2024-05-14T11:23:26.213Z

Allgemeines

Landkreis. Diese Zahl hat eine neue Dimension erreicht: Noch nie sind im Fußball-Kreis Stade so viele Mannschaften nicht zu ihren Punktspielen angetreten wie in der Vorsaison. Die Verantwortlichen sprechen von „Bocklosigkeit“ und erhöhen die Geldstrafe.

Michael Koch, Spielausschuss-Vorsitzender, führt akribisch Statistik. Eine seiner Auswertungen enthält knapp tausend einzelne Daten für die vergangene Saison - in erster Linie Disziplinarisches. Daraus geht hervor, wie viele Spielerinnen und Spieler wegen einer Tätlichkeit vom Platz geflogen sind, wie viele Strafen gegen Trainerinnen und Trainer verhängt wurden, wie viele Partien witterungsbedingt abgebrochen wurden und so weiter.

Aber eine Zahl ragt heraus: 71 Spiele sind im NFV-Kreis Stade abgesagt worden, weil Männer- oder Frauenteams nicht zum Punktspiel angetreten sind. In der letzten vollständigen Vor-Corona-Saison (2018/19) waren es nur 55 Nicht-Antritte. "Wir haben gedacht, der Anstieg hängt mit Corona zusammen", sagt Koch, Vorsitzender des Kreisspielausschusses. Corona aber dürfte nur ein Grund gewesen sein.

Denn Koch hat die Zahl der Nicht-Antritte noch genauer aufgeschlüsselt. Das Ergebnis: 64 der 71 Nicht-Antritte entfallen auf die Auswärtsmannschaft, außerdem haben sich 57 der 71 Fälle nach der Winterpause ereignet. Wie alarmierend ist die Entwicklung? Warum haben die Feierabendfußballer keine Lust mehr auf Auswärtsfahrten? Und vor allem: Wie lässt sich gegensteuern?

Bisher ist es so, dass eine Mannschaft zwei Mal pro Halbserie nicht antreten darf, ohne aus dem Spielbetrieb ausgeschlossen zu werden. Wer nicht antritt, verliert das Spiel mit 0:5 am grünen Tisch und muss eine Geldstrafe zahlen. Aufgrund der Corona-Entwicklung, erklärt Koch, sei diese Geldstrafe in den meisten Fällen gesenkt worden - von 50 auf 25 Euro. Und das sei ein "Riesenfehler" gewesen.

Koch sprach das Thema vor den Fußballobleuten aus den Vereinen im NFV-Kreis Stade an. "Es ist geplant, die Geldstrafe von 50 Euro auf 75 Euro anzuheben", schrieb der Funktionär in die Einladung. Doch den Vereinsvertretern war das zu wenig, wie sich bei den Sitzungen in der Sommerpause herausstellte. "Die Obleute ärgern sich selber über das Verhalten ihrer Mannschaften", sagt Koch.

Drei Einzelfälle sind ihm dabei besonders in Erinnerung geblieben: Eine Altherren-Mannschaft - die Vereine sind dem TAGEBLATT bekannt - hat eine Partie abgesagt, weil sie nur acht statt elf Spieler aufbieten konnte. "Der Gegner wollte gerne kicken und hat angeboten, ebenfalls mit nur acht Spielern anzutreten", sagt Koch. Doch darauf ließ sich die Mannschaft nicht ein. "Ein grob unsportliches Verhalten", findet Koch.

Das zweite Beispiel: Eine Altsenioren-Mannschaft trat nicht an, weil sie ohne ihre fehlenden Leistungsträger nicht gegen ein vermeintlich stärkeres Team spielen wollte. "Jeder Spieler hat zehn Euro in die Mitte gelegt. Davon haben sie die Geldstrafe für den Nicht-Antritt bezahlt und vom Rest Barcadi und Cola gekauft."

Und das dritte Beispiel: Die Altsenioren des TVV Neu Wulmstorf sind Meister der 1. Kreisklasse geworden, haben aber nur drei Heimspiele bestritten. Die sechs weiteren Heimspiele haben sie am grünen Tisch gewonnen, weil Gegner wie Bliedersdorf, Dollern oder Himmelpforten dort nicht angetreten sind. "Das ist beschissen", sagt TVV-Obmann Ralf Steffen. "Ich spiele fast 50 Jahre Fußball, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt."

Argumente wie Corona oder personelle Probleme oder die fehlende Bereitschaft, Auswärtsfahrten anzutreten, hält Steffen für vorgeschoben. Vielmehr hätten die Gegner aus einem einfachen Grund nicht in Neu Wulmstorf spielen wollen - "weil wir zu stark waren", sagt Steffen. Das stellte sich bereits zu Saisonbeginn heraus, als Neu Wulmstorf einen Meisterschaftsfavoriten mit 9:1 besiegte. "Da haben bei allen die Glocken geläutet."

Die Verantwortlichen im Verband und in den Vereinen halten die Entwicklung für bedenklich. Wie aus Gesprächen mit Funktionären, Obleuten und Trainern hervorgeht, hat sich die Einstellung im Amateurfußball verändert. "Die Mentalität ist nicht mehr so wie früher, dass man unbedingt auf dem Platz stehen will", sagt Silke Koslowski, Obfrau vom SuSV Heinbockel. Die Hemmschwelle der Spielerinnen, kurzfristig abzusagen, sei gesunken, die Nachricht mit WhatsApp schnell verschickt.

Die Corona-Pandemie könnte diese Entwicklung beschleunigt haben. "Gerade die älteren Spieler haben in der Corona-Zeit gemerkt, dass es auch ohne Fußball geht", sagt Christian Wierzbinski, Obmann vom FSV Bliedersdorf/Nottensdorf. Dazu passt: Auf den Altherren- und Altsenioren-Fußball entfallen 31 der 71 Nicht-Antritte. Ein weiterer Grund: Die älteren Fußballer halfen häufig in der Herren-Mannschaften aus, so wie bei der AHSG Niederelbe. "In der Altherren-Liga spielen wir eh nur um die Goldene Ananas", sagt Betreuer Sascha Janitz. Seine Mannschaft trat drei Mal nicht an.

Im Frauenfußball verzeichnete der NFV-Kreis zwölf Nicht-Antritte. Zwei davon entfielen auf den SuSV Heinbockel. "Bis Corona lief es richtig gut. Wir hatten 42 Spielerinnen auf dem Papier", sagt Obfrau Koslowski. Dann folgte der personelle Einbruch. "Wir haben um jede Spielerin gekämpft, hatten aber nicht genügend Leute auf dem Platz", sagt sie. Und mit nur neun Spielerinnen zum Auswärtsspiel zu fahren, sei nicht gerade förderlich. Also trat Heinbockel auswärts zwei Mal nicht an.

So unterschiedlich die Gründe sind - der Kreisverband wollte etwas ändern und diskutierte mit den Obleuten eine höhere Geldstrafe. "Ich habe mich nur für eine moderate Erhöhung ausgesprochen", sagt Koch, aber den Obleuten sei das zu wenig gewesen. Laut Spielordnung dürfen Strafen zwischen 10 und 1000 Euro verhängt werden. Sie einigten sich auf 150 Euro.

In der Fußballszene gehen die Meinungen auseinander. "Für den ersten Schritt war das die richtige Summe. Ich denke, dass das die eine oder andere Mannschaft motivieren wird, personelle Lücken irgendwie zu schließen", sagt Christian Wierzbinski, Obmann von Bliedersdorf/Nottensdorf. "Ganz ehrlich, ich hätte die Strafe auf bis zu 300 Euro hochgeknackt", sagt Neu Wulmstorfs Obmann Ralf Steffen.

Sascha Janitz von der AHSG Niederlebe ist davon nicht überzeugt: "Am Ende muss der Verein die Geldstrafe zahlen, wenn die Mannschaft das nicht will." Er spricht sich dafür aus, die betroffenen Partien lieber zu verlegen.

Bei besonderen Umständen kann die Geldstrafe reduziert werden. "Wir werden uns den Einzelfall genau ansehen", sagt Koch. Wir, das sind Koch und der jeweilige Staffelleiter. Sollte zum Beispiel eine Mannschaft an den vorherigen Spieltagen bereits mit nur zehn, elf Spielern angetreten sein, "werden wir nicht die Höchststrafe aussprechen", sagt Koch.

Anders könnte die Bewertung ausfallen, wenn eine Mannschaft am Spieltag zuvor noch 16 Spieler aufbieten konnte und eine Woche später nicht antritt. "Dann wissen wir, dass im Verein wahrscheinlich etwas falsch gelaufen ist", sagt Koch. Die Mannschaft müsste zusehen, dass sie Spieler aus anderen Teams im Verein rekrutiert, um die Höchststrafe zu vermeiden.

Auch wenn es keine objektiven Kriterien für die Bewertung der Einzelfälle gibt, hält Silke Koslowski vom SuSV Heinbockel die neue Herangehensweise für eine gute Lösung: "Michael (Koch) kann seine Pappenheimer gut einschätzen." Auch andere Trainer und Obleute glauben, dass das die eine oder andere Mannschaft motivieren könnte, Spiele nicht vorschnell abzusagen.

Koch betont, es gehe nicht darum, den Vereinen ins Portemonnaie zu greifen. "Ich möchte nur den Druck erhöhen, dass man auch mit ein oder zwei Spielern weniger losfährt", sagt er. Ihm geht es ausdrücklich um das Spiel: den Fußball.

Aufrufe: 018.9.2022, 09:00 Uhr
Tageblatt / Von Tim ScholzAutor