Bereits in der Einleitung bringt der für seine Recherchen und Gespräche weit gereiste Christoph Biermann auf den Elfmeterpunkt, worauf es ankommt: „Die Zukunft im Fußball wird nicht einfach denen gehören, die über die Daten verfügen, sondern jenen, die aus Informationen die besten Schlüsse ziehen“. Eine Überfülle von Zahlen, Daten, Statistiken hat es schon vor über zehn Jahren gegeben. Doch laut Biermann passten die Zahlen und das Spiel nicht zusammen, ja „standen sich teilweise ratlos gegenüber“. Wie sich das verändert hat und wie aus einem scheinbar endlosen Datenmeer konkrete Erkenntnisse für den Erfolg einer Mannschaft, eines Vereins gewonnen werden, ist aufregend, aber auch ernüchternd zu lesen.
Die Erkenntnis, dass Zufall im Fußball eine größere Rolle spielt, als wir wahrhaben wollen, ist nicht neu. Neu hingegen ist, dass Experten den Zufall berechnen und somit dessen Einfluss auf das Spiel entscheidend nutzen können. Zum Beispiel Expected Goals. Das ist der Gesamtwert aus allen Schüssen, die eine Mannschaft im Lauf eines Spiels abgibt - und mit welcher Wahrscheinlichkeit sie ins Tor gegangen wären. Warum lügt die Tabelle doch? Wie hängen Wirtschaftskraft, Personalausgaben und sportliche Leistung zusammen? Weshalb sind Freidenker wie Pep Guardiola so erfolgreich? Was lernen wir von den international führenden Fußballanalytikern? Wie ermittelt das von den Ex-Profis Stefan Reinartz und Jens Hegeler entwickelte Analysesystem „Packing“ aus einer Vielzahl unterschiedlichster Spieldaten einen validen Zusammenhang von Erfolg und Misserfolg? Schlag nach im „Matchplan“!
Bei den badischen Bundesligisten rauchen die kreativen Querköpfe
Die beiden badischen Bundesligaclubs haben in Biermanns neuer Fußballmatrix einen eigenen „Tabellenplatz“. Als der Autor eine Trainingswoche bei 1899-Coach Julian Nagelsmann in Zuzenhausen besuchte, rauchten nicht nur die Köpfe der Profis. Kurz zuvor hatte Hoffenheim bei RB Leipzig gespielt und nach einem 12,9 Sekunden-Konter durch Nadiem Amiri die Führung erzielt. Ein Ergebnis der von Nagelsmann geschätzten „Zickzackeröffnung“. Dabei wird das Spiel von der Mitte aus diagonal nach außen geöffnet und von dort wieder in die Mitte verlagert. Fachbeobachter Christoph Biermann beschreibt die „aufregende Nahsicht“ auf die kreative Arbeit des damals noch nicht 30jährigen Fußball-Lehrers und ist u. a. beeindruckt von den anspruchsvollen, fast nie identischen Trainingsformen auf engstem Raum und vom zukunftsweisenden TSG ResearchLab. Die 31 Prinzipien, auf denen der Nagelsmann-Fußball angeblich basiert, hat der „DFB-Trainer des Jahres 2016“ dem investigativen Journalisten freilich nicht verraten.
Der SC Freiburg ist für den in Herne aufgewachsenen Westfalia-Fan Christoph Biermann gar der „interessanteste Club in Deutschland.“ Interessant vor allem deswegen, weil dort seit dem Ex-Oberstudienrat Volker Finke immer Regelbrecher und Außenseiter am Werk waren. Ob beim Aufbau der berühmten Freiburger Fußballschule, bei der Taktik des ballorientierten Verschiebens, beim Scouting in exotischen Ländern (Georgien, Mali) oder bei der innnovativen Gegneranalyse: Der SC Freiburg kompensiert die finanziellen Defizite durch unkonventionelle Ideen, vorbildliche Talentförderung, badische Gelassenheit und personelle Kontinuität in Vorstand, Trainerteam und Management. So ist der studierte Germanist und Historiker Christian Streich bereits seit 23 Jahren Trainer beim „SC“. Der eigenwillige Chefcoach hat auch in der Saison 2017/18 mit dem Klassenerhalt seiner Mannschaft so manchen ökonomisch weit besser situierten Bundesligisten ein Schnippchen geschlagen und Großclubs wie den VfL Wolfsburg, den Hamburger SV und den 1. FC Köln hinter sich gelassen.
Auch wenn dem Leser bei der Lektüre dieses mit vielen Grafiken und Tabellen angereicherten Buches der Kopf raucht wie den erwähnten „Nagelsmännern“: Die Abenteuerreise in die schöne (?) neue Welt des datenbasierten Fußballs lohnt sich nicht nur für Trainer (auch in der Landesliga werden Lauf- und Sprintleistungen erfasst!) und Spieler, sondern auch für den ambitionierten Fußballfan. Und der findet Trost ausgerechnet bei einem Wissenschaftler.
Antonio Prieti Veloso, Leiter des Labors für Biomechanik und Funktionelle Morphologie der Fakultät für Menschliche Motorik der Universität Lissabon und einschlägiger Intimkenner des fünfmaligen Weltfußballers CR 7 („eine Mischung aus einem neuseeländischen Rugbyspieler und einem dünnen Hochspringer“) kommt nach der Analyse des Fallrückziehers zu dem prosaischen Ergebnis: „Ronaldo trifft nicht, weil er schneller ist, einen härteren Six-Pack hat, weil er höher springt als die anderen. Er trifft, weil er weiß, wo er stehen muss“. Fußball kann ja so einfach sein!