2024-05-10T08:19:16.237Z

Interview
Daniel Kessler, Fan und Hobby-Chronist der FC Kreuzlingen.
Daniel Kessler, Fan und Hobby-Chronist der FC Kreuzlingen. – Foto: zvg

"Mehr sein wollen, als man ist – das ist typisch FCK"

Daniel Kessler, Fan und Hobby-Chronist des FC Kreuzlingen, über die Vergangenheit und die Zukunft des Bodensee-Klubs.

Kein anderer weiss so viel über die Geschichte des FC Kreuzlingen zu erzählen wie er. Daniel Kessler erzählt im Interview von legendären Niederlagen, betrunkenen Kameramännern, Verhaftungen auf der Trainerbank und der schönsten Fussballanlage der Region Zürich.

Daniel Kessler, das Coronavirus ist allgegenwärtig. Was denkst du, wird die Saison auf Stufe Amateurfussball noch fortgesetzt? Und wenn ja, in welcher Form?

Ich denke, wir können alle froh sein, wenn die nächste Saison unter normalen Bedingungen gespielt werden kann. Als am wahrscheinlichsten erachte ich eine Annullierung der laufenden Saison, wie es ja bereits in einigen anderen Sportarten der Fall ist. Fairer wäre allerdings ein Saisonstart 20/21 nicht bei 0, sondern mit den Punkten aus der Vorrunde 2019.

Unsere Betty Böser sprach in ihrem Ausblick der Interregio-Gruppe 6 vom ewigen Aufstiegsfavoriten Kreuzlingen. Den Spielern fehle es am letzten Willen, meinte sie. Trotz Technik, Rahmenbedingungen und Geld. Hat sie Recht?

Ich glaube, man überschätzt die finanziellen Möglichkeiten in Kreuzlingen. Manche Vereine in unserer Liga haben sicherlich ein höheres Budget zur Verfügung als der FC Kreuzlingen. In den letzten 10, 15 Jahren musste das Budget immer tiefer angesetzt werden, aber in den Köpfen ist immer noch der gut zahlende FC Kreuzlingen verankert. Ich denke, mit unserer Mannschaft kann man aufsteigen, aber auch ein 2. oder 3. Platz ist mit den Möglichkeiten des FCK‘s eine gute Leistung.

Kreuzlingen hat auf dem 3. Tabellenplatz überwintert – sieben Punkte hinter Leader Chur 97.

Die Vorbereitung lief top, alle Spieler sind zusammen geblieben. Ich hatte ein sehr gutes Gefühl für die Rückrunde. Für den FCK wäre ein Saisonabbruch schade. Immerhin hat jetzt ein Grossteil der Stammspieler schon für die kommende Saison verlängert.

Welchen Spieler aus dem Raum Zürich würdest du gerne im Trikot des FC Kreuzlingen sehen? Vielleicht gibt es ja sogar einen aus der Gruppe 6?

Wir hatten früher öfters Spieler aus dem Raum Zürich. Das macht aber keinen Sinn für uns. Die Konstanzer Spieler sind uns einfach näher, die können mit dem Velo ins Training fahren. Insofern haben wir ein sehr grosses Einzugsgebiet, zumal in Konstanz kein höherklassiger Amateurverein spielt.

Der Fanshop des FC Kreuzlingen.
Der Fanshop des FC Kreuzlingen. – Foto: zvg

Weshalb überhaupt Kreuzlingen?

Kreuzlingen ist mein Heimatverein und ausserdem ein für mich besonderer Verein. Wegen seiner Mentalität und seiner Geschichte. Gerade für mich als geschichtsinteressierten Fussballfreund ist der FC Kreuzlingen sehr ergiebig. In den 1930er-Jahren war der FCK ein Pionier mit Nachtspielen gegen Everton, West Ham United, AS Roma und rund 30 weitere internationale Gegner. Dazu der Aufstieg in die Nationalliga. In der höchsten Liga trat man dann nicht an, weil das Geld fehlte. Typisch FCK – solche Dinge ziehen sich durch die Vereinsgeschichte.

Wie meinst du das?

Mehr sein wollen, als man ist – das ist ganz tief in der DNA des FC Kreuzlingen. Darum fühle ich mich bei diesem Verein auch wohl. Unsere Fangruppe besteht nur aus einer Handvoll Leuten, natürlich wären wir gerne mehr. In diesem Scheitern und Weiterträumen liegt aber auch eine gewisse Schönheit. Zumindest sehe ich das so. Der FCK ist kein Verein, bei dem man sich sagt: "Komm, wir spielen ein bisschen Fussball.“ Ich finde, so einen Verein braucht es auch. Das sollte man aber nicht mit Chaos verwechseln. Seit dem Amtsantritt von Präsident Daniel Geisselhardt vor fast 12 Jahren wird seriös gearbeitet, ohne die DNA des Vereins zu verleugnen. Das war auch wichtig, ansonsten würde es den FC Kreuzlingen heute wohl nicht mehr geben.

Welches Spiel des FC Kreuzlingen ist dir besonders in Erinnerung geblieben?

Das Aufstiegsspiel zur Challenge League beim FC Baulmes im Jahr 2004 war sicher der Kulminationspunkt. Das für den Verein wichtigste Spiel seit dem Zweiten Weltkrieg. Direkt vor diesem heiss ersehnten Spiel wurde unser Trainer Willy Scheepers von der Trainerbank weg von der Bundespolizei verhaftet. Wie in einem schlechten Film. Gegen den favorisierten FC Baulmes spielte der FC Kreuzlingen dann um sein Leben. Der kurz zuvor eingewechselte und fit gespritzte Chad Zlateff schoss unsere Grün-Weissen in die Verlängerung, wir sahen uns schon als Fans eines Profi-Vereins durch die Challenge League tingeln. Am Ende verlor man denkbar knapp und das ganze Kartenhaus brach in den kommenden Wochen zusammen.

Die Whiskykurve des FC Kreuzlingen bei einem Spiel in Herisau.
Die Whiskykurve des FC Kreuzlingen bei einem Spiel in Herisau. – Foto: zvg

Eine legendäre Niederlage also. Gibt es auch einen legendären Sieg?

Ja, 2007 musste der FCK am letzten Spieltag beim FC Mendrisio gewinnen, um in der 1. Liga zu verbleiben. Zuvor entliess der FC Kreuzlingen den Zürcher Trainer Fredi Iten und holte Willy Scheepers zurück, welcher nach langer U-Haft freigesprochen worden war. Wir fuhren mit einem Fancar ins Tessin, der Busfahrer hatte wahrscheinlich den furchtbarsten Trip seines Lebens. In der Pause lag man durch ein Eigentor mit 0:1 zurück. In der Kabine flogen die Fetzen, Spielern wurde gedroht, sie müssten über den Gotthard zurücklaufen, unser Torwart weigerte sich weiterzuspielen. Die Nerven lagen blank.

Und dann kam trotzdem noch die Wende?

Genau, aber erst in der Nachspielzeit. Wir Fans waren völlig heiser, als in der 91. Minute der erlösende 3:2-Siegtreffer über die Linie kullerte. Der Torschütze spendierte später seinen Schuh fürs Clubhaus. Das Spiel wurde per Live-Stream direkt ins FCK-Clubhaus auf Grossleinwand übertragen. Bei jedem Anrennen aufs Mendrisio-Tor jubelte der alkoholisierte Kameramann derart, dass die nicht richtig fixierte Kamera vornüber Richtung Rasen sank. Der Legende nach hörte man im Clubhaus nur noch Schreie aus Mendrisio. Weit nach Mitternacht kamen der Spieler- und der Fancar beim Clubhaus an. Feuerwerk erleuchtete das Hafenbecken, alle lagen sich in den Armen. Wir feierten den 1.-Liga-Verbleib wie den Gewinn der Schweizer Meisterschaft.

Dein ewiger Lieblingsspieler des FCK?

Das sind Spieler, die in irgendeiner Weise besonders aufgefallen sind. Ingo Backert etwa. Der wirkte immer etwas untrainiert, hatte aber eine unglaubliche Passgenauigkeit und seine direkten Freistösse waren von einer anderen Welt. Ich glaube, er hatte da eine Trefferquote von etwa 70%. Dann Ridvan Rexhepaj mit seiner Körperhaltung, als wollte er mit seinen Armen jeden Gegner vom Ball fernhalten. Er war eher rustikal, aber einmal, da gelang ihm im Burgerfeld ein Hattrick. Herrlich. Wir hängten danach ein gerahmtes Bild von ihm im Clubhaus auf.

Gibt es Trainer, die dir besonders in Erinnerung geblieben sind?

In den letzten Jahren überzeugte Kristijan Djordjevic (ex-VfB Stuttgart und -Schalke) und der jetzige Trainer Kürsat Ortancioglu macht seine Sache auch gut. Davor gab es einige Pleiten. Ex-FCZ-Assistent Fredi Iten musste man den Abgang mit 45‘000 Franken vergolden. Bei Vlado Nogic lief nichts zusammen, und Marc Hodel war ein einziges Desaster. Ich hab mir mal den Spass gemacht und eine Liste der ehemaligen FCK-Trainer zusammengestellt. In den letzten 50 Jahren waren das gut 40 Trainer. Ein Wahnsinn. Dagegen ist heute richtig Ruhe im Verein.

Nicht Willy Scheepers hat den bleibendsten Eindruck hinterlassen?

Willy Scheepers ist natürlich unvergessen. Ein guter Trainer, darüber waren sich, glaube ich, alle einig. Eine tolle Mannschaft, die es unter ihm bis in die Aufstiegsspiele zur Challenge League schaffte. Die vermeintliche Kokain-Geschichte war dann natürlich ein riesen Schock. Das Ganze wurde immer abstruser, Viagra-Lieferungen in Rotterdam, Spieler als Code-Namen, eine Küchenwaage wurde abgeholt, Telefonate abgehört. Warum man Willy Scheepers direkt vor dem Aufstiegsspiel verhaften musste, verstehe ich bis heute nicht. Willy schrieb uns Fans dann einen Brief aus der U-Haft: "Im Leben kommt es manchmal anders, als man denkt, mögen Eure Lieder noch lange erklingen." Wir druckten T-Shirts mit der Aufschrift "Free Willy" und besangen an den Spielen seine baldige Freiheit. Am Ende wurde er dann ja auch freigesprochen. Vor ein paar Jahren kam er mal wieder bei einem Heimspiel vorbei. Nach Spielende sangen unsere Veteranen gemeinsam mit Willy "You‘ll never walk alone" und alle streckten ihre grün-weissen Schals in die Höhe.

In der 2. Liga interregional kam es im Herbst 2019 zum ersten Stadtderby gegen Calcio Kreuzlingen.
In der 2. Liga interregional kam es im Herbst 2019 zum ersten Stadtderby gegen Calcio Kreuzlingen. – Foto: Erich Seeger

Entsteht beim Stadtrivalen Calcio Kreuzlingen etwas Nachhaltiges?

Calcio steht und fällt mit Präsident Marcus Meloni. Bis jetzt hat er viel Kontinuität und Durchhaltewillen gezeigt. Man darf nicht vergessen, dass er schon seit 12 Jahren Calcio-Präsident ist. Er ist Kreuzlinger, fussballvernarrt und hat Ressourcen.

Zwei Interregio-Konkurrenten in derselben Stadt – wäre man miteinander nicht erfolgreicher als gegeneinander?

Ich war schon vor einigen Jahren für eine Fusion, welche zeitweise relativ weit gediehen war. Es ist auf lange Sicht gesehen ein strategischer Fehler, dass beide Vereine ihr eigenes Süppchen kochen, für den FCK und für Calcio. Fusionen sind ja nicht per se ein Garant für Erfolg. Hier kämen aber zwei Vereine zusammen, die ihre Stärken in unterschiedlichen Bereichen haben und sich gut ergänzen würden. Derzeit ist das aber kein Thema mehr. Es wäre im Moment auch schade, denn es läuft gerade vieles gut beim FC Kreuzlingen und es macht Freude, der 1. Mannschaft zuzusehen. Calcio hat ja die Promotion League als Ziel herausgegeben. Ich bin gespannt.

Eine grosse Leidenschaft für einen Profiklub hast du nicht?

Mir sind schon seit längerer Zeit alle Profi-Vereine fremd geworden. Ich verfolge einige Traditionsvereine noch mit Interesse, vor allem im Halbprofi-Bereich, dazu Vereine, zu deren Fans ich einen persönlichen Kontakt habe – etwa den FC Winterthur, Arminia Hannover, Borussia Neunkirchen, Altona 93 oder den BFC Dynamo.

Als was kann man dich bezeichnen? Fussballfan, Chronist und Groundhopper? Oder ganz anders?

Ich bezeichne mich gerne als einfachen Fussballfan, denn das bin ich im Herzen immer geblieben. Ich freue mich noch über jeden Sieg meiner Mannschaft und ärgere mich über jede Niederlage. Dazu interessiere ich mich für Fussballgeschichte, sammle gerne alte Dinge, habe ein Faible für Matchprogramme und schreibe gerne über meine Fussballleidenschaft. Ein Groundhopper bin ich nicht, aber ich besuche natürlich auch sonst gerne Fussballplätze, das sind für mich immer spezielle Orte.

Die schönste Fussballanlage in der Region Zürich?

Hier hab ich einen klaren Favoriten. Der Utogrund in Zürich. Ein geschichtsträchtiger Fussballort mit einer architektonisch interessanten Tribüne an urbaner Lage. Hier spielte der FCK zuletzt in der 1. Liga gegen den SV Höngg. Spielt derzeit überhaupt noch ein Verein im Utogrund? Man sollte hier einen zur Anlage passenden Fussballverein auferstehen lassen, am besten die Young Fellows Zürich mit ihrem schönen schwarz-roten Logo. Die leben jetzt ja nur noch als bedauernswertes Kürzel bei Juventus weiter. Das wäre die perfekte Symbiose für Fussballromantiker. Ein solcher Verein fehlt in Zürich.

Und wo muss man als Fussballfan schweizweit unbedingt mal hin – abgesehen vom Kreuzlinger Hafenareal?

Ich beschränke mich auf den Amateurbereich im Wirkungsfeld des FC Kreuzlingen. Beim SC Brühl gefällt es mir gut. Ein Verein, welcher trotz der grossen Konkurrenz in der eigenen Stadt nie sein Publikum verloren und heute recht erfolgreich seine Nische in der Promotion League gefunden hat. Dazu mit einem schönen Stadion in seinem ursprünglichen Quartier. Auch das Buechenwald-Stadion beim FC Gossau SG gefällt mir sehr gut. Ein enges kleines Fussballstadion an zentraler Lage mit heimeliger Atmosphäre. Ein Neubau ist geplant und man scheint hier den Mut für etwas architektonisch Aussergewöhnliches zu haben. So etwas findet man im Schweizer Amateurfussball viel zu selten. Das Comunale von Mendrisio mag ich auch sehr. Aber man muss schon ein besonderes Faible dafür haben, um an solche Orte unbedingt mal hinzuwollen.

Uzwil-Trainer Sokol Maliqi sagte unlängst bei uns im Interview: "Die Ostschweizer sind fussballinteressierter als die Zürcher." Ist das korrekt?

Speziell im Amateurfussball ist das schon eher der Fall. Ich habe bei den Auswärtsspielen in der 1. Liga und 2. Liga interregional diese Erfahrung jedenfalls auch gemacht. Es ist auch ein Stadt-/Land-Graben. In der Stadt Zürich ist die Verbundenheit zum 1.-Liga-Verein sicher kleiner als in einem Dorf. In Uster kommen beispielsweise viel weniger Zuschauer zu einem Match als in Widnau. Mir scheinen auch das Rheintal und Vorarlberg besonders begeisterungsfähig zu sein, wenn es um etwas gehobenen Amateurfussball geht. Aber das sind Tendenzen, natürlich gibt es auch im Kanton Zürich begeisterungsfähige Amateurfussballfreunde. Man muss nur mal an dein Fussballportal fupa.net Region Zürich denken. Sowas könnte sich die Ostschweiz nur wünschen!

Daniel Kessler (42) ist Fan und "Klub-Historiker" des FC Kreuzlingen. Er betreibt den Fussball-Blog hafetschutter.ch, gibt seit 1999 das Fanzine "Grenzstadtkurier" heraus und hat 2013 den FCK-Fanclub Porteños Kreuzlingen gegründet.

Aufrufe: 05.4.2020, 00:34 Uhr
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