2024-04-16T09:15:35.043Z

Interview
„Es ist eine Herausforderung, die wir positiv angehen“. Trainer Daniyel Cimen über die Zukunft des FC Gießen.	Archivfoto: Hartenfelser
„Es ist eine Herausforderung, die wir positiv angehen“. Trainer Daniyel Cimen über die Zukunft des FC Gießen. Archivfoto: Hartenfelser

»Sehe das nicht als krassen Rückschritt«

RL SÜDWEST: +++ Trainer Daniyel Cimen über die Neuausrichtung des FC Gießen, die Möglichkeiten des Vereins und das „andere Gesicht der Mannschaft“ / Antonaci geht +++

Gießen. Nach der (abgebrochenen) Runde ist vor der neuen (wann auch immer beginnenden) Runde. Der FC Gießen bewegt sich zwischen der Planungsgrundlage, den Klassenerhalt in der Regionalliga Südwest am grünen Tisch geschafft zu haben und der Unsicherheit, wann und wie es weitergeht mit dem Trainings- und Spielbetrieb der Saison 2020/2021. In diesem Spannungsfeld befindet sich auch Trainer Daniyel Cimen, der im Interview Stellung zur Neuausrichtung des Clubs und deren Folgen sowie zum Stand der Planungen nimmt.

„Wir werden einige Spieler haben, die arbeiten gehen und eine berufliche Belastung haben werden.“ Das haben Sie vor wenigen Tagen im Gespräch mit dieser Zeitung gesagt. Der FCG entfernt sich demnach vom Profitum. Was heißt das konkret für den Trainingsalltag?

Feierabendfußball, Amateure – das habe ich natürlich auch gehört. In dieser Rubrik sehe ich uns nicht. In der regulären Saison haben wir zuletzt einmal vormittags trainiert, das wird wegfallen. In der Vorbereitung hatten wir drei, vier Tage pro Woche mit zwei Einheiten, da werden nun ein paar weniger sein. Die Uhrzeit wird nach hinten verschoben für diejenigen, die eine Vollzeitstelle haben. Das ist drin, wenn der Job von 8 bis 16 Uhr geht. Wie weit das vereinbar ist mit Regionalliga-Fußball, muss jeder Spieler oder Neuzugang für sich entscheiden. Wir wollen es so aufbauen, dass nicht alles auf die Karte Fußball gesetzt werden muss. Die Spieler sollen die Möglichkeit haben, neben dem Fußball eine Ausbildung, einen Teilzeit- oder einen Vollzeitjob zu haben. Aber unser Anspruch ist weiterhin, so professionell wie möglich zu trainieren und das Maximum herauszuholen.

Das scheint ein klarer Rückschritt zu sein im Vergleich zu den Bedingungen aus der Vorsaison?

Als solchen krassen Rückschritt sehe ich das nicht. Klar kommt bei ein, zwei Einheiten weniger pro Woche auf das ganze Jahr gerechnet eine ordentliche Anzahl heraus. Wir müssen schauen, wie wir das kompensieren und lösen können. Etwa mit etwas längeren Trainingseinheiten oder auch einem Programm für zu Hause, ich denke an Stabilisierungsübungen. Da müssen wir improvisieren, können das aber hinbekommen. Im Vergleich zu beispielsweise Kickers Offenbach mit Vollprofitum ist das ein Nachteil. Allerdings haben wir mit dem Klassenerhalt auch andere Ziele.

Für die berufstätigen Spieler dürfte eine Saison mit 42 Meisterschaftspartien, darunter viele englische Wochen, eine besondere Herausforderung darstellen. Ein klarer Nachteil?

Definitiv, da müssen wir auch nicht lange drumherum reden. Diesen Nachteil müssen wir in Kauf nehmen und mit den Konsequenzen leben. Wenn aber irgendwann die Spieltermine stehen, lässt sich auch planen. Der eine oder andere wird vielleicht nur den halben Tag arbeiten oder für ein Auswärtsspiel auch mal freinehmen können. Dass das mal nicht klappt, müssen wir einkalkulieren und akzeptieren. Allerdings sind wir da nicht die einzige Mannschaft in der Regionalliga. Der Verein wird versuchen, bei Jobs oder Ausbildung behilflich zu sein. Was wir brauchen, ist ein breiter Kader mit dem absoluten Minimum von 20 Feldspielern und drei Torhütern. Alles, was mehr ist, ist auch vom Budget abhängig.

Die Regionalliga besteht aus Traditionsclubs mit hohen Ambitionen, Nachwuchsschmieden von Proficlubs sowie gut geführten Amateurvereinen, für die die 4. Liga gewissermaßen die Champions League darstellt. Wo wird sich dort der FCG nach der Neuausrichtung einreihen?

Wahrscheinlich bei den letzgenannten Clubs. Ich denke, es ist wichtig zu vermitteln, dass wir aus der letzten Saison gelernt haben. Die Stadt, die Fans, die Sponsoren sollten das spüren und Vertrauen aufbauen und den Leuten, die jetzt zuständig sind, die Chance geben, das Ganze sportlich und finanziell auf gesunde Beine zu stellen. Wenn wir gesund wachsen und sich Regionalliga-Fußball in Gießen auf längere Sicht etablieren kann, haben wir etwas Gutes und Großes geschafft. Dazu benötigen wir Transparenz und auch Unterstützung, wobei ich natürlich weiß, wie schwer es Firmen und Unternehmen durch die Corona-Pandemie haben. Es ist eine Herausforderung, die möchten wir positiv angehen.

Im Vorjahr betrug der Etat etwa 1,2 Millionen Euro, dem Vernehmen nach wird er sich nun auf etwas weniger als die Hälfte belaufen. Was ist damit machbar in der Regionalliga?

Auf dieses Thema, auf Zahlen, möchte ich nicht eingehen. Das ist mir schon letztes Jahr zu sehr thematisiert worden. Die neue Sponsoren-GmbH führt Gespräche, um ein Budget zusammen zu stellen, damit wir eine konkurrenzfähige Mannschaft bekommen. Ich möchte das nicht an Zahlen festmachen. Wir wollen Spieler begeistern, für den FCG aufzulaufen oder auch die Plattform Regionalliga zu nutzen, sich für höhere Aufgaben zu empfehlen. Das sind Argumente. Außerdem haben wir in der abgelaufenen Runde gemerkt, was mit einer Mannschaft, die zusammengeschweißt auftritt, möglich ist.

Der Wettbewerbsvorteil der Proficlubs iist unbestritten. Inwiefern können Clubs wie Astoria Walldorf, das die Abbruch-Runde als überragender Fünfter beendet hat, der Bahlinger SC und Bayern Alzenau, die beide vor dem FCG rangierten, zur Orientierung dienen?

Eigentlich möchte ich mich an keinem anderen Verein orientieren. Walldorf hat einen super Job gemacht und darf mit Recht behaupten, sich in der Regionalliga etabliert zu haben. Wir versuchen, unseren eigenen Weg zu finden. Wichtig ist, dass wir transparent nach außen sind. Obwohl die letzte Saison nicht berauschend war, hatten wir einen tollen Zuschauerschnitt. Das wollen wir forcieren und die Leute begeistern, ins Stadion zu kommen. Für den Fußball und im besten Fall auch dafür, weil die Mannschaft für Attraktivität steht. Es ist zwar eine Floskel, aber wir schauen, etwas gemeinsam auf den Weg zu bringen. Der Verein mit den Fans, den Fußballinteressierten, Sponsoren und Ehrenamtlichen.

Deutlich verringerter Etat, Abkehr vom Profifußball – der FC Gießen muss kleinere Brötchen backen. Gehen namhafte Spieler, die bislang vom Fußball gelebt haben, diesen Weg mit? Man denke an Keeper Frederic Löhe und Jure Colak, die zwar noch einen Vertrag haben, oder auch Ex-Bundesligaspieler Kevin Pezzoni und Samir Benamar.

Da laufen Gespräche. Stand jetzt ist noch niemand auf mich zugekommen, dass er gehen will. Die Spieler, die noch Vertrag haben, auch Freddi und Jure, haben signalisiert, dass sie bleiben wollen. Spieler wie Kevin Pezzoni oder auch Samir Benamar haben uns weitergeholfen. Mit ihnen wird gesprochen. Dass ein Mann wie Pezzoni bleibt, daran bin ich selbstredend interessiert. Zentral wird sein, dass sie unter den veränderten Bedingungen bereit sind, für den Verein zu spielen. Wenn ja, würde ich mich sehr freuen, falls nein, müssen wir das akzeptieren. Es muss für den Verein passen, denn solch eine Saison wie die letzte wollen wir nicht noch einmal erleben.

Das Team hat unmittelbar vor der Winterpause und danach, vor allem defensiv, durchaus überzeugt. In welchen Bereichen denken Sie an Verstärkungen?

Es gab einige Dinge, die verbesserungswürdig sind. Das Mittelfeld war nicht torgefährlich genug, da werden wir den Hebel ansetzen. Wir denken auch über Außenverteidiger nach, die für mehr Druck sorgen, die offensiver denken. Das sind Gesichtspunkte für mich. Ich möchte mit meiner Mannschaft auch für einen Fußball stehen, der von einer gewissen Attraktivität geprägt ist. Ich habe gern den Ball, aber im Offensivspiel müssen wir uns verbessern. Das geht von den hinteren Positionen mit mehr Druck los, geht über die Flügel weiter, mit Spielern, die im Eins-gegen-Eins stark und wendig sind. Da müssen wir gucken, was der Markt hergibt. Die Mannschaft wird ein anderes Gesicht bekommen.

Gibt es neben Timo Cecen, Nico Rinderknecht, Vaclav Koutny und Samuel Sesay weitere feststehende Abgänge? Ricardo Antonaci wird uns verlassen. Ich hätte ihn gerne behalten und es gab auch Gespräche, aber keine Einigung.

Samuel Sesay ist mit seinen 20 Jahren zweifellos ein großes Innenverteidiger-Talent. Es wird gemunkelt, er habe vermisst, dass der Club mehr um ihn kämpft und ihm eine Perspektive aufzeigt. Was sagen Sie dazu?

Samuel hat sich sehr früh für den FSV Fernwald entschieden, sodass wir keine Möglichkeit hatten, ihm eine Perspektive zu bieten. Das hört sich hart an, aber dann ist es so: Reisende soll man nicht aufhalten. Es ist schade, und ich wünsche ihm alles Gute, vor allem Gesundheit. Er hat eine tolle Entwicklung gehabt, ich sehe weiteres Potenzial in ihm und hätte gerne mit ihm weitergearbeitet.

Wann die Saison starten kann, steht angesichts der Corona-Pandemie in den Sternen – und damit auch der Beginn der Vorbereitung. Gibt es vor diesem Hintergrund so etwas wie einen Fahrplan für den Trainingsbeginn und mögliche Transfers?

Zunächst einmal muss das Kontaktverbot aufgehoben werden, bevor man an echtes Mannschaftstraining denken kann. Die Möglichkeit, trotz des Kontaktverbots einzusteigen, halten wir uns jedoch offen. Aktuell halten sich die Jungs selber fit und gehen mit dieser Situation sehr verantwortungsvoll um. Sollte die Runde im September beginnen, und das ist ja nicht sicher, ist der grobe Anhaltspunkt für das Mannschaftstraining spätestens Anfang August. Zudem gab es eine Transferperiode wie diesmal noch nie. Ich glaube, dass der Transfermarkt überfüllt sein wird. Im Moment herrscht noch kein Zeitdruck, aber natürlich versuchen wir, Sachen vorzubereiten, führen Gespräche und haben unsere Überlegungen. Es gibt aber viele Faktoren, die eine Rolle spielen.

Wo schauen Sie sich nach Neuzugängen um? Steht die Hessenliga mehr im Fokus, weil Neuzugänge, die über das Potenzial für die Regionalliga und den notwendigen Ehrgeiz verfügen, zum einen besser Beruf und Fußball unter einen Hut bekommen können, zum anderen finanzierbar sind?

Die Hessenliga war und ist immer ein Thema, aber ich möchte mich darauf nicht versteifen. Der Verein schaut im Moment, was er in Sachen Jobs und Ausbildungsstellen möglich machen kann. Dann können wir vielleicht den einen oder anderen überzeugen, der sich beruflich etwas aufbauen und trotzdem hochklassig spielen will.

Sie haben mit ihren Assistenten Zaki Tammaoui und „Taki“ Arnautis, deren Verträge noch nicht verlängert wurden, sehr gut harmoniert. Was ist dran an den Gerüchten, dass Marco Vollhardt Co-Trainer wird?

An den Gerüchten um Marco Vollhardt ist nichts dran. Dass ich weiter zwei Co-Trainer habe, wird aber mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr so sein. Ich hätte gerne, dass einer von beiden bleibt, klar ist da noch nichts. Bei „Taki“ Arnautis tut sich womöglich beruflich etwas auf, sodass abzuwarten ist, wie das zu kombinieren wäre.



Aufrufe: 06.6.2020, 08:00 Uhr
Thomas Suer (Gießener Anzeiger)Autor