2024-04-19T07:32:36.736Z

Interview
Semih Keskin coacht die U19 von Viktoria 1889 Berlin.
Semih Keskin coacht die U19 von Viktoria 1889 Berlin. – Foto: Sebastian Räppold

„Ich bin froh, der Gesellschaft etwas zurückgeben zu können“

Semih Keskin ist Cheftrainer der U19 von Viktoria 1889. Er spricht über den Bundesliga-Aufstieg, die Arbeit mit dem Jugendlichen, als Sprungbrett zur Herrenabteilung und seine Verbundenheit zum Verein.

Ein Interview von Marcel Peters - https://www.facebook.com/AmateurberichterstattungMarcelPeters/ - regelmäßig Berichte über Berliner und Brandenburger Amateurfußballer oder Vereine. Gesprächspartner: Semih Keskin

Die Fußballpause dauert und dauert an. Ein Ende ist nach gestern in weitere Ferne gerückt. Wie beurteilst du die Saison und was gibst du den Jungs mit?

Fakt ist, dass wir die aktuelle Situation schon im letzten Jahr hatten und dadurch ein bisschen mehr Erfahrung haben. Für die aktuelle Saison ist eine Beurteilung natürlich schwierig, weil wir noch 12 Ligaspiele und den Berliner Pokal spielen müssen. Vier Spiele sind, auch jetzt speziell im Juniorenbereich, noch nicht aussagekräftig, auch weil die Entwicklung mit der Zeit genommen wird. Für die jungen Spieler ist es eine schwierige Zeit. Vor allem für den älteren Jahrgang, der sich natürlich präsentieren und Richtung Herrenbereich gehen will. Aber auch für den jüngeren Jahrgang, der Monate verliert. Trotzdem bleiben wir positiv und das geben wir den Jungs auch mit. Wir gehen weiterhin nicht davon aus, dass die Saison abgebrochen wird. Wir bereiten uns so vor, als wenn es jeder Zeit weitergehen könnte, damit die Jungs dementsprechend fit sind. Mit den Jungs halten wir über Zoom Kontakt, wollen den persönlichen Bezug herstellen. Hier geht es um Trainingsinhalte, aber auch um Fragerunden. Wie gesagt, es ist schwierig, ohne ein Ende in Sicht.

Hat sich die Stimmung der Jungs in den letzten Wochen/Tagen gewendet? Äußern sie euch gegenüber Unmut?

Die Stimmung ist weiterhin konstant. Die Jungs arbeitet sehr ernst und professionell unter den vorgegebenen Plänen weiter. Es ist klar, dass die Jungs sehr gerne wieder auf dem Platz stehen wollen, aber ich glaube die Mannschaft weiß, dass die gesellschaftliche Verpflichtung derzeit an höherer Stelle steht. Wir sind sehr glücklich, dass die Jungs die aktuelle Situation professionell annehmen und sehr gut arbeiten.

Vor dem Lockdown hattet ihr nur vier Ligaspiele absolviert. Konnte man schon erkennen, dass in der Bundesliga nochmal ein anderes Niveau an den Tag gelegt wird, als in der Regionalliga?

Absolut. Wir hatten in den vier Spielen die Möglichkeit gegen RB Leipzig oder den VfL Wolfsburg zu spielen, wo wir uns aus meiner Sicht auch sehr gut geschlagen haben. Man merkt aber trotzdem, dass das Niveau auf jeden Fall nochmal eine Steigerung ist und dass die Nähe zum Profibereich, also zu den Herren, bei einigen Vereinen schon sehr stark ausgeprägt ist. Einige der Jungs trainieren ja schon bei den 1. Herren mit, was nochmal eine ganz andere Würze in die Sache bringt. Es ist auf jeden Fall ein Top-Niveau und da gilt es mitzuhalten. Wir freuen uns über diese Aufgabe, man muss aber auch sagen, dass jede Ligaänderung eine Niveauänderung mit sich bringt, auch was das Feeling angeht. Das macht einfach Spaß.

An dieser Stelle natürlich auch nochmal ein riesen Glückwunsch zum Erreichen des Aufstieges. War die Stimmung trotz der positiven Nachricht eher ein bisschen gedämpft?

Vielen Dank. Gedämpft würde ich nicht sagen. Es ist ein absolut tolles Gefühl aufzusteigen. Die Pause hat schon ein bisschen zu schaffen gemacht, weil die Ungewissheit da war, weil man nicht wusste wie es weitergeht oder wie entschieden wird. Aber wir hatten eine sehr solide, konstante Saison gespielt, mit einer Mannschaft die sich sehr schnell und gut gefunden hatte. Ich glaube verdient war es daher allemal. Die Jungs haben sich gefreut, aber es konnte eben keine richtige Aufstiegsfeier durchgeführt werden. Die musste später nachgeholt werden, als einige Jungs schon bei anderen Vereinen untergekommen waren. Die Emotionen, ich kenne das noch von einem vorherigen Aufstieg den ich miterleben durfte, wo alle Zuschauer mit den Spielern und dem Staff gefeiert haben, haben natürlich ungemein gefehlt. Wir hätten die Saison auch gerne zu Ende gespielt, weil ich glaube, es gehört immer dazu etwas zu Ende zu bringen. Im Großen und Ganzen sind wir und die Jungs trotzdem sehr erfreut, es war eine gute Saison.

Jetzt war die Saison von März an unterbrochen. Es konnte quasi kein Scouting betrieben werden. Wie kann man trotz der Situation und auch mit dem Wissen, dass man innerhalb der Liga eher ein „kleiner Fisch“ ist, Spieler für den FC Viktoria begeistern? Kommen die talentierten Spieler alle nur aus Berlin bzw. von Berliner Vereinen oder sogar dem eigenen U17/U18 Unterbau, oder gibt es auch einige Spieler, die beispielsweise aus einem NLZ außerhalb der Stadt kommen?

Absolut, gehe ich mit. Scouting ist schwer, wenn die Saison ab März unterbrochen wird. Aber es ist ja nicht so, dass wir eine Entscheidung in zwei Tagen treffen, sondern einen längeren Zeitraum haben, wo wir die Spieler beobachten. Das externe Scouting ist während der gesamten Saison parallel am Laufen, es macht quasi keine Pause. Wichtig ist auch, ein gesundes Scouting zu betrieben, der Großteil der Mannschaft sollte nicht von extern zusammengesetzt werden. Also auch als die Saison im März unterbrochen wurde, war der Prozess schon sehr weit abgeschlossen. Wenn man in der höchsten Liga spielt, dann ist es eigentlich schon so, dass die Spieler sehr gerne hier spielen wollen. Ich glaube auch, dass die Reputation, die sich der Verein über die letzten Jahre erarbeitet hat, auch den Spieler nicht entgeht. Nicht alle Spieler kommen aus Berlin, wir haben mittlerweile einen Spieler aus Haching aus dem NLZ und einen vom Wolfsberger AC aus Österreich geholt. Es ist wie in allen anderen Segmenten der Welt auch, die Globalisierung ist auch hier weit vorangeschritten. Trotzdem haben wir immer den Wunsch und das Ziel, Spieler aus der eigenen U17/U18 bei uns zu integrieren und zu entwickeln. Das ist ein echtes Plus für uns.

Von welchem Ziel hat man vor der Saison gesprochen und wie muss die Situation aufgrund der Umstände nun neu bewertet werden?

Als Liganeuling möchte man erstmal schnellstmöglich Punkte sammeln. Dabei wird der Blick natürlich nach unten gesetzt, um die Punkte zu sammeln und sich in der Liga festzusetzen. Das erste Jahr als Neuaufsteiger ist immer schwer, das war bekannt und dementsprechend hatten wir auch geplant. Mit der neuen Situation wird es, für alle Mannschaften, noch komplizierter. Das hängt einerseits vom Wetter, aber natürlich auch von Corona ab. Ich denke auch in den NLZ‘s ist die Lage nicht optimal. Da müssen wir jetzt erstmal abwarten wie die Entscheidung der Politik und der Verbände ist, solang befinden wir uns in der Warteposition.

Viktorias 1. Herren blicken auf einen erfolgreichen Saisonstart zurück, die 3. Liga ist im Blick. Wie wichtig ist es daher Viktoria dauerhaft mit der U17/U19 auf höchster Ebene zu etablieren, um weiterhin für einen guten Durchlauf aus dem eigenen Nachwuchs zu sorgen?

Wir hatten in den letzten Jahren, auch als wir noch Regionalliga gespielt haben, immer einen guten Durchlauf gehabt, auch für unsere 1.Herren in der Regionalliga Nordost. Wir glauben auch, dass sich dies kontinuierlich so weiterentwickeln wird und wir den Jungs auch in den kommenden Jahren die faire Chance bieten können, nach oben reinzurutschen. Mit Benedetto Muzzicato haben wir auch einen Trainer der Wert auf junge Menschen legt, genauso wie Rocco Teichmann, der uns auch sehr engmaschig begleitet. Ich glaube da sind die Jungs schon gut aufgehoben, auch wenn es natürlich gut ist, immer in der höchsten Liga zu spielen. Wichtig ist aber auch, die Jungs zu begleiten, da es um die Entwicklung geht, dass sie die Erfahrung sammeln. Hier haben wir gute Arbeit geleistet, dass zeigen auch Beispiele wie Tobias Gunte, Pascal Maiwald, der jetzt nach Kassel gegangen ist, Till Muschkowski, Melvin Williams, der schon seit der U16 im Fokus steht, oder Emre Ertürkler, der als jüngerer Jahrgang Torschützenkönig in den U19 Regionalliga wurde. Es kommen auch wieder interessante, gute Spieler nach und wir geben unser bestes, dass die Jungs dort oben ankommen können und bestmöglich darauf vorbereitet sind. Ein Problem der Durchlässigkeit zwischen U17, U19 und Männer gab es in der Vergangenheit nicht, und wird es auch in Zukunft nicht geben.

Wo liegt dein Augenmerk: geht es in diesem Bereich eher um den sportlichen Erfolg oder auch oder vor allem um die sportliche und natürlich persönliche Entwicklung der Jungs?

In dem Bereich geht es noch um die sportliche und menschliche Entwicklung , vor allem zum Ende der Pubertät, wo die Jungs in einer Findungsphase sind und herausfinden, ob sie noch Kind sein wollen, oder ob sie als Mann schon reif genug sind. Das ist eine ganz schwere Phase, deswegen ist es im A-Jugendbereich jedes Jahr aufs neue sehr interessant, weil man ganz verschiedene Charaktere hat und Jungs, die ganz verschieden mit dieser Situation umgehen. Vor allem im Jugendbereich herrscht eine sehr große Zirkulation, es kommt immer ein neuer Jahrgang nach oben, vor allem im U19 Bereich, wo dann nach fünf, sechs Jahren der Alterspezifikation enden und zwei Jahrgänge zusammenspielen. Das gibt es zwischen U12 und teilweise U17 nicht. Auch das ist für die Jungs nochmal eine interessante Herausforderung, die man erstmal nehmen muss. Nichtsdestotrotz muss definiert werden, dass wir noch im Jugendbereich sind, kurz vor den Männer, hier wird nochmal der letzte Feinschliff verpasst. Der sportliche Erfolg definiert sich dann über die Mannschaft, und spiegelt wider, welche Arbeit mit den Jungs geleistet wird und welche Anstrengungen hereingesteckt werden.

Du bist jetzt in deiner fünften Saison in Folge Cheftrainer der U19 bei Viktoria Berlin. Welche Erinnerungen bleiben einem in der Zeit?

Ja fünf Jahre, davor auch fünf, sechs Jahre Co-Trainer und auch kurze Zeit Oberliga bei Hertha 06 mit meinem Vater. Aus dieser Zeit bleiben viele schöne Erinnerungen. Es sind bestimmt mehrere hunderte Menschen, die ich kennen lernen durfte, die teilweise jetzt auch schon erwachsen sind oder ebenfalls als Trainer arbeiten. Da blickt man gerne zurück. Wir haben viele Erfolge gefeiert, haben viele Spieler unterstützt, sie weiterentwickeln und sie ihren Träumen, Zielen und Wünschen ein Stück näher bringen können.

Macht es dich als Trainer stolz und ist es eine Anerkennung deiner Arbeit, wenn die von dir genannten und auch andere Spieler in der Regionalliga, oder auch höher Fuß fassen?

Absolut, wenn man seine Jungs da oben sieht, ist man mächtig stolz, ist glücklich für die Jungs und freut sich, dass auch die harte Arbeit der Spieler belohnt wird und sie am Ziel ankommen. Es ist auch eine Anerkennung für uns Trainer, für die Arbeit die wir geleistet haben und wir freuen uns als gesamte Jugendabteilung über jeden, der den Sprung, egal ob bei uns, oder bei einem anderen Verein, schafft. Wir begleiten die Jungs über längere Zeit, sehen, welche Entwicklung sie nehmen, wie sie das ganze annehmen und was sie dafür opfern, an Freizeit. Mit Max Steinbauer haben wir jetzt einen Fußballer in Thailand und da wünscht man seinen Spielern einfach alles Gute und das sie eine erfolgreiche Karriere haben.

Mit 32 Jahren könntest du eigentlich selber noch auf dem Feld stehen. Warst du fußballerisch nicht so begabt, hast du dein Augenmerk einfach auf ein anderes Gebiet gelegt, oder kam eine Verletzung dazwischen?

Auf dem Feld stehen geht leider nicht mehr. Ich hatte schon mit 12 Jahren meine erste Knie-OP und musste dann nach der vierten, aufgrund eines Meniskus- und Knorpelschadens, schon relativ früh mit dem Fußball aufhören. Für mich damals, mit 18, 19 Jahren eine ganz schwierige Situation. Direkt nach dem Jugendbereich aufzuhören, obwohl meine Freunde alle noch Fußball spielten, war nicht schön. Aber es war eine Lektion, die ich jetzt auch so meinen Spielern weitergeben kann. Fußball kann ein sehr kurzlebiges Geschäft sein, vor allem weil eine schwere Verletzung schnell dafür sorgen kann das man raus aus dem Sport ist. Ich bin sehr dankbar, dass ich über eine fußballverrückte Familie in die Schiene gerutscht bin, meine Passion Fußball nie aus den Augen verloren haben und der Gesellschaft etwas zurückgeben kann. Ich glaube, Jugendtrainer ist eine ganz wichtige Aufgabe.

Junge Trainer sind auch in höheren Ligen gefragt. Als Beispiel kann ich hier mal Julian Nagelsmann nennen. Ist das der Weg, den du gehen möchtest?

Nagelsmann ist eines der Beispiele der letzten Jahre, dass Alter auch in diesem Beruf kein Hindernis mehr ist. Ich denke schon, dass dies ein Weg ist, den jeder junge Kollege gehen will. Der muss aber auch gut durchdacht und gut geplant sein. Da gehört auch eine Portion Demut und Bodenständigkeit dazu. Primär geht es um Spielerentwicklung im Jugendbereich, aber auch als Trainer will man sich entwickeln, wie du ja schon erwähntest. Also ja, wenn sich die Tür öffnet, werde ich diese ganz weit aufreißen wenn es geht und würde versuchen auf diesem Weg auch noch einen neuen Impuls für mich zu gewinnen.

Warum Viktoria?

Ich bin mittlerweile zehn, elf Jahre hier im Verein. Ich bin absolut dankbar in dieser Familie dabei zu sein, es ist eine schöne Atmosphäre. Der Verein hat mich auf meinem Weg begleitet, mich stetig weiterentwickelt, ich habe in der Zeit alle meine Lizenzen abgelegt, habe viel miterlebt und -bekommen. Der Verein besitzt sehr viel Bodenständigkeit, Demut, es wird kontinuierlich gearbeitet und daher bin ich sehr glücklich, dass es ein ruhiges und harmonisches Arbeitsumfeld gibt. Hier können sich alle weiterentwickeln, sei es Funktionäre, Trainer, Spieler und da spielt für den Erfolg auch das vorhandene Wir-Gefühl eine Rolle. Viktoria hat da mittlerweile einen besonderen Stellenwert, weil ich aus der Verbands- bis in die Bundesliga alles mitmachen durfte und auch hoffentlich weiterhin hier arbeiten, Spieler ausbilden kann und in der Position mitwirken darf.

Aufrufe: 011.2.2021, 12:10 Uhr
Marcel PetersAutor