2024-05-08T14:46:11.570Z

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Stolz ein Schalker zu sein? Tönnies, Skandale und Skandälchen – S04 war ein Beispiel dafür, was am Faninstitut Thema ist.	Foto: dpa
Stolz ein Schalker zu sein? Tönnies, Skandale und Skandälchen – S04 war ein Beispiel dafür, was am Faninstitut Thema ist. Foto: dpa

Für ein Leitbild

THEMA: +++ Prof. Dr. Harald Lange vom Fan-Institut in Würzburg stellt Kernfrage und lädt zum Mitmachen ein: Welchen Fußball wollen wir? +++

giessen/würzburg. Clemens Tönnies tritt zurück, von Entschuldigungen keine Spur. Weiterhin weht ein Hauch von Selbstgerechtigkeit durch die Arena „AufSchalke“, 200 Millionen Euro Schulden schon vor Corona, die 450-Euro-Jobber im Verein in der Krise freigestellt, das Gehalt der Stars auf 2,5 Millionen Euro künftig gedeckelt – Schalke 04 ist ein Malocherklub? Was haben wir gelacht. Leroy Sané taucht an einem späten Mittwochabend in München auf, eingeflogen mit dem Privatjet zu Vertragsverhandlungen. Auf Sport 1 kursiert ein Video, wie Pierre-Emerick Aubameyang mit einem Ferrari durch London brettert, Kostenpunkt des Autos angeblich drei Millionen Euro. Der FC Bayern München ist DFB-Pokalsieger und zum achten Mal hintereinander Deutscher Meister. Alles verdient, da aber Geld doch Tore schießt, wird die Bundesliga zu einem Hort der Langeweile, was den Titel-Kampf angeht.

Ein Spieler, der aus der Jugend zu einem Gießener A-Ligisten wechselt, beginnt das Gespräch einleitend damit, dass er gerne dort spielen wolle: „Aber nur, wenn ich 150 Euro im Monat bekomme.“ Ein paar Beispiele von vielen. Angesichts dieser Entwicklung darf man sich schon einmal eine entscheidende Frage stellen: „Welchen Fußball wollen wir?“ Einer, der diese Frage irgendwo an der Schnittstelle zwischen profunder wissenschaftlicher Analyse und der Bratwurst mit Senf im Stadionbereich stellt, ist Harald Lange, Professor für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg, Inhaber des dortigen Lehrstuhls und – einzigartig in Deutschland – Gründer des einflussreichen Instituts für Fankultur.

Ein Freitagmorgen im Juni. Mit Prof. Dr. Harald Lange zum Thema Fußball und Fans, Fans und Fußball, Kommerz und Bolzplatz zu telefonieren, ist eine wahre Freude, weil die interdisziplinäre und völlig offene Herangehensweise stets den Horizont erweitert – frei nach dem Motto: Hinterher ist man immer schlauer.

Ist es eine der Corona-Situation geschuldete anlassbezogene Themenstellung, die in Würzburg entwickelt wurde und unter „www.vierzunull.de“ langsam aber sicher mit (Fußball)-Leben gefüllt werden soll? „Ja und nein“, sagt Lange, das Thema sei gedanklich schon viel länger präsent, aber „natürlich hat die Krise mit ihren Auswirkungen, erst der Unterbrechung des Ligabetriebs und der erfolgten Wiederaufnahme, alles noch einmal in ein anderes Licht gerückt.“

Für Lange war und ist die „fast schon erzwungene Wiederaufnahme des Spielbetriebs“ kein Grund zur Freude. „Ich empfand den ersten Entwurf des Hygienekonzeptes ehrlich gesagt lächerlich angesichts der gesellschaftlichen Probleme“, sagt der 50-Jährige. Und in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk hatte der Fan-Forscher bereits am 23. April auf das Problem hingewiesen: „Es ist einfach absurd, wenn Prinzipien, die jeder Unternehmer, jeder Gastwirt, jeder Geschäftsinhaber extrem konsequent befolgen muss, in Teilbereichen einfach außer Kraft gesetzt werden. Dann fehlt natürlich in der Gesellschaft die Akzeptanz. Diese Sonderrolle gesteht man nicht mal unserem Lieblingskind, dem Profifußball, zu“.

Langes Institut forscht schon seit Jahren an der Abbruchkante, die sich da zwischen der professionellen Sport-Unterhaltung und den Zuschauern, dem Publikum, den Fans auftut – eine Kluft, so die Diagnose, die immer größer werde. Bei einem – sehr anlassbezogenen Kolloquium vor einigen Jahren – ging es beispielsweise um die WM-Vergabe an Katar. Gelöst ist das Dilemma freilich immer noch nicht.

Mit dem nun eingeschlagenen Weg, über ein Online-Seminar möglichst viele Akteure zu bündeln, will man in Würzburg einen „Thinktank“ entwickeln, der sich über einen längeren Zeitraum mit der Thematik befasst, die sich für Harald Lange nur vordergründig um „Welchen Fußball wollen wir?“ dreht. Denn dahinter steckt eine gesamtgesellschaftliche Dimension. „Wir beziehen dabei die Interessen möglichst vieler Akteure ein und arbeiten die relevanten wissenschaftlichen Hintergründe aus verschiedenen Fächern auf“, erläutert Lange zur Intention des Seminars, dessen Ergebnisse in den Fußball-Blog (vierzunull.de) einfließen. Bis dato nehmen 14 „begeisterte Fußball-Fans“ an dem über Zoom stattfindenden Seminar teil, das jeden Mittwoch ab 18.30 Uhr freigeschaltet ist. „Ein Mathematiker, ein Germanist, ein Psychologe oder auch ein Sportwissenschaftler sind dabei“, erläutert Lange, der das Projekt auf noch mehr Schultern verteilen will, die Bandbreite. „Wissenschaftliches Interesse am und persönliche Leidenschaft für den Fußball“ würden sich dabei verbinden. Letzten Endes gehe es um eine Wertediskussion, der sich der Fußball stellen müsse. „Fußball und Geld sind mittlerweile scheinbar untrennbar miteinander verbunden, so als gäbe es keine Alternative“, beschreibt Lange, der auch und gerade den Deutschen Fußball Bund (DFB) in der Pflicht sieht, denn die dort postulierten Werte seien „doch meist nur auf dem Papier vorhanden, ernsthaft gelebt werden sie nicht, weil es keine vernünftige Leitlinie gibt.“

Der Sportwissenschaftler führt als Beispiel die „hierarchisierte Form der von oben nach unten organisierten Ausbildung“ an. „Meiner Meinung nach sollte man hier von Bildung, nicht von Aus-Bildung sprechen.“ Die Spieler in den Stützpunkten würden von Beginn an „technologisiert“, die soziale Sphäre komme zu kurz.

Auch die Diskussion um das Salary Cap, also eine Gehaltsobergrenze, „ist doch nur eine Nebelkerzen-Debatte. Selbst wenn es durchsetzbar wäre, geht es da doch mehr darum zu deckeln, um besser haushalten zu können, über Handgelder oder Autos, die die Spieler erhalten, wird das doch wieder konterkariert.“ Vielmehr müsse es darum gehen, dass „eine Werte- die Geld-Debatte ablöst, daran müssen wir im Profifußball arbeiten.“ Erst dann werde der DFB wieder in der Lage sein, „authentisch zu führen und ein Leitbild zu kreieren, das tatsächlich mit Leben gefüllt wird und nicht nur Folklore ist.“ Harald Lange erinnert an die Sommermärchenaffäre oder die WM-Vergabe an Katar. „Warum können die Verbände nicht sagen: Wir fahren nicht nach Katar, warum können Verfehlungen nicht klar benannt werden“, will der Lehrstuhlinhaber den DFB mit seinen sieben Millionen Mitgliedern in der Pflicht wissen, denn „der gesellschaftliche Einfluss ist enorm und die Fans würden das mitgehen.“ Immer noch setze sich beim DFB aber Ellbogenmentalität durch („warum wird eigentlich nicht einmal eine Frau Präsidentin“) – und vor der Installation Fritz Kellers „wurde der Einfluss des Präsidenten ja auch erst einmal beschnitten.“

Ein interessanter Randaspekt ist das Beispiel von A-Jugendlichen, die für 150 Euro den Verein wechseln wollen, „da sehen wir doch, welche Formen das annimmt, die Selbstüberschätzung einerseits, aber auch die Definition des Hobbys über den Geldwert andererseits“. All jene Werte, die den Mannschaftssport so wichtig machten und über viele Jahrzehnte bestimmten, haben, so sieht es der Sportwissenschaftler, ihre Bedeutung immer mehr verloren. Vereinstreue, Freundschaft, Teamgeist, gemeinsame Freude am Spiel. „Das wird oben als schlechtes Vorbild gelebt und kommt ungefiltert unten an“, sagt Lange zu der Entwicklung, dass auch auf Hobby-Niveau über Geld, Ablösesummen oder Handgelder bei Vereinswechseln gesprochen wird.

Nach dem einstündigen Gespräch mit dem Leiter des Fan-Instituts ist noch klarer geworden, dass die Frage „Welchen Fußball wollen wir?“, nur eine Antwort kennen kann: Diesen Fußball nicht. Harald Lange, der befürchtet, dass „in 15 Jahren der Fußball aufgrund dieser Entwicklung vielleicht so unattraktiv geworden ist, dass die heute mit der Playstation sozialisierten Kids nur noch E-Sport schauen“, versucht gegenzusteuern. Dafür steht das Projekt des Fan-Instituts. Wer sich einbringen will, ist herzlich willkommen.



Aufrufe: 07.7.2020, 08:00 Uhr
Rüdiger Dittrich (Gießener Anzeiger)Autor