2024-04-25T10:27:22.981Z

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Hier noch auf dem Platz: Ewen Ullrich vom SV Pinnow (hinten) im Duell gegen Paul Streckert vom FC Union Frankfurt II. Archiv-Foto: Kenny Fuhrmann
Hier noch auf dem Platz: Ewen Ullrich vom SV Pinnow (hinten) im Duell gegen Paul Streckert vom FC Union Frankfurt II. Archiv-Foto: Kenny Fuhrmann

Schattenseite des Fußballs

Der Fall Ewen Ullrich: Eine Verletzung, die seine Zukunft veränderte

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Leidenschaft und Liebe zum Fußball sind die Aushängeschilder im Amateurbereich. Wer hier spielt, macht es, weil Fußball für ihn mehr als nur ein Sport ist. So auch Ewen Ullrich. Der 19-Jährige kickte für den SV Pinnow in der Kreisliga Süd Ostbrandenburg. Am 27. November 2016 endete seine Zeit als aktiver Fußballer schlagartig.

Es ist Sonntag. Ewen packt seine Tasche wie jedes Wochenende. Heute ist er zeitig aufgestanden. Gegen 9 Uhr. Schuhe, Schienbeinschoner, alles eingepackt. Es gibt Frühstück, danach zockt er ein bisschen an der Konsole. 11:45 Uhr fährt er zum Platz. Um 13 Uhr ist Anpfiff. Er ist heiß auf das Spiel. Sein Klub der SV Pinnow 1976 empfängt die Reserve der SG Wiesenau. Dieses Spiel wird er nie vergessen.

Ewen wird als Stürmer eingesetzt. Seine Aufgabe: So viel Druck wie möglich erzeugen und die gegnerische Defensive in Bedrängnis bringen. Der Unparteiische pfeift. Wiesenau stößt an. Ewen denkt an die Worte seines Trainers und sprintet dem nach hinten gespielten Ball in vollem Tempo nach. Er will sofort stören und einen Fehler erzwingen. Der Ball läuft durch die Abwehrreihe der Gäste. Ein Pass zum Libero. „Der ist zu schlaff“, erkennt Ewen und setzt zum Sprint an. Er ist sich sicher, dass er früher an den Ball kommt. „Doch dem war nicht so. Wir kamen gleichzeitig an den Ball und dann ist es passiert“, so der 19-Jährige.

Es kommt zum Pressschlag zwischen ihm und dem Wiesenau-Verteidiger. Der Gäste-Libero zieht durch. Ewen, mit seinem schwächeren rechten Fuß, nicht. Die Begegnung der Kreisliga-Kontrahenten endet mit dieser Szene. Nach nur 15 Sekunden muss das Spiel abgebrochen werden. Um Ewen bildet sich eine Traube.

„Ich habe einen ganz schönen Brüller losgelassen. Eine Freundin meinte, dass sie meinen Schrei so schnell nicht vergessen wird“, erinnert sich Ewen zurück. Zurzeit liegt er im Krankenhaus in Cottbus. Auch über Weihnachten. Seine Familie kommt ihn über die Feiertage besuchen. Seit dem 27. November liegt er nun schon im Carl-Thiem-Klinikum und das wird auch bis ins nächste Jahr so bleiben, erzählt Ewen. Wie lange genau, weiß er noch nicht.

Die Diagnose seiner Verletzung grenzt an Einzigartigkeit. Bei dem Pressschlag brach sich Ewen das Schienbein und das Wadenbein. Doppelt. Das Sprunggelenk hat er sich ebenfalls gebrochen. Alles am rechten Bein. Wie lange die Genesung andauern wird, konnten ihm die Ärzte bisher noch nicht sagen. Ganz verheilen werde es wohl nie, sagte man ihm. Denn es gab Komplikationen mit seiner Wade.

Ewens Bein ist extrem angeschwollen. Dabei ist noch einiges mehr kaputt gegangen. Muskelfasern und Muskelgewebe starben dabei ab. Diese mussten später entfernt werden. Für den Hobbykicker bedeutet das, dass er seinen Fuß wahrscheinlich nicht mehr nach oben ziehen kann. Eine komplette Genesung, speziell von dem Teil, den die Ärzte entfernen mussten, sei ausgeschlossen. „Es soll Schienen geben, die das Problem ein bisschen bessern“, hofft Ewen. Beim Laufen solle es weniger Probleme geben, sagte ihm seine Physiotherapeutin, doch beim Treppensteigen könne es schwierig werden.

„So einen Schmerz hatte ich noch nie. In dem Moment, wo es passierte. Es ist unbeschreiblich. Die Schmerzen will ich auch nie wieder haben. Man könnte es wie ein heftiges Drücken beschreiben, als würde ständig etwas auf deinem Bein stehen.“

Sein erster Gedanke nach dem Zusammenprall: „Warum immer ich?“ Was danach folgte, beschreibt Ewen als „Blackout“. Alle Beteiligten an diesem Sonntag versammeln sich um den am Boden liegenden Verletzten. Die erste Idee: Ewen muss vom Feld getragen werden. Der Keeper der Gäste meinte, er hätte es richtig krachen gehört, erinnert sich Ewen zurück. Er musste vorerst liegen bleiben. Und die Gewissheit kam: „Dieses Mal ist es dann doch was Ernstes.“ Ewen flucht im Innern und hadert mit sich selbst. Den Pressschlag hätte er vermeiden sollen, dachte er. Doch es war zu spät.

Die Spieler von Pinnow und Wiesenau kümmerten sich gemeinsam liebevoll um den Schwerverletzten. Sie legten Decken über ihn und redeten mit ihm. Ewens Augen fielen langsam zu. Der Notarzt kam nach 20 Minuten. Zuerst wurden dann Stutzen und der Knöchelschutz des Schienbeinschoners zerschnitten. Schutz konnte dieser an jenem Tag nicht bieten. Der Befund stand schnell fest. Ewen bekam Medikamente. Er spürte nun nichts mehr. Man bugsierte ihn auf eine Liege. Von der hievte man ihn ins Rettungswagenbett. Er wird in den Krankenwagen geschoben und nach Cottbus gefahren.

Dort wurden schnell erste Untersuchungen angestellt. Der Blutdruck wird gemessen, Informationen aufgenommen und ab zum Röntgen. Hier offenbarte sich den Ärzten erstmals der komplette Schaden. Doppelter Schien- und Wadenbeinbruch, Sprunggelenksbruch, heftige Schwellungen und schwerwiegende Schäden am Muskelgewebe. Während Ewen seiner Fußballkleidung entledigt wird, machen die Ärzte den OP bereit. Ewen wird operiert und wacht am nächsten Tag mit einem Fixator an seinem rechten Bein auf.

Von dort an sah er den Operationssaal ganze 13 Mal von innen - Verbandswechsel eingeschlossen. Wenn der Heilungsprozess gut läuft und seine Wade die Haut vom Oberschenkel gut annimmt, soll er vorerst nicht mehr in den OP müssen, so der Kreisligakicker. Ewen hält seine Zeit im Krankenhaus fotografisch fest. Er macht Fotos von seinem Bein. Bilder, die einen schaudern lassen.

Sein Unterschenkel ist kaum wiederzuerkennen. Überall färben sich die Verbände rot. Der Fixator, ein großer Apparat aus Metallstreben, stabilisiert sein Bein. Stangen ragen aus seinem Ober- und Unterschenkel. Die Narbe an der Außenseite seiner Wade ist oval und blutrot und wird von dicken Tackernadeln zusammengehalten. Von der Kniescheibe bis runter zum Schienbein verläuft eine weitere, mit Fäden fixierte Naht. Am Sprunggelenk findet sich die nächste Narbe und auf der Innenseite der Wade eine weitere. Blutergüsse färben seine Haut von Grün-gelb bis hin zum Wein- und Dunkelroten. Es wirkt, als wäre der Schenkel auf das Doppelte angeschwollen. Es fällt schwer, nicht wegzuschauen.

Ewen blickt jeden Tag herunter auf seinen Unterschenkel. Der Anblick erinnert ihn jeden Tag aufs Neue daran, dass er wahrscheinlich nie wieder auf dem Platz stehen kann. „Es ist so eine Leere in meinem Kopf. Man denkt an die schönen Momente mit seinem Team und weiß, dass man kein Teil mehr dieser Mannschaft sein kann. Und das lässt einen einfach nur verzweifeln.“ Es fällt ihm schwer, darüber zu reden. Die Gedanken wiegen schwer. Aus diesem Grund hat er sich eine Psychologin bestellt, mit der er darüber reden kann. Für zwei, drei Tage helfe ihm das, meint Ewen.

Die Ärzte sagen, dass die Zeit zeigen wird, ob er jemals wieder spielen kann. Im Moment stehen die Chancen eher schlecht. Die entfernten Muskelfasern und anderes Gewebe erschweren ein Comeback. Dennoch bereut Ewen nichts. Er ist glücklich, auch an jenem 27. November beim Fußball gewesen zu sein. Er hatte seine Jungs um sich herum. Seine zweite Familie, wie er sagt. Ewen ist ein Kämpfer. Er liebt den Fußball. Sehr sogar. Früher bestand der Traum irgendwann Mal mit dem Kicken Geld zu verdienen. Profi zu werden. Jetzt, bei den Männern in der Kreisliga, fühlt er sich gut aufgehoben. „Ohne Fußball macht das Leben keinen wirklichen Spaß. Man spielt Fußball, weil man im Team viel mehr als nur eine Mannschaft ist. Ohne Fußball geht es einfach nicht.“ Also will Ewen zurück. In ein oder zwei Jahren vielleicht. Seit 14 Jahren spielt er jetzt schon. Seine Augen werden feucht, sagt er, wenn er daran denkt, dass daraus nichts werden könnte. Aber er wird kämpfen, denn: „Fußball ist mein Leben“, so der Stürmer des SV Pinnow 1976.

Aufrufe: 023.12.2016, 10:42 Uhr
Thomas SabinAutor