2024-04-16T09:15:35.043Z

FuPa Portrait
Europameisterin: Die Medaille, die sie nach dem Endspielsieg in Bulgarien erhielt, hält Lisanne Gräwe daheim in Kaunitz natürlich in Ehren. In der nächsten Saison will die 16-Jährige den Titel verteidigen – dann trägt sie vereinsmäßig allerdings das Trikot des VfL Wolfsburg.
Europameisterin: Die Medaille, die sie nach dem Endspielsieg in Bulgarien erhielt, hält Lisanne Gräwe daheim in Kaunitz natürlich in Ehren. In der nächsten Saison will die 16-Jährige den Titel verteidigen – dann trägt sie vereinsmäßig allerdings das Trikot des VfL Wolfsburg. – Foto: Henrik Martinschledde

Lisanne Gräwe auf der Spur von Lina Magull

U17-Europameisterin aus Kaunitz wechselt vom SC Wiedenbrück zum VfL Wolfsburg. Ziel der Mittelfeldspielerin ist das A-Nationalteam. Auch eine US-Elite-Universität ist schon auf sie aufmerksam geworden

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Wenn am Samstag (22. Juni) die deutschen Fußballerinnen bei der Weltmeisterschaft in Frankreich ihr Achtelfinale gegen Nigeria bestreiten, wird das in Kaunitz eine junge Dame vor dem Fernseher verfolgen, die selber gerade einen internationalen Titel gewonnen hat. Ganz besonders wird Lisanne Gräwe vom SC Wiedenbrück, frischgebackene U17-Europameisterin, dabei eine Nationalspielerin beobachten, auf deren Spur sie sich bald begibt.

Wie vor sieben Jahren Lina Magull, die den FSV Gütersloh verließ und inzwischen 34 A-Länderspiele absolviert hat, wechselt auch sie demnächst zum VfL Wolfsburg, zu einem der ganz großen Klubs im Frauenfußball. „Ich habe richtig Bock drauf“, fiebert Gräwe dem Start in der VW-Stadt entgegen.

Vier Wochen ist es her, dass sie in Bulgarien den bisher größten Triumph ihrer Karriere feierte. Nach einem dramatischen Elfmeterschießen gegen die Niederlande (3:2) gewann die U17-Auswahl des DFB den EM-Titel. „Am Anfang konnte ich es erst gar nicht glauben“, beschreibt sie ihre Emotionen. Lisanne Gräwe ist sich aber sicher: „Vergessen werde ich das Endspiel, das Elfmeterschießen und die Erleichterung nie.“ Beinahe hätte die Kaunitzerin, die als Stammspielerin auf der Sechserposition ein herausragendes Turnier und ein ebensolches Finale gespielt hatte, sogar eine entscheidende Rolle eingenommen.

Weil sie beim Abschlusstraining zwei Elfmeter sicher versenkt hatte, sagte Bundestrainerin Ulrike Ballweg nach den 90 Minuten (1:1) von Albena: „Du schießt.“ Doch die noch zum Jungjahrgang gehörende Kaunitzerin brachte den Mut auf, abzulehnen. „Ich schieße nicht gerne Elfmeter“, gibt sie zu. Als beim Stand von 2:2 nach fünf Schüssen, von denen die holländische Torfrau die letzten drei gehalten hatte, die nächste Schützin gesucht wurde, stand Gräwe allerdings bereit. Sie überließ den Ball dann aber doch Mieke Schiemann von Turbine Potsdam („Sie ist ein Jahr älter“) – und die machte den Sieg dann perfekt.


»In Bulgarien hatten wir täglich 90 Minuten Unterricht«


Was folgte, war eine schlaflose Partynacht, der direkte Rückflug am frühen Morgen nach Deutschland und ein offizieller Empfang durch den DFB im Fußballmuseum in Dortmund. Auch ihre Eltern Anette und Holger waren dort zugegen, Zwillingsbruder Ben und ihr älterer Bruder Dustin (23) gratulierten später. Dass sie vom Deutschen Fußball-Bund mit einer Trinkflasche und einem Stück Seife als „Siegprämie“ abgespeist wurden, empfanden einige im Umfeld als respektlose Peinlichkeit. Lisanne Gräwe („In der Mannschaft war das kein Thema“) setzt Prioritäten und sagt: „Der Titel ist wichtiger.“

19 Länderspiele in der U15, U16 und U17 des DFB stehen bisher auf dem Konto der technisch versierten, zweikampfstarken und mit ihrer Übersicht glänzenden Spielerin. Ihre Karriere litt auch nicht darunter, dass sie vor einem Jahr eine große Entscheidung traf. Gräwe verließ das Mädchen-Internat des westfälischen Verbandes in Kaiserau, in das sie 2017 eingezogen war, und kehrte ins Elternhaus nach Kaunitz zurück. Zum einen fehlte ihr das regelmäßige Mannschaftstraining mit den Jungs des SC Wiedenbrück, für den sie – so oft das die Auswahllehrgänge zuließen – in der B-Junioren-Westfalenliga spielte. Zum anderen vergrößerten die ständigen Wochenend-Abschiede von ihrer Familie das Heimweh.

Erleichtert wurde ihr die Rückkehr dadurch, dass sie an der Gesamtschule Verl das 10. Schuljahr in ihrer alten Klasse absolvieren konnte. Dort erwies sich Lisanne Gräwe als gute Schülerin, die den Q-Vermerk erhielt und damit in die gymnasiale Oberstufe versetzt wird. Die Abwesenheiten durch Länderspiele oder Turniere wurden vom DFB kompensiert: „In Bulgarien hatten wir täglich 90 Minuten Unterricht – außer an den Spieltagen.“


Der Wechsel nach Wolfsburg


Und jetzt also der Wechsel nach Wolfsburg. Ein Riesenschritt: Erneuter Auszug daheim, der schulische Neuanfang in einem niedersächsischen Gymnasium, und der Wechsel von einer Jungenmannschaft in ein Frauenteam. „Ich weiß, dass es schwer wird, aber ich mache mir keine Sorgen, dass ich das packe“, sagt sie. In Wolfsburg bewohnt sie zusammen mit anderen Spielerinnen ein vom Verein verwaltetes großes Haus mit Einzelzimmern. Beim VfL hat sie einen Dreijahresvertrag unterschrieben. Zunächst wird sie im U20-Team in der 2. Bundesliga spielen. „Ich würde es schon cool finden, wenn ich mal bei der Ersten dabei sein könnte, und sei es nur im Training.“ Mit Pernille Harder würde sie dort eine ihrer Lieblingsspielerinnen treffen. Ihr Idol im Frauenfußball ist aber die Niederländerin Lieke Martens vom FC Barcelona. „Ihre Technik und ihr Spielstil sind richtig krass“, schwärmt Gräwe.



»Es sprach nichts gegen den FSV, nur mehr für den VfL«


Natürlich hatte auch der Zweitligist FSV Gütersloh großes Interesse an der Nationalspielerin aus der Nachbarschaft. Sie absolvierte dort auch eine Trainingseinheit, nahm dann aber doch das Angebot aus Wolfsburg an. „Es sprach nichts gegen den FSV – es gab nur mehr Argumente für den VfL“, erklärte sie. Dass sie einige Wolfsburger Spielerinnen wie Natasha Kowalski, Livinia Seifert oder Gloria Adigo aus den DFB-Teams kennt, bestärkte sie in ihrer Entscheidung. Am 1. Juli geht es für zunächst eine Woche in die 125.000-Einwohner-Stadt, am 24. Juli startet mit dem vom FF USV Jena gekommenen neuen Coach Steffen Beck das Trainingslager.

Auch beim DFB muss sich Lisanne Gräwe auf eine neue Trainerin einstellen. Friederike Kromp, bislang Verbandsportlehrerin in Bayern, übernimmt das Amt von Ulrike Ballweg. „Noch gab es keinen Kontakt“, sagt die Europameisterin, die auch 2020 noch in der U17 spielen kann. Die Perspektive ist verlockend: Über die EM in Schweden kann sich das deutsche Team für die Weltmeisterschaft qualifizieren, die in Indien stattfindet. Dass es danach das Ziel von Lisanne Gräwe ist, in der A-Nationalmannschaft zu spielen, versteht sich von selbst.

Nationalspielerin: Lisanne Gräwe hat den Überblick.
Nationalspielerin: Lisanne Gräwe hat den Überblick.

Wohin es sie nach den drei Jahren in Wolfsburg verschlägt, bleibt abzuwarten. Mit der Harvard University in Cambridge (Massachusetts) hat bereits eine US-Elite-Universität die Fühler nach ihr ausgestreckt, nachdem die Verantwortlichen die EM-Spiele gesehen haben. „Es ist eine Option“, sagt Gräwe, die sich vorstellen kann, Tierärztin zu werden. Träumen tut sie aber auch von einem Wechsel zu Olympique Lyon oder zum FC Barcelona.

Dass nicht alle Träume derart in Erfüllung gehen wie bei Lina Magull, musste ein anderes heimisches Fußballtalent erfahren. Die Gütersloherin Annabel Jäger unterschrieb 2012 einen Dreijahresvertrag beim VfL Wolfsburg. Sie konnte sich aber nicht durchsetzen und spielt jetzt für den Zweitliga-Aufsteiger Arminia Bielefeld. Die Mittelfeldspielerin, die insgesamt 49 Länderspiele von der U15 bis zur U20 für Deutschland bestritt, trifft in der kommenden Saison unter anderem auf die U20 des VfL Wolfsburg – wahrscheinlich mit einer starken Lisanne Gräwe.

Aufrufe: 022.6.2019, 11:00 Uhr
Wolfgang Temme / FuPaAutor