2024-04-25T08:06:26.759Z

WM 2014

Das Spiel ist aus, die Feier auch

KEHRAUS Was am Tage übrig blieb / Ein Nachklapp von Gießens Partymeile

GIESSEN - War was? In der Ludwigstraße unterm Bahndamm liegt am Morgen eine deutsche Fahne, mehr ein Fähnchen, unter den Trümmern einer zerbröselten Bierflasche. Es sieht nicht gut aus für sie. Schwarz-Rot ist sie noch, auf Gold ist das Profil einer Schuhsohle eingebrannt. Na prima, gestern geschwenkt, heute versenkt. Die ist nicht mehr zu retten. Deutschland ist Weltmeister, die Fahne hinüber.

Es war aber auch was los in der Nacht zuvor. Ein quasi nackter Mann, der als rudimentären Schick und Schock so etwas wie einen schwarz-rot-goldenen Stringtanga-Badeanzug für Arme trug, sprang zwischen den Autos herum. Bengalos erleuchteten die Szenerie grenzenlosen Jubels und auf den Leinwänden der Biergärten von Melchiors, Ritzi‘s oder vom Apfelbaum lief Götzes Tor großformatig – immer und immer wieder. Und immer dann, wenn der Ball an Sergio Romero vorbeiflog und im Netz einschlug, brandete der Jubel erneut auf. Und noch einmal und noch einmal.

Drüben im Ritzi‘s hielt Hansi Ahlborn den Weltmeister-Pokal in Händen und ließ ihn nicht mehr los. Er reckte das Duplikat (oder ist es doch echt, der sieht so echt aus) gen Ritzi‘s‘ Decken-Fahnenmeer. Der steht ihm gut, der Pott. Die Musik, aufgedreht und durch gedröhnt, ließ die Fensterrahmen zittern. Viele Trikots älterer und jüngerer Herrn waren schon kurz nach dem Spiel (oder doch davor) bestückt mit dem vierten Stern, der, oft nicht ganz stilecht, in anderem Format wie drauf gepappt erschien.

Der Autokorso der feiernden Gesellschaft verlief wellenförmig. Mal verloren sich zwei hintereinander fahrende Kleinwagen, deren Besatzung sich die Finger wund hupte. Mal kam ein Schwung mehrerer Autos, die das Korsofahren wohl schon vier Wochen lang geübt hatten. Hat halt jeder andere Hobbys. Nachts um halb drei jedenfalls war immer noch die Hölle los auf Gießens Partymeile, die sicher auch von den aus dem Schiffenberger Tal herbei strömenden Fanscharen gefüttert wurde. Die Polizei zeigte lediglich dezente Präsenz am Rande. Was soll man da auch machen? Warum soll man da auch was machen? Es gab ja Grund zum Feiern, da muss man niemand auf die Nase hauen im Tausend-Männer-Frauen-Trubel. Da können die Ordnungshüter entspannt bleiben, mit dem Fähnchem am Motorrad. Auffallend viele Kinder sprangen auch sehr spät noch mit herum. Ob die wohl schulfrei hatten? Vielleicht aber auch nur einmal müde verklebte Augen am Montagmorgen? Was soll‘s. Weltmeister wird man nicht alle Tage.

Die Nacht zum Tag machen nennt man das wohl, dagegen ist Fasching in Gießen ein „Ruh-in-dir-selbst“-Workshop. Jetzt also ist Deutschland Weltmeister. Und Gießen ist irgendwie auch Weltmeister. Und bei den etwas älteren Semestern kam die Erinnerung hoch an 1990. Als die Straßen, so der Eindruck, noch voller waren. Feierbiester, die wir waren. Da war der Mario Götze noch nicht einmal geboren. Jetzt schießt er das Tor.

War was? An den Fenstern hingen gestern Morgen noch ein paar Fahnen. Im Seltersweg stehen ein paar Spezialisten zusammen. Man hört Satzfetzen. „Naja, in der ersten Halbzeit haben sie ja ordentlich gespielt, aber dann war es ja schon eine schwere Geburt.“

Jetzt fangen sie schon wieder an zu analysieren und relativieren. Ach man, Gießen. Das ist dann doch zu viel nach dieser rauschenden (Fuß-)Ballnacht. Das war doch wirklich was.

Aufrufe: 015.7.2014, 10:00 Uhr
Rüdiger DittrichAutor