2024-04-19T07:32:36.736Z

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Streetworker Max Rabe warnt: „Manche Kinder haben seit Corona zehn Kilo zugenommen.“
Streetworker Max Rabe warnt: „Manche Kinder haben seit Corona zehn Kilo zugenommen.“ – Foto: Seidl

Lockdown im Fußball: „Wir verlieren eine Generation an die Playstation“

Was bedeutet der zweite Lockdown für den Fußball?

Die Bolzplätze und Sportanlagen sind dicht. Der Bayerische Fußball Verband fordert von der Politik, dass zumindest die Kinder spielen dürfen. Doch die Regierung hat keine Reaktion gezeigt. Die Angst geht um, den Nachwuchs zu verlieren.
  • Der größte Gegner des Fußballs ist nicht das Virus. Die Jugend wandert ab zur Playstation.
  • Der Appell des Bayerischen Fußball Verbands an die Politik bleibt ungehört.
  • Lockdown trifft vor allem Kinder aus sozialen Brennpunkten.

Sobald es auf der Welt Probleme gibt, muss eine Studie her. Knapp 80 Prozent der Jungen und 88 Prozent der Mädchen bewegen sich sportlich zu wenig. Für diese Erkenntnis hat die Weltgesundheitsorganisation WHO in 15 Jahren 1,6 Millionen Schülerinnen und Schüler befragt.

Ein Treffen mit Max Rabe hätte auch gereicht. Der 31-Jährige ist ein Zocker. Nicht an der Playstation. Sondern auf Beton, Wiese oder Asche. Rabe ist Fußball-Streetworker für die Non-Profit-Organisation „buntkicktgut“. Er kennt in München jeden Bolzplatz. Für den Angreifer des FC Alte Haide ist es zur Lebensaufgabe geworden, Kinder und Jugendliche aus den Problembezirken abzuholen, um mit ihnen zu kicken. Doch seit dem zweiten Lockdown sind die Bolzplätze und Sportanlagen wieder dicht.

Rabe kann und will die Maßnahmen der Regierung nicht infrage stellen. Aber er erlebt Tag für Tag, wie es Kindern ergeht, denen „das Zocken“ und die Treffen mit den Freunden fehlen. „Die Kids werden ruhig gestellt“, warnt Streetworker Rabe. „Die Eltern drücken ihren Kindern das Tablet in die Hand oder setzen sie vor die Konsole. Dann haben die Erwachsenen Ruhe. Für die Entwicklung der Kinder ist dieses Verhalten aber eine Katastrophe.

Streetworker Max Rabe warnt: „Manche Kinder haben seit Corona zehn Kilo zugenommen.“

Statt mit den Kindern „auf dem Bolzer zu zocken“ sitzt Max Rabe jeden Tag mehrere Stunden an seinem Handy. Früher holte der 31-Jährige seine Kinder über WhatsApp auf den Fußballplatz. Heute verschickt er Ernährungspläne. „Im ersten Lockdown haben meine Kids massiv zugelegt. Sie sind zwischen zehn und 16. Manche haben seit Corona zehn Kilo zugenommen. Jeder kann sich vorstellen, was Übergewicht für das Selbstwertgefühl eines Jugendlichen bedeutet.“

„Für Vereine ist die Entwicklung viel schlimmer. Ich glaube, dass dort ganze Jahrgänge kaputt gehen.“

Zu Hause essen die Kinder, was auf den Tisch kommt. Mahlzeiten müssen nicht gesund sein. Sie müssen vor allem schnell gehen. Viel schlimmer als das Fast Food aus der Tiefkühltruhe sind Softdrinks. „In diesem Alter sind die Kinder nicht so weit, dass sie wissen, wie sie sich ernähren müssen“, sagt Rabe. Er setzt den Kindern deshalb über WhatsApp Ziele: Sie sollen zwei Wochen auf Zucker verzichten. Statt Limo gibt es Wasser. „Wenn sich die Kids daran halten, gehen die Kilos schnell wieder runter. Vorausgesetzt sie bewegen sich. Jetzt sind wir wieder beim aktuellen Problem“, sagt Rabe.

Aktion im Garten: Orhan Akkurt (rechts) hat für seine Söhne Denis (links) und Luca einen Kunstrasenplatz gebaut. Ihm ist bewusst, dass ihr Sportplatz (Akkurts Name für den Garten) in München etwas Besonderes ist.
Aktion im Garten: Orhan Akkurt (rechts) hat für seine Söhne Denis (links) und Luca einen Kunstrasenplatz gebaut. Ihm ist bewusst, dass ihr Sportplatz (Akkurts Name für den Garten) in München etwas Besonderes ist. – Foto: Sven Leifer

Der Fußball-Streetworker hat in München schon über 5000 Kinder trainiert. Für die Jugendlichen ist der Bezirksliga-Stürmer wichtiger als die Vorbilder aus der Bundesliga. Er ist wie ein großer Bruder. Sie erkennen ihn auf der Straße, wenn er mit dem Fahrrad durch die Viertel fährt. Im ersten Lockdown ist vieles zusammengebrochen, was Rabe und die ehrenamtlichen Streetworker von „buntkicktgut“ aufgebaut haben. „Wir haben zu vielen Kids den Kontakt verloren. Gerade aus den Problembezirken. Die sitzen nur noch vor dem Handy oder der Konsole. Mit ihren Freunden unterhalten sich online. Diese Kids tauchen aus dem realen Leben ab.“

Keinen Bock mehr auf Fußball? Kindern sind süchtig sind nach dem Handyspiel „Fortnite“


Rabe spricht von Problemen, die es schon vor Corona gab. Er erzählt von Kindern, die süchtig sind nach dem Handyspiel „Fortnite“. Kinder, die wegen diesem Spiel ganze Nächte vor dem Handy verbringen. Rabe spricht von Kindern aus sozialen Brennpunkten, die zu fünft in einer Dreizimmerwohnung leben. Für ihn ist der Fußball die letzte Möglichkeit, diese Kinder zu erreichen. „Wir verlieren eine ganze Generation an die Playstation. Dabei will ich nicht tatenlos zusehen“, sagt Rabe.

Ein Garten, in dem Kinder ihren Bewegungsdrang ausleben können, ist für die meisten Familien in München zur Utopie geworden. Orhan Akkurt hat einen Garten, von dem die Kicker von Max Rabe nur träumen können. Für seine vier Kinder hat Akkurt vor seinem Haus einen Kunstrasenplatz gebaut. „Ich würde sogar noch eine Rundumbande aufstellen und eine Flutlicht-Anlage für meine Kids installieren. Aber da spielt leider meine Frau nicht mit“, lacht Akkurt.

Familien-Traum: Wann immer es möglich ist, rollt im Garten der Familie Akkurt der Ball.

Genug gesprochen. Jetzt muss gekickt werden. Die Söhne Denis (9) und Luca (8) treten im Duell gegen den Papa an. Der 35-jährige Stürmer des FC Ismaning schickt seine Tochter Ella (4) und Lionel (2) mit aufs Feld. Zwei Tore. Sechs mal drei Meter Kleinfeld. Ein Kindheitstraum. Sobald Akkurt den Ball hat, stürzen sich die Kinder auf ihn. Dann vergessen auch Ella und Lionel, dass sie eigentlich beim Papa in der Mannschaft spielen. Mama Stefanie steht daneben. So lacht nur eine Mama, für deren Kinder es nichts Schöneres als Bewegung gibt. Und deren Mann sieben Tage pro Woche auf dem Fußballplatz steht. „Auf der Wohnzimmer-Couch erlebt mich meine Frau erst ab 22 Uhr. Aber sie wusste, auf wen sie sich einlässt“, lacht Akkurt.

Orhan Akkurt baut seinen Kindern einen Sportplatz in den Garten

Der Familie ist bewusst, dass ihr Sportplatz (Akkurts Name für den Garten der Familie) in München etwas ganz Besonderes ist. Akkurt ist selbst Fußballtrainer bei der F-Jugend der Bayerischen Fussball Akademie. „Viele Kinder wohnen in Wohnblöcken. Wenn sie kein Fußballtraining haben, sitzen sie zu Hause und spielen Playstation“, sagt Akkurt. Er kann nicht verstehen, dass den Kindern nicht zumindest ein kontaktloses Training ermöglicht wird. „Es geht nicht nur um den Bewegungsdrang, den die Kinder ausleben müssen. Auch der Kontakt zum Trainer ist für sie sehr wichtig. Auf mich kommen Kinder zu, die mit mir über Probleme sprechen, über die sie zu Hause nicht reden können.“

Familien-Traum: Wann immer es möglich ist, rollt im Garten der Familie Akkurt der Ball.
Familien-Traum: Wann immer es möglich ist, rollt im Garten der Familie Akkurt der Ball. – Foto: Sven Leifer

Bayerische Fußball Verband: Appell an die Politik bleibt ungehört

Der Bayerische Fußball Verband appelliert seit einer Woche an die Politik, zumindest das Jugend-Training wieder zuzulassen. Doch bis jetzt wartet der Verband auf eine Rückmeldung. Tanzsport ist erlaubt, Individualtraining an der frischen Luft ebenfalls. „Dass die Vereine aktuell zur sportlichen Untätigkeit verurteilt sind, tut weh. Das generelle Verbot des Trainingsbetriebs sollte zumindest für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren aufgehoben werden. Dies gilt nicht nur für den Fußball, sondern zumindest für alle Sportarten, die an der frischen Luft ausgeübt werden“, fordert BFV-Präsident Dr. Rainer Koch.

Die Fußballer stehen vor einer langen Winterpause. Und vor einer ungewissen Zukunft. Max Rabe glaubt, dass er die Kinder zurückholen kann. Zur Not fährt er jedes Kind einzeln mit dem Fahrrad ab. „Sobald es losgeht, kann jedes Kind bei uns mitzocken. Für Vereine ist die Entwicklung viel schlimmer. Ich glaube, dass dort ganze Jahrgänge kaputt gehen.“

Text: Christoph Seidl

Aufrufe: 018.11.2020, 15:18 Uhr
Münchner Merkur / Christoph SeidlAutor