2024-04-25T14:35:39.956Z

FuPa Portrait
Anweisungen für den Nachwuchs: Unzählige Nachwuchsfußballer absolvierten bereits unter der Leitung von Günter Stiebig ein Stützpunkttraining. 	Foto: Nemeth
Anweisungen für den Nachwuchs: Unzählige Nachwuchsfußballer absolvierten bereits unter der Leitung von Günter Stiebig ein Stützpunkttraining. Foto: Nemeth

Ikone mit Herz für den Nachwuchs

PORTRAIT: +++ Günter Stiebig hat als Übungsleiter viel erlebt +++ Seit 1990 Stützpunkttrainer in seiner Heimatstadt Alsfeld +++ Einige Jahre für OFC tätig +++

ALSFELD. Alsfeld im Vogelsbergkreis, irgendwo recht zentral gelegen. Klingeln muss ich erst gar nicht, nachdem ich die richtige Haustür gefunden habe. Denn die Tür steht offen. „Guten Tag!“, tausche ich Worte mit dem Mann, der in der Tür steht, aus. „Ich wollte zu Herrn Stiebig, bitte“, setze ich drauf und erhasche erste Blicke in einen schmalen, gemütlichen Hausflur. „Der steht vor Ihnen, Sie möchten aber vermutlich nach oben“, bekomme ich geantwortet und Einlass gewährt. Der Bruder also. Dann raunt es kurz durchs Haus: „Günter!“ In der ersten Etage klackt die Tür auf, ich werde nach oben gebeten und freundlich in Empfang genommen. Als fremder Mann von der Presse – in Zeiten von Pegida, überspitzt gedacht, vielleicht keine Selbstverständlichkeit mehr, kommt mir in den Sinn.

Günter Stiebig – im Alsfelder Fußball eine wahre Ikone – führt mich in sein Büro. „Cola, Wasser, Schorle?“, fragt er. Meine Blicke kommen gerade erst an, mustern die aufgeräumte und für meine Begriffe urige Wohnung. Eine Vitrine mit Pokalen und Wimpeln. Bilder, Fotos, Fußball. „Schorle, bitte“, sage ich. Meine Tochter sagt auch immer das letzte Wort nach, das man ihr vorspricht, denke ich, sie ist 20 Monate alt. Aber gegen eine Schorle ist auch wirklich nichts einzuwenden. Insbesondere, wenn man sich in einem Fußballer-Haushalt befindet. Die Schorle kommt, wir nehmen Platz. Am Schreibtisch, dem häuslichen Arbeitsplatz des Fußballtrainers Günter Stiebig sieht es aus, wie es an einem Arbeitsplatz bestenfalls wohl aussehen sollte und wie auch ich ihn von meiner Wunschvorstellung her kenne, aber selten zu Gesicht bekomme: belebt, aber nicht chaotisch. Der Laptop ist noch hochgefahren, der Internet-Browser geöffnet: Transfermarkt.de. Klar, das passt. Günter Stiebig schließt das Browser-Fenster, ein Bild flimmert nun auf dem Bildschirm-Hintergrund: ein Urlaubsfoto, irgendwas Sonniges jedenfalls. Da sitzen wir also und nach einem kurzen Schnack über dies und das geht es auch schon direkt zur Sache. Thema meines Besuchs bei Günter Stiebig: Günter Stiebig.

Man könnte natürlich chronologisch beginnen, etwa damit, dass Günter Stiebig im Oktober 1962 in Alsfeld das Licht der Welt erblickte, hier zur Schule ging und mit 15 Jahren beim Postamt in Frankfurt/Main eine Ausbildung absolvierte, um nach zehn Jahren den Vogelsberg wieder in die Arme zu schließen, aber das Gespräch beginnt anders. Wir starten mit Fußball, logisch. Genauer: Mit dem OFC, den Offenbacher Kickers – ein Verein, für den Stiebig mehrere Jahre tätig war und der ihm noch heute sehr am Herzen liegt, dessen Spiele er hier und da noch besucht. Stiebig, so höre ich, würde sich als „Fan“ bezeichnen. Neun Jahre ist es her, als sich die Wege von Günter Stiebig und den Kickers kreuzten. Zu diesem Zeitpunkt hatte der heute 54-Jährige Sport-Enthusiast schon einige Duftmarken im hessischen Fußballgeschäft gesetzt. Fußball spielte Stiebig natürlich von frühster Kindheit an, wenn auch nicht immer strukturiert oder im Verein. „Damals ging man erst mit elf oder zwölf in die Vereine“, so Stiebig rückblickend. Die Trainerkarriere begann dann vor ziemlich genau 30 Jahren, damals bei der SG Schwalmtal, dem Heimatverein Stiebigs, dem er noch heute – neben dem SKV Schwarz – die Treue hält. Vor allem aus dem Grund heraus, dass es damals noch wenige qualifizierte Übungsleiter gab. Bei der SG trainierte er die Junioren, später auch die Senioren, ebenso beim SV 06 Alsfeld und der TSG Wieseck, die in den 1990ern beziehungsweise 2000ern folgten, ehe es nach einem Zwischenstopp beim VfB Marburg zum OFC ging. 2007 also. Nach Offenbach wurde Günter Stiebig vom Fußballlehrer Günter Wegmann, der als Spieler unter anderem beim VfB 1900 Gießen aktiv war, gelotst. Beim damaligen Zweitligisten sollte Stiebig die U16 übernehmen, was er zur wachsenden Zufriedenheit der Vereinsverantwortlichen auch tat. Schnell galt der Alsfelder, der zu dieser Zeit stets vom Vogelsberg an den Main pendelte, als Mann für höhere Aufgaben und wurde bereits in der Saison 2008/09 als Leiter des OFC-Nachwuchszentrums, und somit als Wegmann-Nachfolger, auserkoren. Zudem übernahm Günter Stiebig in den nachfolgenden Jahren die Coaching-Tätigkeiten bei der Offenbacher U17 und U19, mit der er 2010/11 nur knapp den Aufstieg in die Junioren-Bundesliga verpasste.

Günter Stiebig
Günter Stiebig

Immer weiter, steil nach oben ging die Karriere des ehemaligen Postbeamten, der schließlich im Jahr 2011 sogar für sieben Monate bei der ersten OFC-Herrenmannschaft mitwirken durfte: als Co-Trainer des damaligen Übungsleiters Wolfgang Wolf in der dritten Liga. „Das war schon ein Höhepunkt“, schwärmt Günter Stiebig noch heute und berichtet beispielsweise vom DFB-Pokalspiel gegen Borussia Dortmund: Stadion am Bieberer Berg, 20 000 Zuschauer auf den Tribünen, Gänsehaut-Feeling. Oder vom Trainingslager der Profis, das er mitbegleiten und mitleiten durfte und natürlich vom Kontakt mit dem früheren OFC-Manager und Weltmeister Andreas Möller. „Den habe ich immer als sehr zugänglich erlebt“, verrät Stiebig, der in Offenbach alle Abläufe eines Lizenzvereins studieren durfte und der von sich selbst sagt, er könne „Bücher über diese Zeit füllen“. Glaubt man ihm sofort. Nur vom Zuhören. Die Offenbacher Ära endete für Günter Stiebig im Jahr 2013. Umstrukturierungen im Verein waren der Anlass, teils aufgrund der damals bereits aufkommenden finanziellen Probleme. Stiebig hätte zwar noch bleiben können, als Vize-Leiter des Leistungszentrums, lehnte aber ab. „Das kannte ich ja alles schon.“ Dennoch: Der Abschied sei insgesamt versöhnlich verlaufen.

Nur wenige Monate später konnte man den A-Lizenz-Trainer derweil schon wieder auf dem Hessenliga-Parkett sehen. In der Saison 2013/14 folgte ein Engagement beim FSV Fernwald, das Stiebig allerdings nach 13 Spieltagen schon wieder beendete. Es habe „einfach nicht gepasst“.

Seither folgte eine längere Pause, in der sich Günter Stiebig – bei dem aktuell allerdings wieder die Lust auf eine neue und ambitionierte Aufgabe heranwächst – viel umschaute und weiterbildete. Bei einigen Vereinen und Lizenztrainern durfte er in Sachen Jugendarbeit, dem Herzensthema des Alsfelders, über die Schulter schauen. Zuletzt etwa im Rahmen einer Hospitationswoche beim Nachwuchsleistungszentrum der TSG Hoffenheim. „Ich wusste schon, was ich weiß, nun weiß ich auch, was ich alles nicht weiß“, hat Stiebig für die Jugendarbeit des Rhein-Neckar-Vereins nur positive Worte parat.

Womit man mit dem Thema Jugendarbeit natürlich eine Kerntätigkeit Günter Stiebigs anspricht. In heimischen Gefilden ist der Übungsleiter nämlich vor allem als Stützpunkttrainer bekannt. Eine Tätigkeit, der Stiebig bereits seit 1990, damals als frischgebackener B-Lizenz-Inhaber, nachgeht, zunächst auf Landesverbandsebene und seit 2002 für den DFB. Seit rund 26 Jahren also kümmert sich Stiebig, aktuell mit zwei weiteren Kollegen, um die Belange begabter C- und D-Junioren. Weit über 1000 Talente hatte Stiebieg, der mindestens 40 Spielbeobachtungen im Jahr machen muss und auch bei Vereinen vor Ort vorbeischaut, bereits in seinem Training, das seit je her Montagabends stattfindet, begrüßen dürfen. Viele Ehemalige kennt er noch heute, an manche kann er sich nicht immer sofort erinnern. So erst neulich, als ihn in einer Alsfelder Pizzeria unvermittelt ein Mann ansprach, der mittlerweile als Pastor in der Schweiz tätig ist und der vor rund 20 Jahren durch die „Stiebig-Schule“ gegangen war.

„Wir haben einiges falsch, aber auch vieles richtig gemacht“, bilanziert Stiebig seine langjährige Stützpunkttätigkeit. Klar wird in dem Gespräch mit dem Fußballfachmann vor allem eine Sache: Günter Stiebig ist überzeugt von guter Jugendarbeit und sieht die Entwicklungen und DFB-Weichenstellungen der letzten Jahre eher positiv: „Wir haben nun viele gut ausgebildete Trainer, Gott sei Dank!“ Vereine seien mittlerweile sensibler hinsichtlich sinniger Nachwuchskonzepte, fast jeder Jugendtrainer bringe heute theoretische Basics mit. Früher haben öfter mal unbedarfte Spielerväter Übungseinheiten übernommen und Vereine ihre Plätze für Jugendmannschaften gesperrt. Das sei heute anders. „Auf der Stützpunktebene wollen wir viele Werte vermitteln, die die Jungs in die Vereine tragen“, sagt Günter Stiebig und freut sich darüber, dass viele seiner ehemaligen Schützlinge später selbst Jugendtraineraufgaben übernehmen würden. Die Einsicht in die Notwendigkeit basaler Jugendarbeit reife bei vielen heran. Zu guter Jugendarbeit, das entnimmt man Stiebigs Worten, gehöre allerdings auch immer ein erzieherisches Moment, etwa, dass sich die Kids vom Training selbst abmelden und nicht ihre Eltern vorschicken. Fußball, das geht für den 54-Jährigen über das Sportliche hinaus. Das wird zumindest in vielen Formulierungen Günter Stiebigs deutlich, die ich notiere, während sich mein Glas Apfelsaftschorle allmählich leert, beispielsweise: „Jungen Menschen kann man viel vermitteln und sie sensibilisieren“ und „Im Fußball bildet sich viel von der Gesellschaft ab“.

„Gesellschaft“, das scheint überhaupt ein Thema zu sein, das Günter Stiebig bewegt. Denn den Alsfelder Fußballlehrer sollte man bei all seiner Begeisterung für den Sport im Allgemeinen und dem Fußball im Besonderen keinesfalls auf diese reduzieren. Stiebig ist nicht nur Fußball-Philosoph, er philosophiert auch über unsere Zeit und unser Zusammenleben, macht sich Gedanken über Politik und gesellschaftliche Fragen. „Wie man miteinander umgeht. Mich stößt der Materialismus ab, wenn nur noch der Ellenbogen da ist“, gewährt Günter Stiebig Einblicke in seine Gedankenwelt. Wen wundert es, dass er bis heute ein Mann des Ehrenamts ist, beispielsweise aktuell als stellvertretender Vorsitzender des Sportkreises Vogelsberg fungiert, oder aber sich in der Nachmittagsbetreuung einer Schwalmtaler Grundschule engagiert. Vielleicht ist auch sein Interesse für fremde Länder damit zu erklären. Stiebig durfte in seinem Leben schon viel sehen, war etwa bei allen Weltmeisterschaften seit 1990 dabei sowie bei allen Europameisterschaften – bis auf zwei. Menschen und Länder kennenlernen, das macht ihm Freude und ist wohl auch Anlass dafür, dass er demnächst wieder für drei Wochen nach Malta verreist. Um seine Englischkenntnisse aufzufrischen, aber natürlich auch, um dem dort ansässigen Fußballverband einmal „Hallo“ zu sagen. Bei den maltesischen Jugendnationalmannschaften wolle er mal vorbeischauen. Ganz ohne Fußball geht es bei Günter Stiebig eben auch im Urlaub nicht. „Die haben mich eingeladen“, lächelt er und tippt auf das Foto auf seinem Computer-Bildschirm. Malta also. Dann fährt er den PC herunter, die Sporttasche ist bereits gepackt und wartet im Flur. Es ist Montagabend, Stiebig muss weiter: Stützpunkttraining. Mal wieder. Seit 26 Jahren macht er das.



Aufrufe: 012.11.2016, 07:00 Uhr
Christian Nemeth (Oberhessische Zeitung)Autor