, zu denen man lieber hinfährt oder eben weniger gern. Aber das darf alles keinen Einfluss haben. Schließlich kann man sich ja auch täuschen und ein sogenannter Pappenheimer verhält sich bei diesem Spiel anständig. Es sollte einfach keine Vorurteile geben.

Häufig wird auch moniert, dass sich selbst Schiedsrichter nicht an die Regeln halten. Wenn etwa ein Spieler die Gelbe Karte für einen Gegenspieler fordert, sieht er mittlerweile nicht mehr selbst die Gelbe Karte, obwohl es in den Regeln so vorgesehen ist.

Kolb: Man muss dabei den Fußball von früher vom modernen Fußball unterscheiden. Früher gab es für das Ballwegschlagen die Gelbe Karte. Auch für das Reklamieren. Wenn wir Schiedsrichter das alles „eins zu eins“ umsetzen würden, dann würde so mancher Fußballfan diesen Sport vielleicht nicht mehr so schön finden. Stattdessen wird heute erwartet, dass der Schiedsrichter solche Dinge eher mit seiner Persönlichkeit regelt, Fingerspitzengefühl zeigt.

Wie sieht das dann in der Praxis aus?

Kolb: Es geht schon vor dem Spiel los: Wie stelle ich mich vor? Ich mache gern mit den Trainern oder Spielern etwas Smalltalk vor dem Spiel. Das nimmt die Anspannung etwas raus und man kriegt einen Draht zu den Spielern. Ich sage immer: Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. Und wenn der erste Eindruck eben nur der Pfiff im Kabinengang ist, dass es losgeht, dann fehlt etwas.

Und im Spiel?

Kolb: Auch da habe ich lieber das persönliche Gespräch. Wenn es in einem hitzigen Spiel ein Foul gibt, gehe ich schon mal zum Gefoulten und sage: „Ich weiß, es hat wehgetan. Du hast den Freistoß. Das passt bestimmt.“ Man kann im Voraus viel regeln.

Wie würden Sie sich als Schiedsrichter charakterisieren?

Kolb: Ich bin schon eher der Kumpeltyp, kann aber auch autoritär sein, wenn es sein muss. Ich fahre gut mit einer freundschaftlichen, kollegialen Schiene, aber auch mit Distanz. Die Rollenverteilung auf dem Platz muss klar sein.

Wenn sie das nicht ist, kommt es gerne zu Sonderberichten an das Sportgericht. Wie gerecht fallen in ihren Augen manche Urteile des Sportgerichts aus, wenn es eben mal zu hitzig war?

Kolb: Darüber mache ich mir keine Gedanken. Diese Dinge laufen zu 99 Prozent schriftlich ab. Ich gebe meinen Bericht ab, dann ist das für mich erledigt. Ich kriege ja keine Urteile mitgeteilt – und ich schaue auch selber nicht nach, wie etwas abgehandelt wurde. Mit ist es egal, ob ein Spieler für eine Rote Karte zwei oder fünf Spiele Sperre kriegt. Für mich war es eine Tatsachenentscheidung, die nach dem Spiel erledigt ist.

Es heißt, wenn über den Schiedsrichter nicht diskutiert wird, hat er eine gute Leistung abgeliefert. Ist das so?

Kolb: Ja, würde ich schon sagen. Man merkt unmittelbar nach dem Spiel, ob man einen guten oder schlechten Tag hatte. Man denkt auch über einzelne Szenen nach, diskutiert mit den Kollegen darüber. Ganz wichtig ist auch die Selbstkritik: Bin ich in dieser Szene richtig gestanden? War ich hier zu weit weg? Die Selbstreflexion muss einfach möglichst realistisch sein, dann kann man sich verbessern.

Aber diese Möglichkeit ist ohne Zeitlupen im Amateurbereich kaum gegeben.

Kolb: Doch, die technischen Möglichkeiten sind da. In der Bayernliga hängen fast überall Kameras, da die Spiele im Internet übertragen werden. Wir können also kritische Situationen bei unseren Spielen danach ansehen.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, um den Fußball gerechter zu machen – wie lautete dieser?

Kolb: Ich bin kein Freund von noch mehr technischen Hilfsmitteln. Die Spieler wollen ihr Spiel machen und es mit allen Mitteln gewinnen. Ehrgeiz, Erfolgsstreben und Emotionen gehören im Fußball dazu. Ebenso wie Fehlentscheidungen. Wenn die Spieler aber ehrlich sind, finde ich das super. Dann kann in einem Spiel das Maximum an Gerechtigkeit herausgeholt werden.

Aufrufe: 014.9.2017, 11:55 Uhr
Mindelheimer Zeitung / Axel SchmidtAutor