2024-05-10T08:19:16.237Z

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Längere Haare, weicher und höhere Lebenserwartung: Kunstrasen-Fachmann Lothar Gersmann präsentiert ein Schichtmodell der neuesten, dritten Generation, die viele Vorteile bietet, aber auch mit der umstrittenen Gummi-Granulatschicht (grün) verfüllt ist. 	Foto: Weis
Längere Haare, weicher und höhere Lebenserwartung: Kunstrasen-Fachmann Lothar Gersmann präsentiert ein Schichtmodell der neuesten, dritten Generation, die viele Vorteile bietet, aber auch mit der umstrittenen Gummi-Granulatschicht (grün) verfüllt ist. Foto: Weis

Die Kunst des Rasens

Teil 4 der Serie: +++ „Kunstrasen – Fluch oder Segen?“/ Lothar Gersmann hat in Mittelhessen über 100 Plätze geplant, betreut und gebaut +++

Gießen/Wetzlar. Es ist ein kalter, nasser Abend, an dem die Menschen normalerweise nicht einmal ihren Hund vor die Tür jagen würden. Es nieselt, der Nebel am Rande eines kleinen Wäldchens hat die Dämmerung mit seiner klammen Feuchtigkeit fest im Griff. Dass Kinder, später auch Erwachsene, bei solch lausigen Bedingungen überhaupt Fußball spielen können (oder wollen), haben sie der städtischen Flutlichtanlage, die das Gelände des RSV Büblingshausen hell erleuchtet, zu verdanken. Und natürlich dem Kunstrasen, den die Masten in sattem Grün erscheinen lassen.

„Wir stehen hier auf einem Platz der dritten Generation“, sagt Lothar Gersmann, der wie kein anderer in Mittelhessen als Fachmann für das künstliche Geläuf gelten darf. Rund 100 Kunstrasenplätze hat der Diplom-Ingenieur, der sein Büro für Frei- und Sportanlagen im Wetzlarer Blankenfeld betreibt, federführend geplant, ausgeschrieben und die Fachfirmen während der Baumaßnahmen auf die korrekte Ausführung überwacht. Der 62-Jährige weiß fast alles über die verschiedenen Varianten des Allwetterplatzes, der den Vereinen eine Rundumversorgung durch das ganze Jahr bieten soll. Was allerdings auch ein Trugschluss ist, denn wenn die Fläche vereist, ist auch auf einem Kunstrasen Schluss mit lustig. Aber naturgemäß hat die Entwicklung dieses Untergrunds viele Vereine von einigen Sorgen befreit, auch wenn die Finanzierung bis zur Umsetzung schon einmal mehrere Jahre in Anspruch nehmen kann.

Intensive Pflege nötig

Und es keinesfalls so ist, dass ein Kunstrasen nicht gepflegt werden muss. Im Gegenteil. Der in Fußballerkreisen schon lange grassierende Scherz, der Platzwart müsse einen alten Untergrund trotzdem mähen, enthält ein Körnchen Wahrheit. Denn, so weiß Wetzlars Sportamtsleiter Wendelin Müller: „Die Pflege ist das A und O, um die Lebenserwartung möglichst hoch zu halten.“ Dafür hat die Stadt einen Schlepper im Einsatz, an dem ein rund 24 000 Euro teures Spezialgerät festgemacht ist. Dieser arbeitet in vier Schritten: Bürsten stellen zunächst die Halme auf, ehe ein Sauger den Untergrund von Schmutz wie Blätter, Steinchen, Kippen oder Pistazienschalen befreit. Dann werden Sand und Granulat gereinigt wieder abgelegt, ehe nochmals eine Bürste zum Einsatz kommt, die die Halme wieder in Form bringt. Darüber hinaus platzen immer mal wieder Nähte auf oder müssen Unebenheiten beseitigt werden. „Dann kommen“, so Müller, „durchaus auch mal Fachfirmen zum Einsatz.“ Und Lothar Gersmann ergänzt: „Es kommt auf die Belastungsfrequenz und die korrekte Pflege an, wie lange die Vereine Spaß an ihrem Kunstrasen haben.“

Die Lebenserwartung der neuesten Generation betrage bis zu 20 Jahre, ehe man dann großflächig ausbessern müsse. Stressbereiche wie Fünfmeterräume und Elfmeterpunkte verschleißen früher und können punktuell erneuert werden, vergleichbar also mit einem Naturrasenplatz.

„Die wesentlichen Unterschiede“, so der Diplom-Ingenieur, „liegen darin, dass sich in den vergangenen Jahren ungeheuer viel getan hat.“ Die Fasern des Kunstrasens wurden erheblich verbessert. Die Faserbändchen sind verstärkt, sie sind dicker, deshalb auch belastbarer, was aber auch viel mit Chemie zu tun habe. „Insgesamt stellen Witterungsbedingungen und die UV-Belastung oder auch die Frostempfindlichkeit kein so großes Problem mehr dar“, erläutert der 62-Jährige.

Erste Generation

Der Prototyp des Kunstrasens, der beispielsweise Mitte der 80er Jahre bereits am Wetzlarer Klosterwald verlegt wurde, tritt sich im Laufe der Jahre zusammen wie Beton. Die Halme aus Nylon mussten beregnet werden, Wunden und Verbrennungen waren bei Spielerinnen und Spielern trotzdem an der Tagesordnung. Er wurde auf Schotter oder Lava verlegt und hatte keine Federung, keinen Puffer.

Zweite Generation

Auf einer kraftabbauenden 35 Millimeter starken Elastikschicht wurde der Kunstrasenbelag mit Sand verfüllt. Hierdurch wurde das Verletzungsrisiko deutlich reduziert. Dieser Untergrund löste ab Mitte der 90er Jahre die alte, betonharte Variante des Kunstrasens ab, und wurde beispielsweise 1999 in Hohensolms angewandt. Das Garn bestand aus Polypropylen. Zur Benutzung musste der Belag nicht mehr beregnet werden, sodass die Anlagen kein wertvolles Trinkwasser mehr aus dem Netz entnehmen mussten.

Dritte Generation

Seit etwa 2005 (Waldgirmes, Fernwald-Steinbach, Marburg) wurde die sandverfüllte Variante um eine Granulatschicht ergänzt. Hierbei handelt es sich um das umstrittene Gummigranulat Ethylen-Propylen-Dien-Kautschuk (EPDM), das als Verfüllmaterial durch die nach oben ragenden oder auch gekräuselten Halme zu sehen ist.

Was auffällt: Die Kunstrasenplätze neuester Generation haben deutlich längere Haare, wie ein Friseur sagen würde. Bei den Urvätern, wie am Klosterwald, waren die Fasern wesentlich kürzer, „vielleicht einen Zentimeter hoch“, erläutert Gersmann. Wer in diesem Winter auf einem Kunstrasen dritter Generation unterwegs ist, weiß die Errungenschaften der heutigen Zeit zu schätzen. Auch an kalten, nassen Abenden, an denen die Menschen normalerweise nicht einmal ihren Hund vor die Tür jagen würden.



Aufrufe: 014.12.2019, 08:00 Uhr
Alexander Fischer (Gießener Anzeiger / WNZ)Autor