2024-05-08T14:46:11.570Z

Querpass

Genialer Gerechtigkeits-Generator?!

oder: Über den Einsatz und die symbolische Wirkmacht von Videobeweisen

Als ich im Rahmen meines Philosophieunterrichts mit meinen Zehntklässern das Vor - Wissen zu einzelnen abgebildeten Personen abklopfte, entwickelte sich ein spannender Dialog über Fragen nach Gerechtigkeit und Fairness im sportlichen Kontext. Der Gesprächsanlass bildete eine geradezu alltägliche Szene im Sport: Ein Schiedsrichter zeigt einem Spieler die Rote Karte...

Aber diese Szene war von einer besonderen Tragweite, da das Bild um die Welt ging. Sie zeigte nämlich einen dramaturgischen höchst tragischen Moment im Finale um die Weltmeisterschaft 2006 zwischen Frankreich und Italien, als Zinédine Zidane folgerichtig für seinen Kopfstoß gegen Marco Materazzi vom Platz flog. Zidane konnte seinen überhitzten Kopf so frühzeitig unter der Dusche abkühlen, dessen heilsamer Effekt bestimmt nicht von langer Dauer gewesen sein dürfte, denn sein Team verlor ohne ihn in der Nachspielzeit. Und der ungünstige Verlauf dieses Endspiels hat ihm und anderen Wegbegleitern bestimmt einige Kopfschmerzen und Kopfzerbrechen bereitet. Denn die Frage nach den verschiedenen ungeliebten Möglichkeiten (hätte, wenn und aber) drängten sich schnell auf.

Als die Schüler in der Rekonstruktion des Geschehens gemeinsam überlegten, welche Motivationen Zinédine Zidane zugrunde gelegen haben könnte, einen solchen Verlust der eigenen Impulskontrolle erlebt und in Kauf genommen zu haben, waren sie sich schnell (un-) einig. Materazzi war es gelungen, soooo erfolgreich den Weltfußballer verbal als auch nonverbal zu provozieren, dass ihm die Sicherungen durchgeknallt waren. Gerade die männlichen Teilnehmer in diesem Kurs zeigten viel Verständnis für seine Reaktion. Kommentare wie „Ehrenmann“ kamen ihnen schnell über die Lippen, ist ihnen doch aufgrund ihres soziokulturellen Hintergrundes bekannt, dass ein heiliger Schleier über die weiblichen Mitglieder ihrer Familie hängt. Und darüber darf man auf keinen Fall Witze machen. Da hört der Spaß auf. Und einen solchen Witz hatte Materazzi auf Kosten von Zidanes Mutter und Schwester getätigt. Andererseits wurden natürlich auch kritische Stimmen laut, dass er seinem Team geschadet habe und letztlich in Materazzis Falle getappt sei.

Dann wurde eine fragende Beobachtung in den Raum geworfen, die ein ganz neues (Diskussions-) Feld eröffnete. Wie hätte sich Zinédine Zidane verhalten, wenn es den Videobeweis, wie er nun seit dieser Saison in der Bundesliga eingeführt wurde, gegeben hätte? Denn eines ist offensichtlich: Zidane hatte in diesem Akt der Selbstjustiz versucht, seine Ehre wiederherzustellen und für Gerechtigkeit auf seine Art zu sorgen (die sich natürlich außerhalb der vereinbarten Spielregeln bewegt hatte und daher auch geahndet wurde….bitter natürlich im doppelten Sinne, da Materazzis verbale Tätlichkeit nicht gleichermaßen bestraft wurde). Der Videobeweis ermöglicht das Lippenlesen und somit hätte es ja dann schon während des Spiels die Möglichkeit gegeben, das Verhalten entsprechend zu ahnden. Ob natürlich unter dem Einfluss aller anderen Faktoren (hohe emotionale Anspannung durch die Bedeutsamkeit und Einzigartigkeit des Erlebnisses, der starke öffentliche Druck durch die ganzen Zuschauer im Stadion und vor den Übertragungsgeräten dieser Welt) soviel Umsichtig – und Weitsichtigkeit eingetreten wäre, sei mal dahin gestellt.

Doch die darin enthaltene Auffassung und Vorstellung, dass der Videobeweis als Instrument zur Herstellung von Gerechtigkeit fungieren kann, nämlich dann, wenn der Mensch (hier in Form eines Schiedsrichters) als fehlbares Produkt seiner selbst an seine Grenzen stößt, ist reizvoll und beängstigend zugleich. Denn: Einerseits offeriert er dem Unparteiischen die Möglichkeit, schon während oder noch nach Abpfiff des Spiels, Entscheidungen zu revidieren oder Strafen „nachträglich“ zu verhängen. Das Wahrnehmen dieser Möglichkeit und damit verbundenen Auswertung einer solchen Situation obliegt aber immer noch dem Menschen an sich. Ein guter Seismograph für die Notwendigkeit des Hilfsmittels Maschine wird bestimmt das kaum zu überhörende Pfeifkonzert im Stadion sein. Andererseits muss man auch bedenken, dass mit diesem technischen Novum ein gewisser Zauber flöten geht. Denn letztlich macht ja auch den Fußball Fehlentscheidungen aus und sorgen für gern gesehenen und angenommenen Gesprächsstoff, mit dem sich ganz klassisch (Kneipen-) Abende füllen lassen.

Fußballmythen sind doch erst dank menschlicher Unzulänglichkeiten erst entstanden. Das Ideal zu einem fehlerfreien Fußballraum bringt also das Risiko der Entzauberung mit sich, birgt eine enorme Kraft der Entemotionalisieren und trägt damit vielleicht zu einem trägen Gefühl bei, die von allen Seiten gar nicht gewünscht sein kann…. Denn woran kann man sich nicht besser reiben und aufregen als an erlittenen Ungerechtigkeiten, die ihrerseits Gedanken und Gefühle der Solidarität und Identifikation mit sich bringen? Dieser Spielraum wird zugegebenermaßen nicht eliminiert, aber erheblich verkleinert. Am Ende ist und bleibt es eine Frage der Abwägung der einzelnen Faktoren, die in diesem Falle zugunsten der Spieler und bestimmt auch zu ihrem Schutz gefallen ist. Denn das Wissen, dass das eigene Verhalten noch im Nachhinein mit Sanktionen belegt werden kann, sollte doch bei den meisten Spielern für ein verschärftes (Selbst-) Bewusstsein und damit verbundene Selbst-Beherrschung sorgen. Die hätte Zinédine Zidane damals nicht geschadet, wer weiß, wie ihm das WM - Finale dann in Erinnerung geblieben wäre…

Aufrufe: 018.9.2017, 15:15 Uhr
Nicu Burgheim / FuPaAutor