2024-04-24T07:17:49.752Z

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Matti Roeck, Spieler des 1.FC Frankfurt II, verletzte sich im Pokalspiel am 3. September 2016 gegen den SV Woltersdorf schwer. Foto Paul Brokowski
Matti Roeck, Spieler des 1.FC Frankfurt II, verletzte sich im Pokalspiel am 3. September 2016 gegen den SV Woltersdorf schwer. Foto Paul Brokowski

Schmerzen für die Leidenschaft

Wenn die schönste Nebensache der Welt ihren Tribut fordert, beginnt der Kampf von Kopf und Körper mit dem Herzen

Risse, Brüche und Muskelschäden. Sie wissen nicht, was sie tun. Fußballer. Sie haben keine Ahnung, welchen Risiken sie sich beim Ausüben ihres Sports aussetzen. Falsch! Sie wissen es ganz genau. Sie nehmen Verletzungen für ihren Sport in Kauf. Ganz bewusst. Ein Blick in die Köpfe verletzter Kicker.

Endlich Wochenende. Die Sonne strahlt. Herrliches Fußballwetter. Matti Roeck ist topmotiviert und bereit, alles auf dem Platz zu geben. Das heutige Spiel: ein besonderes. Ein alter Rivale ist zu Gast bei der Reserve des 1.FC Frankfurt. Ein Kreisoberliga-Team trifft auf einen Landesklasse-Aufsteiger. Es geht um den Einzug in die nächste Runde des Kreispokals. Matti weiß, es gibt nur eine Chance. Heute zählt nur ein Sieg. Es wird gekämpft bis zum Umfallen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Das Spiel läuft gut für Frankfurt. 2:1 führen sie gegen den SV Woltersdorf. Erst im Vorjahr vermasselte der SVW den Frankfurtern den Aufstieg in die Landesklasse. Der Stachel sitzt noch tief. Der FCF will sich revanchieren. Eine Aura von unbedingtem Siegeswillen schwebt über dem künstlichen Rasen. Matti reibt sich in jedem Zweikampf auf. Die Führung muss verteidigt werden. Schweiß perlt von seiner Stirn. Er geht an seine Grenzen. Die Partie raubt ihm die letzten Kräfte. Die Körperspannung schwindet, Konzentration lässt nach. Die 85. Minute bricht an.

Matti bekommt den Ball. Ein ganz normaler Zweikampf. Dann, ein Schrei. Kurz darauf ein Wimmern. Mit der Faust schlägt er verzweifelt auf den Boden. Erst stärker, dann schwächer. Sein Gesicht: schmerzverzerrt. Seine Augen: zusammengekniffen. Seine Hand umkrallt die Kniekehle, als würde er sein Bein um keinen Preis der Welt hergeben wollen. Das andere trommelt hilflos auf dem stumpfen Kunstrasenplatz nahe der Oder. Hinter den Banden werden die Zuschauer still - die Lippen zusammengepresst. Niemand will es aussprechen. Mitleidig, mitfühlend blicken sie auf den Verletzten herab. Sie wissen es. Matti weiß es: „Das ist was Schlimmeres.“

Verletzungen. Sie gehören zum Fußball wie der Ball und die Tore. Sie sind Teil des Spiels. Es gibt sie zu genüge. Jene am Kopf, an den Sprunggelenken, Muskelverletzungen und akute Schäden am Kniegelenk. Das weiß jeder Spieler, jeder Sportmediziner. Dr. med. Simeon Geronikolakis ist Spezialist auf dem Gebiet der Sportverletzungen und sagt: „Als dynamische Kontaktsportart mit vielen körperlichen Duellen, kurzen Sprints, komplexen Bewegungsabläufen, Sprüngen, schnellen Richtungswechseln und Antritten sowie abrupten Abstoppbewegungen ist Fußball ein sehr verletzungsträchtiger Sport und Verletzungen, egal welchen Ausmaßes, gehören definitiv dazu.“ „Definitiv“ sagt er. Es gibt kein Entrinnen. Es sind die Herausforderungen des Spiels, denen sich der Körper stellen muss. Die Herausforderungen für jeden einzelnen Fußballer, die bewältigt werden müssen. Und das 90 Minuten und länger.

Gerade bei den Amateuren, der Bereich, in dem auch Matti spielt, treffen Sportmediziner häufiger auf Verletzungen, die zu längeren Pausen führen. Betrachtet man die verschiedenen Ebenen etwas genauer, scheint der Gegensatz zum Profibereich offensichtlich. „Aufgrund von Unterschieden in der körperlichen Fitness und neuromuskulären Funktion, in der Konsequenz in puncto Ernährung sowie in der Qualität des Trainings, der Fußballplätze und der medizinischen Versorgung, zu der ich sowohl die Behandlung und Betreuung von Verletzungen zähle als auch die Maßnahmen zur Regeneration und Verletzungsprophylaxe, sehe ich im Amateurfußball im Vergleich zum Profifußball mehr und etwas gravierendere Verletzungen mit längeren Ausfallzeiten“, so Dr. med. Simeon Geronikolakis.

Dr. Geronikolakis kennt sich aus. Sport-, speziell Fußballverletzungen, sind sein Gebiet. Der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und ehemals selbst aktiver Fußballer verschrieb sich direkt nach seinem Abitur der Humanmedizin. Sein Studium absolvierte er an der Eberhard-Karls Universität Tübingen. Seinen Berg an Erfahrungen sammelte der 36-jährige Sportmediziner bei der Betreuung von Spitzensportlern und konnte sich über viele Jahre, unter anderem auch als Verbandsarzt des württembergischen Fußballverbandes und Mannschaftsarzt beim VfB Stuttgart, sowohl im Amateur- als auch im Profibereich zahlreiche Kenntnisse aneignen. Des Weiteren sammelte er wertvolle Erfahrungen auf Nationalmannschaftsebene als Mannschaftsarzt der DFB-Junioren und durch die Betreuung zahlreicher Vereine und einzelner Profifußballer. Er selbst steht zum Fußball mit großer Leidenschaft und Liebe. Die physische und psychische Belastung im Profifußball sei hoch, jedoch habe der Amateurfußballer durch Schule, Studium oder Beruf eine zusätzliche Belastung, die in Verbindung mit den zuvor genannten Faktoren auch zu einer höheren Verletzungsanfälligkeit führt, so Geronikolakis.

Mattis Arzt habe ihm nahe gelegt, mit dem Fußballspielen aufzuhören. Er ist jetzt 24 Jahre alt, von Beruf Soldat. Seit er sechs ist, spielt er. Noch nie habe er sich so schwer verletzt wie in jenem Pokalspiel. Immer waren es Prellungen oder andere Kleinigkeiten, mehr nicht. Nun eine Hiobsbotschaft für den gebürtigen Oderstädter. Die Diagnose: Ruptur des vorderen Kreuzbandes. Jetzt, wo es einmal passiert ist, kann es immer wieder passieren, befürchtet Matti.

Auch bei Sportarzt Dr. Simeon Geronikolakis ist Ähnliches schon aufgetreten. Es kam schon vor, dass er einem Fußballer nahe legen musste, mit dem Kicken aufzuhören, aber auch das Gegenteil: „Ehrlich gesagt musste ich öfter Fußballern, denen vom Spielen schon abgeraten wurde, erklären, dass ich keinen wirklichen Grund sehe, diesen Sport gänzlich aufzugeben. Des Weiteren ist es auch schon mal vorgekommen, dass ich einem Junioren-Bundesligaspieler zwar nicht komplett vom Fußball abgeraten habe, aber ihn ganz explizit dazu ermutigt habe großen Wert auf seine schulische Ausbildung zu legen, um im Falle einer erneuten Verletzung, die eine Profikarriere verhindern oder zumindest sehr erschweren würde, nicht mit leeren Händen da zu stehen.“ Die Verletzungsgefahr im Amateurfußball ist hoch und stets präsent. Sie spielt mit. Auf dem Platz und genauso im Privatleben. Eine Gefahr, der sich Amateurkicker jedes Wochenende aufs Neue aussetzen. Der Liebe wegen.

Der 3. September 2016. Matti erinnert sich noch gut an diesen Tag. An den Moment, als sein Kreuzband riss. „Ich spitzelte mit einem langen Schritt den Ball mit meinem linken Fuß weg. Dabei blieb mein rechter Fuß stehen und das Knie knickte nach innen weg.“ Das Spiel war schlagartig für ihn vorbei. Die Frankfurter Reserve machte kurze Zeit später den Sack zu und gewann mit 4:1 und zog in die nächste Runde ein. Auch durch die Leistung von Matti, der jetzt für lange Zeit ausfallen wird und den Preis für den Sieg zahlte.

Der 20-jährige Georgios Kitsos, spielt für den Regionalligisten FSV 63 Luckenwalde. Die vierthöchste Spielklasse in Deutschland. Auch für ihn war der Kreuzbandriss ein herber Rückschlag. Der 17. August 2016. Diagnose: Riss des vorderen Kreuzbandes. Dauer der Genesung: circa acht Monate.

Die Verletzung kam aus dem Nichts. Ein schlechter Rückpass im Training, der Ball springt auf. Georgios nimmt ihn volley und ist für einen kurzen Moment in der Luft. Der gegnerische Stürmer läuft ihn an und bringt ihn aus dem Gleichgewicht. „Und beim Aufkommen – knack! Der Schmerz setzte sofort ein.“

„Dieses Gefühl wünsche ich keinem. Es ist brutal. Es tut höllisch weh. Es knackte mehrmals im Knie. Ich lag auf dem Boden und schrie vor Schmerz. Du kannst dein Bein einfach nicht bewegen. Wenn es dir passiert, merkst du sofort, dass irgendetwas nicht stimmt.“ Georgios aber gibt nicht auf. Er will zurück auf den Platz. Dafür durchläuft er ein anstrengendes Programm. Täglich geht es für vier Stunden in die Reha. Dort wird er am Knie behandelt. Verschiedene Therapien, wie Elektrotherapie oder Training im Kraftraum sind nun sein tägliches Geschäft. Der Ball: erst mal Nebensache. Die Beinpresse, der Beinbeuger sind vorerst seine Spielgeräte. Er macht sehr viel an Slings und tastet sich mit ein- und beidbeinigen Sprüngen zurück zur alten Stabilität. Bald beginnt er wieder mit dem Laufen. Tag für Tag. Schritt für Schritt. Er will wieder spielen. „Ich will wieder zurück und gebe jeden Tag Vollgas.“

Der Kreuzbandriss. Er ist berüchtigt unten den Verletzungen bei Fußballern. Er gilt als Herzensbrecher auf dem Platz. Er raubt dem Kicker das, was er am meisten liebt: das Fußballspielen. „Das vordere und hintere Kreuzband sind zusammen mit den Seitenbändern die Hauptstabilisatoren des Kniegelenkes. Der Riss des vorderen Kreuzbandes ist eine häufige Sportverletzung infolge eines Knieverdrehtraumas und zwingt einen Fußballer zu einer mehrmonatigen Ausfallzeit“, erklärt der Sportmediziner. Folgeschäden können eine Kniearthrose sein, die später sogar manchmal die Implantation einer Knieprothese nötig macht.

Übermäßige Beugung, Streckung oder Verdrehung des Gelenks -so wie bei Matti - verursachen den Schaden am Kreuzband. Das „normale vordere Kreuzband“ besäße eine Reißkraft von circa 2300 Newton. „Vieles“, so Geronikolakis weiter, „ist dem Fußballer, egal ob Profi oder Amateur, über diese Verletzung nicht bekannt“. Er weiß, „es bedarf immer einer guten Aufklärung über die Verletzung an sich und vor allem über die Nachbehandlung, um dort unnötige Fehler zu vermeiden.“

„Ich habe gebetet, dass es kein Kreuzbandriss ist“, sagt Georgios. Doch es kam anders. Zuschauen ist jetzt das einzige, was er machen kann. „Es ist nicht schön zuzugucken. Du denkst ständig: ´Scheiße, wäre das alles nicht passiert, könntest du jetzt da stehen. ´ Das macht einen dementsprechend traurig. Das Schlimmste ist, Geduld haben zu müssen.“

Klar, für manche ist Fußballgucken schön. Am Wochenende in der Bar mit Freunden. Die Sportschau von der Couch aus genießen oder direkt am Spielfeldrand stehen. Doch das sehen nicht alle so. Die Aktiven, die aufgrund ihrer Verletzung zu Passiven werden. Plötzlich kannst du selber nicht mehr auflaufen, nicht mehr am Training teilnehmen. Plötzlich bist du nur noch bedingt ein Teil deiner Mannschaft. Deine Leidenschaft kann nicht gestillt werden. Die Psyche der Sportler: nicht selten angeknackst.

„Die Psychologie des Sportlers“, so Geronikolakis, „spielt eine immens große Rolle und sollte vor allem in Verbindung mit einer Verletzung durch den Mannschaftsarzt unbedingt berücksichtigt werden, erst Recht in der Rehabilitation und Rezidivprophylaxe (Therapiekonzept zur Vorbeugung eines Rückfalls oder einer erneuten Verletzung). Eine Verletzung erzeugt eine negative Reaktion, also Stress, und eine gute Verarbeitung dieses Stresses hat einen positiven Einfluss auf die Heilung. In den Gesprächen beziehungsweise der gesamten Betreuung sollte versucht werden, Ängste abzubauen, die intrinsische (von innen, aus sich selbst entstehende) Motivation des Spielers zu fördern und Selbstvertrauen sowie Zufriedenheit zu schaffen“, sagt DFB-Arzt Geronikolakis und hebt mahnend den Finger.

Oft werden Sportler mit ihren Ängsten und Gefühlen allein gelassen. Keiner, meist auch sie selbst nicht, spricht über das, was in den Köpfen vorgeht. Stolz und Augenwischerei stehen im Weg. Doch die Psyche spielt immer mit. Für die meisten ist Fußball eben mehr als nur ein Sport. Was sich nach einer hohlen Floskel anhört, ist wahr. Fußball bedeutet für viele den Sinn des Lebens. Dieser empfundene Sinn bekommt nicht selten bei einer schweren Verletzung einen herben Schlag, von dem es schwer wird, sich zu erholen.

Geduld. Das A und O bei einer schwerwiegenden Verletzung im Fußball. Falscher Ehrgeiz kann furchtbare Konsequenzen haben. Georgios erinnert sich noch gut an den Tag im Krankenhaus, als der Arzt um 7 Uhr morgens zum „Schläuche ziehen“ kam. „Zum guten Morgen sagen“, erzählt er lachend. „Er hat erst bei meinem Bettnachbarn angefangen. Der hat so geschrien. Fast so, als hätte er sich erneut das Kreuzband gerissen. Ich wusste also, jetzt wird es gleich richtig wehtun.“ Die intensive Reha ist Georgios wichtig. Vor einem erneuten Kreuzbandriss hat er Angst. „Wenn es wieder passiert, dann ist das halt so“, aber Georgios ist sich sicher, „es wird nicht passieren.“ Geduld und Konzentration in der Reha werden sich auszahlen. Schließlich er wolle nicht nochmal im Krankenbett liegen.

Als wäre das nicht schon genug, kommen weitere Verletzungen hinzu, die dem Ausüben der Sportart Nummer eins in Deutschland im Wege stehen. Jede fünfte Verletzung im Fußball ist eine Sprunggelenksverletzung. „Statistisch gesehen und auch erfahrungsgemäß ist im Profifußball pro Mannschaft und Saison mit circa fünf bis sechs Sprunggelenksverletzungen zu rechnen“, weiß Facharzt Dr. Geronikolakis.

Die Logik treibt die Zahl im Amateurfußball weiter nach oben. Schlechtere Plätze, schlechtere Bedingungen und nicht immer professionelles Training. Riccardo Ahrend kann ein Lied davon singen. Seine Bänder - vom Fußball malträtiert.

Riccardo ist 25 Jahre alt und spielt für die SG Rot-Weiß Neuenhagen. Kurz vor dem Ende der vergangenen Saison ereilte ihn eine altbekannte Verletzung. Sein Team ist gerade in Ballbesitz. Die Seite wird verlagert. Der Ball läuft schnell über den trockenen Platz. Riccardo will zum Sprint ansetzen und in die Spitze starten. Er macht eine schnelle Drehung. Kein Gegner in der Nähe, keine Fremdeinwirkung. Dann passiert es: Er bleibt im „sehr schlechten Rasen“ hängen und knickt um. „Scheiße, tat das weh. Ich spürte nur noch Schmerz und ich dachte an nichts anderes mehr.“ Diagnose: Bänderriss im rechten Sprunggelenk. Dauer der Genesung: fünf Monate.

Die Verletzung sei heute bereits auskuriert. Üblich sind rund zwei Monate. Beim Neuenhagener dauerte es länger. Er sei bereits vorbelastet gewesen und daher anfällig für Verletzungen dieser Art. Es war sein zweiter Bänderriss. Wieder der rechte Fuß. Am linken sei es nie so extrem gewesen. Das Knie musste auch schon Mal dran glauben: Auch dort, ein Bänderriss. Das alles sei jetzt drei Jahre her. Die erste Sprunggelenksverletzung hatte zusätzlich einen Knorpelschaden zur Folge. Genesungsdauer hier: zwei Jahre. „Daher kommen jetzt noch die Beschwerden“, so der Hobbyfußballer.

In den meisten Fällen trifft es das Außenband. Das Innenband, das sogenannte Deltaband, eher selten. Gerade bei Fußballern ist das Sprunggelenk besonders gefährdet. „Infolge eines Umknicktraumas können Bänder am Sprunggelenk verletzt werden. In mehr als drei Viertel der Fälle ist dabei das Außenband betroffen, das wiederum aus drei Anteilen besteht, die unterschiedlich stark lädiert sein können. Da ungefähr jede vierte Sprunggelenksverletzung auf eine vorausgegangene nicht komplett ausgeheilte Verletzung ähnlicher Art basiert, bedarf es neben einer korrekten Therapie auch eine konsequente Verletzungsprophylaxe“, informiert der Sportmediziner Dr. Geronikolakis.

Die damit verbundenen Ausfallzeiten sind nicht nur bei den Profis unerwünscht. „Ich war frustriert. Ich wusste, dass ich sehr lange aussetzen muss und meiner Mannschaft in der neuen Liga vorerst nicht helfen kann“, so der Mittelfeldspieler. Im Prinzip sei alles ausgeheilt und solange er sich während des Sports ohne Schmerzen bewegen könne, käme er mit seinen Bändern klar. Die Schmerzen treten meistens nach den Spielen auf, wenn die Gelenke wieder kalt werden. Ob er die Schmerzen aus Liebe zum Fußball in Kauf nehme, beatwortet der Kreisoberliga-Fußballer ohne lange nachzudenken mit „ja.“

Mit dem Fußball aufhören? Das kommt für Riccardo nicht in Frage. Drüber nachgedacht hätte er schon mal. Doch für ihn geht es nicht ohne. Auch für Patrick Schönfeldt steht Aufhören nicht zur Debatte. Der 29-Jährige spielt für die SG Stahl Wittstock in der Kreisoberliga Prignitz-Ruppin. Der 23. Oktober 2016. Ein Punktspiel. Der SV Union Neuruppin II empfängt Wittstock. Patrick ist von Beginn an dabei. Kurz vor der Halbzeit - in der 44. Minute - endete sein Einsatz.

Patrick grätscht von der Seite, er will das Leder wegspitzeln. Er ist zuerst am Ball. Sein Gegenspieler zieht durch. Das wird ihm zum Verhängnis, denn der Unioner trifft sein Schienbein. Es bricht. „Es hat geknackt. Ich hatte sofort höllische Schmerzen. Es fühlte sich so an, als wäre mein Bein ab, von der Stelle an, wo es gebrochen war. Das Gefühl war so drückend. Unerträglich. So etwas habe ich vorher noch nie gespürt.“ Diagnose: Schienbeinbruch. Dauer der Genesung: ein halbes Jahr.

So schnell brechen Knochen nicht. Das Schien- und das Wadenbein gelten als sehr robust. „Zu einem Schien- und oder Wadenbeinbruch kann es sowohl durch direkter, wie zum Beispiel einem Schlag oder einem Tritt, als auch indirekter Gewalteinwirkung, beispielsweise einem Umknicktrauma, kommen. Hierbei handelt es sich um eine Verletzung, die beim Erwachsenen oft eine operative Versorgung bedarf und ebenfalls mit einer langen Ausfallzeit vom Wettkampfsport verbunden ist“, so Dr. Geronikolakis.

Um einen Bruch im Unterschenkel zu erleiden, bedarf es einer starken Gewalteinwirkung. Neben dem Straßenverkehr, wo Brüche dieser Art am häufigsten auftreten, ist auch der Sport angesiedelt. Motorradunfälle oder Unfälle, bei denen ein Mensch von einem Auto angefahren wird, enden oft mit einem Schienbeinbruch. Es treffen Mensch und Maschine aufeinander. Ein ungleiches Duell. Im Fußball treffen Mensch und Mensch aufeinander. Dazu kommt die Physik, der Platz, das Wetter, die körperliche Verfassung.

Patricks Ziel sei es, wieder fit zu werden und zu spielen. „Ohne Fußball kann ich nicht. In der Mannschaft zu spielen ist einfach spitze.“ Trotz der schmerzhaften Erlebnisse wollen sie alle wieder auflaufen. Auch Matti würde gerne wieder aufs Feld. Auf den stumpfen Kunstrasen seines Klubs. Doch so einfach ist das nicht. Sein Arbeitgeber, die Bundeswehr, „sieht es sehr ungern, wenn sich ein Soldat in seiner Freizeit verletzt und somit dienstunfähig ist“, erzählt Matti. Ob er will oder nicht, er muss sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, die Schuhe an den Nagel zu hängen. Sicher ist er sich jedoch noch nicht. Nie wieder Fußball zu spielen, das könne er sich nicht vorstellen. Operiert wird er erst noch. Danach soll die Entscheidung fallen. „Ich soll mir überlegen, womit ich mein Geld verdiene“, wiederholt er nachdenklich die Worte seines Vorgesetzten.

Das Herz sagt ja, der Kopf sagt nein. Ein Zwiespalt. Matti muss sich entscheiden. Früher oder später. Er hat Angst. Nicht vor der Verletzung an sich, sagt er, aber vor den Konsequenzen, die sie nach sich ziehen könnte - den beruflichen. „Ich hoffe, mit der Zeit kann ich mich entscheiden. Wahrscheinlich werde ich keinen Fußball mehr spielen. Es steht nicht fest, dass ich meinen Job durch eine weitere Verletzung verlieren würde, aber ich will es nicht darauf ankommen lassen“, sagt der Frankfurter.

Durch jahrelanger Erfahrung weiß Mannschaftsarzt Dr. Simeon Geronikolakis, dass, „egal ob Amateur- oder Profifußballer, jeder aktive Fußballer nach einer Verletzung so schnell wie möglich wieder zurück auf den Platz möchte.“ Er ist sich sicher, dass es keine Frage der Spielklasse sei. „Das Hauptproblem sehe ich im Amateurfußball eher in der mangelhaften oder gar fehlenden medizinischen Betreuung.“ Seiner Meinung nach seien Spieler „in vielen Fällen nicht gut genug über ihre Verletzung aufgeklärt und werden in der Nachbehandlung oft allein gelassen, so dass kein individuelles und auf die Verletzung, den Heilverlauf und den Spielertyp speziell abgestimmtes Aufbauprogramm stattfinden kann“. Das seien Gründe für einen oft verfrühten Wiedereinstieg ins Mannschaftstraining. Einen, der vom Sportler selbst bestimmt werde und somit ein höheres Risiko einer erneuten oder anderweitigen Verletzung mit sich bringe. Ein großes Problem.

Christian Wulff ist der Älteste, der Erfahrenste im Bunde. Der Spielführer des FSV Dynamo Eisenhüttenstadt ist 34 und kennt die Sorgen verletzter Amateure nur zu gut. Der 5. November 2016. Dynamo trifft auf eines der Topteams der Landesliga Süd. Auf den SV Wacker Ströbitz. In einem Spiel, was eh schon verloren war, erzählt Christian, bekam er von hinten einen „Pferdekuss“ auf den Oberschenkel. Diagnose: Muskelbündelriss. Dauer der Genesung: unklar.

„Das Gefühl eines Pferdekusses dürfte jeder kennen. Dabei werden wahrscheinlich schon Fasern gerissen sein. Ich habe dann noch weitergespielt. Bei jedem Antritt, bei jedem Schuss fühlte es sich so an, als würde jemand meinen Muskel fest anpacken und daran ziehen.“

„Beim Muskelbündelriss kommt es zu einer Verletzung von Muskelgewebe von größerem Ausmaß als bei einem Muskelfaserriss. Beim Fußballer ist sehr häufig die hintere Oberschenkelmuskulatur durch die Sprintbelastung oder durch Überdehnung betroffen“, erklärt Dr. Geronikolakis.

Christian ließ sich vom Zwicken im Oberschenkel nicht beirren. Beim Fußball tut öfter mal was weh, weiß jeder der schon mal selbst gespielt hat. Man beißt auf die Zähne, so auch der Dynamo-Spielführer. Dann folgte sein letzter Torschuss im Spiel. „Wieder das Gefühl eines fetten Pferdekusses. Nur jetzt hörte der Schmerz nicht mehr auf und hielt tagelang an.“

Nicht immer bemerken Spieler während des Spiels - wie Christian - dass es etwas Schwerwiegenderes sein könnte. Dr. Geronikolakis weiß, dass es hin und wieder vorkommen kann, dass eine erhöhte Adrenalinausschüttung, wie sie im Fußball stattfindet, über einen eigentlich warnenden Schmerz hinwegtäuschen kann. Der Sportler werde nicht sofort zum Spielabbruch gezwungen. Er beißt die Zähne zusammen. „Selbstverständlich muss man sich dabei aber fragen, und die Wahrscheinlichkeit hierfür ist aus meiner Sicht groß“, so der Sportarzt weiter, „ ob es sich vielleicht nicht um eine leichtere Muskelverletzung, wie eine Zerrung oder einen Muskelfaserriss gehandelt hat, die sich dann durch die Fortsetzung der sportlichen Belastung zu einem Muskelbündelriss entwickelte.“

Das könnte auch bei Christian der Fall gewesen sein. Am Ende stand ihm der eigene Ehrgeiz im Weg. „Ich habe mich sehr über mich selbst geärgert, weil ich mich nicht auswechseln lassen habe. Dadurch habe ich die Verletzung selbst verschuldet.“ Sein Kampfeswille und seine Motivation vermasselten ihm die Teilnahme am Viertelfinale des Landespokals. Zu Gast war der Regionalligist FSV Luckenwalde. „Zu solchen Begegnungen kommt es nicht oft. Dass ich da nicht spielen konnte, ärgert mich am meisten.“

Christian weiß, dass Fußballer anders ticken. Er hat viele verschiedene Kicker erlebt. Ob falscher Ehrgeiz oft eine Rolle spielt? „Auf jeden Fall“, ist sich der Kapitän sicher, „aber so ist man halt, wenn Fußball für einen alles ist.“ Amateurkicker nehmen, und das haben alle gemeinsam, so einiges in Kauf. Verletzungen, die man keinem wünscht. Schmerzen, die teils unbeschreiblich sind. Sie sind Teil des Spiels und werden es immer bleiben. Sie sind Fußball. Doch warum? Warum das alles? Es ist doch nur ein Sport. Nur Fußball. Ist es das wert?

„Die Liebe zum Fußball macht blind. Ich denke, da spreche ich für viele. Es sind wahrscheinlich die Leidenschaft und eben diese Liebe zum Fußball, die das Gehirn manchmal zum Aussetzen bringen“, philosophiert Christian. Facharzt Dr. Simeon Geronikolakis, stimmt dem Eisenhüttenstädter zu: „ Sowohl unter den Profifußballern als auch den Amateuren findet man übereifrige Spieler. Nach einer schweren Verletzung tun beide meistens alles dafür um überhaupt wieder gegen den Ball treten zu können. Ich denke hier spielt aber bei beiden die Liebe zum Fußball eine größere Rolle. Bei den Profifußballern kommt natürlich auch der finanzielle Aspekt hinzu, der insbesondere bei fehlenden oder deutlich eingeschränkten beruflichen Alternativen sehr stark ins Gewicht fällt.“ Er selbst sei bei seinen ärztlichen Tätigkeiten mit großer Leidenschaft dabei. Der Fußball ist auch für ihn eine große Liebe, wie er sagt, und er bekommt sowohl im Profi- als auch im Amateurbereich die emotionale Ebene sehr gut und aus nächster Nähe mit. Deshalb kann er „die Faszination für diese Sportart absolut verstehen“.

Sie alle verletzten sich beim Ausüben ihrer liebsten Tätigkeit oder haben, wie im Falle des Sportmediziners Dr. Geronikolakis, täglich mit Verletzungen im Fußball zu tun. Aber am Ende sind alle gleicher Meinung. Der Fußball ist es wert. Eine Medaille mit einer Kehrseite, die man akzeptiert. Die Liebe zum Fußball macht die Kicker eben manchmal blind. Doch eine bessere Aufklärung und engere medizinische Betreuung, findet Dr. Geronikolakis, könnte etwas Licht ins Dunkel bringen und zur Schadensbegrenzung beitragen.

Informationen zu Dr. med. Simeon Geronikolakis: www.fussballarzt.de

Aufrufe: 05.1.2017, 10:16 Uhr
Thomas SabinAutor