2024-05-02T16:12:49.858Z

FuPa Portrait
Der Stürmer schießt, der Torwart packt zu: Sali Chasim (links) und Sven Handwerk, zwei taubstumme Fußballer des FC Bad Wörishofen, analysieren ihr Spiel wortlos, aber intensiv.  Foto: Max Kramer
Der Stürmer schießt, der Torwart packt zu: Sali Chasim (links) und Sven Handwerk, zwei taubstumme Fußballer des FC Bad Wörishofen, analysieren ihr Spiel wortlos, aber intensiv. Foto: Max Kramer

Ohne Worte

Sven Handwerk und Sali Chasim sind taubstumm und spielen für den FC Bad Wörishofen +++ Mit welchen Herausforderungen die beiden konfrontiert sind – und wie sie sich trotzdem Gehör verschaffen

Sonntag, 12.55 Uhr, auf der Sportanlage in Bad Wörishofen. Noch ein lockerer Spruch, noch einmal Motivieren, noch einmal Abklatschen: Der Geräuschpegel in der Kabine ist hoch, jetzt, wenige Augenblicke vor dem Anpfiff. Nur zwei schweigen – und sprechen doch. Mit ihren Händen. Sali Chasim und Sven Handwerk, die gleich für den FC Bad Wörishofen auflaufen werden, sind taubstumm.

Kommunikation auf dem Platz ist das A und O – von der Bundesliga bis zur Kreisklasse. Wo steht ein freier Mitspieler? („Diago!“) Bekomme ich Druck durch einen Gegner? („Hintermann!“) Welche Anweisungen gibt der Trainer? („Pressen!“) Eigentlich unerlässliche Fragen, die für Gehörlose auf dem Platz aber unbeantwortet bleiben müssen.

Doch Spieler und Trainer des FC Bad Wörishofen haben sich mit der außergewöhnlichen Situation arrangiert. Lassen Fußballer in der Regel am liebsten die Füße für sich sprechen, sind es im Umgang mit Sali Chasim und Sven Handwerk fast ausschließlich Arme und Hände. Ein Schauspiel, das schon beim Warmmachen beginnt. Flach spielen: beide Handflächen nach unten. Lange Bälle: ein Fingerzeig nach oben. Seitenwechsel: eine Handbewegung in hohem Bogen von rechts nach links, oder andersherum. Einfachste Kommandos, die die Einfachheit des Fußballs wortlos definieren.

Beide gehör- und sprachgeschädigten Spieler besetzen in der zweiten Mannschaft des FC Bad Wörishofen Schlüsselpositionen: Handwerk als Torwart, Chasim als zentraler Stürmer. Rollen, die es erfordern, sich Gehör zu verschaffen. Und dafür sorgen sie: mit dumpfen Schreien, die eindringlicher sind als das Gebrüll, das sonst so manchen Amateur-Fußballplatz umhüllt. Von Handwerk, wenn er sich den Ball nach einer Ecke schnappt. Von Chasim, wenn er eine gute Chance wittert und deshalb den Ball fordert. Kommt der Ball dann in seinen Lauf, pfeift der Schiedsrichter, der vom Handicap der beiden weiß, nicht selten ab: Abseits. Doch Sali Chasim läuft einfach weiter. Und schießt. Und trifft. Und hadert, als er bemerkt, dass das Spiel längst unterbrochen war. Abseits? Ich? Niemals, Schiri!

Eine Reaktion, die im Fußball so normal ist wie der Ball selbst. Und auch sonst unterscheidet sich das Verhalten der beiden kaum von dem eines jeden anderen Kickers. Stürmer Sali Chasim foult, meckert, lässt sich zu Schwalben hinreißen. Sven Handwerk dirigiert als Torhüter bei Freistößen händisch seine Mauer, wuchtet den Ball bei Abschlägen tief in die gegnerische Hälfte – und stützt seine Hände konsterniert in die Hüfte, nachdem er den Ball zum 0:1 passieren lassen muss. Einmal Kopfschütteln, einmal auf den maroden Rasen des Nebenplatzes spucken. Dann klatscht der neongrün-gekleidete Torwart mehrmals fest in die Hände, streckt seine Brust heraus. Eine unmissverständliche Aufforderung an die Mitspieler: Kopf hoch, weiter geht’s!

Stürmer Chasim wird anschließend ausgewechselt. Nicht aus Leistungsgründen, immerhin hat er zumindest einmal den Pfosten getroffen. Sondern weil er leicht angeschlagen ist – und weil es in der B-Klasse Allgäu 8 eben auch darum geht, dass alle einmal drankommen. Am Ende bleibt es beim 0:1 gegen den favorisierten Tabellendritten, den SV Mattsies II. Die Reservemannschaft des FC Bad Wörishofen verharrt im unteren Tabellendrittel, doch der Ärger hält sich in Grenzen: Absteiger gibt es in dieser Liga nicht.

Unmittelbar nach dem Schlusspfiff gehen Sali Chasim und Sven Handwerk gemeinsam in ihre eigene, stille Analyse: Ja, dieser eine Pass kam nicht gut, dort hätte man schneller schießen müssen. Und während die beiden so wortlos, aber wild gestikulierend am Seitenrand stehen, marschieren die ersten Mitspieler wieder in Richtung Kabine. Auf dem gepflasterten Weg klackern 22 Paar Stollen-Schuhe. Schweißgeruch liegt in der Luft. Ab in die Dusche.

20 Minuten später sitzen Chasim und Handwerk in dem Vereinsheim zwischen Eisstadion und Flugplatz. Dort, wo seit über 50 Jahren Spieler, Trainer und Zuschauer ein- und ausgehen. Zwei wie sie hat es hier noch nicht gegeben. Und weil Handwerk gut Lippen liest, dank eines Knopfs im Ohr auch ein wenig hört und kurze, einfache Sätze formulieren kann, beginnt er, über sich und seinen Mannschaftskollegen zu sprechen.

„Es ist alles tipptopp“, sagt der 28-Jährige dann, wenn man ihn nach dem Zusammenspiel mit den Mannschaftskollegen fragt, die aus aller Welt kommen. „Es ist immer lustig. Und da wir viele Situationen besser sehen können, haben wir im Spiel auch keine großen Probleme“, erklärt Handwerk, der als Produktionshelfer bei Iwis in Landsberg arbeitet und nebenbei auch beim Gehörlosen-Sportverein (GSV) Augsburg spielt. „Aber wenn alle lachen, dann muss man uns erklären, was gerade lustig ist. Das macht keinen Spaß. Wir müssen also beide geduldig sein.“

Bis er sechs Jahre alt war, brauchte Handwerk kein Hörgerät. „Mit sieben war mein Gehör dann aber fast komplett kaputt. Ich weiß nicht, warum.“ Auch eine Operation brachte keine Besserung. Doch anstatt sich zu verstecken, wollte er am Leben teilnehmen und begann als 18-Jähriger, Vereinsfußball zu spielen. Nach einem Umzug wechselte er zur laufenden Saison vom FC Jengen zum FCW – und begrüßte dort wenige Wochen später Sali Chasim.

Der 19-Jährige mit griechischen Wurzeln kam taubstumm auf die Welt und trat erstmals als Jugendlicher beim ESC Rellinghausen 09 in der Nähe von Essen gegen den Ball. Inzwischen ist er mit seiner Familie in Kaufbeuren sesshaft geworden – die Frau ebenfalls taubstumm, die Tochter hörend. Demnächst beginnt er eine Ausbildung zum Industriemechaniker in Nürnberg.

Berufliche Ziele, private Verpflichtungen und auch sein Handicap halten Chasim aber nicht davon ab, auch sportliche Ambitionen zu hegen. „Ich möchte gut trainieren, damit mich der Trainer für die erste Mannschaft nominiert. Aber das braucht Zeit“, übersetzt Handwerk die Gebärdensprache seines Kollegen. Ein Platz auf der Bank reicht ihm auf Dauer nicht. „Ich wünsche mir, höherklassig zu spielen, vielleicht in der Kreisliga. Dafür würde ich auch zu einem anderen Verein wechseln“, zitiert ihn Handwerk.

Dafür würde es Chasim in Kauf nehmen, die Mannschaft zu verlassen, in der er mit Handwerk einen besonderen Freund gefunden hat. „Sven ist wichtig für mich. Er motiviert mich sehr und gibt sich viel Mühe. Wir vertrauen uns“, sagt Chasim und reibt sich demonstrativ die Augen, als sein Kollege erwidert: „Es wäre schade, wenn Sali gehen würde.“

Zumindest jetzt, nach einer herzlichen Umarmung, trennen sich die Wege der beiden, sie werden erwartet. Während sich Sali Chasim bald auf den Heimweg macht, bleibt Sven Handwerk noch eine Weile im Klubheim, um mit den anderen Spielern anzustoßen, eine Zigarette zu rauchen – und sich natürlich auch zu unterhalten. So, wie es eben geht. Mit Händen und Füßen.

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Aufrufe: 021.4.2019, 09:24 Uhr
Mindelheimer Zeitung / Max KramerAutor