2024-05-02T16:12:49.858Z

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Lieben den Straßenfußball: Albion Vrenezi (r., 1860), Ünal Tosun (Türkgücü) und Rüdiger Heid.
Lieben den Straßenfußball: Albion Vrenezi (r., 1860), Ünal Tosun (Türkgücü) und Rüdiger Heid. – Foto: Achim Frank Schmidt

Rudi und das Wunder vom Bolzplatz: Bei ihm kickten Stars wie Robert Glatzel oder Albion Vrenezi

Bei „buntkicktgut“ geht es um viel mehr als nur den Sieg

Rudi Heid ist auf den Münchner Bolzplätzen eine Legende. Seit Mitte der 90er-Jahre engagiert sich der 66-Jährige für Flüchtlinge, die kicken wollen.

München – Es wird gezaubert. Ein Doppelpass, ein Schuss ins linke Eck. Und alle rasten aus. Nicht bei einem Spiel der Weltmeisterschaft. Nein, viel wichtiger, die Harras Ladies haben gerade getroffen. Auf der Tribüne steht nicht Gianni Infantino im Anzug, an der Seitenlinie steht Rüdiger Heid – Jeanshose, schwarze Trainingsjacke. In keinem temperierten Stadion in Katar, sondern in der Görzerhalle in München. „Das ist unsere legendäre Halle“, sagt Heid, Chef und Gründer der interkulturellen Straßenfußballliga „buntkicktgut“: „Hier werden Legenden geboren.“ Dann eilt er zu den nächsten Teams, gleich spielen die Kieferngarten Allstars und die Brancos.

Rückblick: Heid arbeitete Mitte der 90er-Jahre zunächst ehrenamtlich in einem Flüchtlingsheim in Aubing. Später kümmerte er sich in einer Gemeinschaftsunterkunft am Harras um 150 Kinder und Jugendliche. „Ich habe mit engagierten Kollegen erkannt, dass wir sie über den Fußball am besten erreichen können“, erzählt Heid. „Mit diesem Medium lassen sich unterschiedliche Nationen und Kulturen zu einem Team, zu einer kleinen Fußball-Gang, zusammenschweißen.“ Über 50 Flüchtlingsheime schrieb Heid damals an – mit der Empfehlung, auch ein Fußball-Team zu gründen. 1997 entstand daraus die erste Straßenfußballliga für Flüchtlingseinrichtungen. Eigentlich war es nur als kurzlebiges Projekt für eine Sommersaison gedacht. Aber Heid, der jahrelang in der Stadt- und Sozialgeografie arbeitete, erkannte schnell, welches Potenzial in diesem Ansatz lag. Er weitete die Flüchtlingsarbeit auf die Stadtteilarbeit aus.

„Manche hatten nicht viel, aber wir alle hatten den Fußball.“

Albion Vrenezi erinnert sich an seine Zeit bei buntkicktgut

„Wir sind dahingegangen, wo die Kinder sind. Auf den Bolzplätzen.“ Von renommierten Institutionen wie „Refugio“ bekam Heid bescheinigt, dass der Fußball bei traumatisierten Kindern oft eine stärkere Wirkung hat als andere Therapieformen. „Fußball hat eine eigene Sprache. Fußball kann Verständigung sein, wenn man ihn richtig anwendet“, sagt Heid.

Der Mann für alle Fälle: Rüdiger „Rudi“ Heid. B
Der Mann für alle Fälle: Rüdiger „Rudi“ Heid. B – Foto: BUNTKICKTGUT

Im Dezember 2021 sitzen Ünal Tosun und Albion Vrenezi in einem Café auf der Schwanthalerhöhe. Nur wenige hunderte Meter von der buntkicktgut-Zentrale entfernt. Die Penne Westend sei damals schon legendär gewesen, erzählen sie. Vrenezi wurde im Kosovo geboren, merkte auch als kleines Kind, dass etwas nicht stimmte, als er nicht mehr draußen spielen durfte. Im Alter von vier Jahren zog er mit seiner Mutter und dem Bruder weg vom Krieg nach München. Ein paar Jahre später fragte ihn sein Freund Murat in der Schule, ob er nicht auch Straßenfußball spielen möchte: „Er meinte: ´Du bist gut, komm zu uns!´ So hat alles angefangen.“ Vrenezi lernte seine meisten Freunde bei buntkicktgut kennen. Alle hatten eine ähnliche Vorgeschichte: „Manche hatten nicht viel, aber wir alle hatten den Fußball.“ Tosun sagt: „Wenn man nach Deutschland kommt und vielleicht noch nicht so gut integriert ist, findet man bei Rudi einen Unterschlupf.“

buntkicktgut: Albion Vrenezi und Ünal Tosun kickten gemeinsam auf den Bolzplätzen in München

Als Kinder spielten Vrenezi und Tosun auf den Bolzplätzen Münchens zusammen. 15 Jahre später kickten sie wieder gemeinsam, aber im Olympiastadion, für Türkgücü München, in der 3. Liga. Doch Türkgücü, der aufstrebende Verein mit großen Zielen war noch nicht bereit für den Profifußball, musste Insolvenz anmelden. Ein Jahr später spielt Tosun wieder für Türkgücü, in der Regionalliga. Vrenezi hat sich 1860 angeschlossen.

Bei ihm funkeln heute noch die Augen, wenn er sich an seine Zeit bei buntkicktgut erinnert. Der heute 29-Jährige ging auf die Carl-von-Linde-Realschule. Er musste damals nur einmal über die Ampel „und schon war ich bei Rudi. Es war nicht einfach nur kicken und dann ging es wieder nach Hause. Wir haben auch abends geschaut, ob bei Rudi im Büro noch Licht gebrannt hat. Und das Licht hat eigentlich immer gebrannt. Da hat man schon von der Straße gesehen: Rudi ist da.“

„Pro Woche bewegen wir weit über 1000 Kinder und Jugendliche alleine in München.“

buntkicktgut-Gründer Rudi Heid.

Heid ist auch Mitte Dezember dieses Jahres da, er sitzt in seinem Büro, der Kommandozentrale. An den Wänden hängen Trikots von Spielern, die er früher in München trainierte und die mittlerweile Profis sind. Und ein Bild mit Pelé. Einen Raum weiter füllt eine Stadtkarte von München nahezu die gesamte Wand. Stecknadeln zeigen an, wo es überall in München Bolzplätze gibt. „Pro Woche bewegen wir weit über 1000 Kinder und Jugendliche alleine in München“, sagt Heid. Von der U11 bis zur Ú17 gibt es verschiedene Ligen, die Spieltage sind am Wochenende. Für jeden Spieltag gibt es einen Tagessiegerpokal, die besten Teams können sich für die Champions League am Ende jeder Saison qualifizieren.

Doch die Arbeit geht weit darüber hinaus. „Zum Konzept gehört, dass feste Strukturen entstehen. Die Kinder brauchen Orientierung und Bezugspersonen“, sagt Heid. Zahlreiche „School- und Streetfootballworker“ sind auf die Stadtviertel verteilt. Immer mehr Schulen fragen für Pausentraining oder Nachmittagsbetreuung an. „Probleme, die im Klassenzimmer, auf dem Pausenhof oder in den sozialen Medien entstehen, können durch den Fußball mit unserem Konzept aufgefangen werden“, sagt Heid. Ein Konzept, das mittlerweile auch an Standorten wie Berlin, Ludwigshafen oder Hamburg angeboten wird. Heid beschäftigt sechs Koordinatoren, eine Mitarbeiterin in der Verwaltung, fünf Azubis, sechs Praktikanten und acht Bundesfreiwilligendienstler.

„Wenn man was gebraucht hat, haben viele immer aus Spaß gesagt: Dann geh doch zu Papa. Weil Rudi für jeden da war.“

Albion Vrenezi über Rudi Heid.

Wenn Heid etwas auf seinem Handy zeigt, ploppen Nachrichten aus einem Dutzend verschiedenen Whats- App-Gruppen auf. Das Büro von Heid ist Anlaufstelle für alle Themen. Für Alessandro, der extra von der Bushaltestelle bis zu Rudi gesprintet ist, damit er es rechtzeitig zum Treffpunkt fürs Turnier schafft. Für einen Mitarbeiter, der seinen Reifen flicken muss. Mit Koordinator Läm muss die Weihnachtskarte besprochen werden. Und dann ist noch die Redaktionssitzung für den buntkicker, ein eigenes Straßenfußballmagazin. „Bei uns gibt es keine Stechuhr“, sagt Heid. Es komme häufig vor, dass auch um 23 Uhr noch Nachrichten in den Koordinationsgruppen geschrieben werden. „Rudi war damals gefühlt 16 Stunden pro Tag mit buntkicktgut beschäftigt“, erinnert sich Vrenezi. „Wenn man was gebraucht hat, haben viele immer aus Spaß gesagt: Dann geh doch zu Papa. Weil Rudi für jeden da war. Viele Menschen wollen sich von Stress fernhalten. Rudi ist da anders. Er will deinen Stress. Er will dir helfen.“

Wenn in der Halle mal wieder Schuhe verschwunden sind, wird nicht sofort eine Anzeige geschaltet. In 90 Prozent der Fälle bekomme man raus, wer die Schuhe geklaut hat, sagt Heid. „Oft macht die Mannschaft demjenigen aus ihrem Team dann selbst Druck, weil sie wieder Fußball spielen und nicht gesperrt werden wollen.“ Wird ein Spieler gesperrt, muss er einen Brief an den Liga-Rat (bestehend aus allen Schiedsrichtern) schreiben. Mit Briefkopf, Entschuldigung und Ausführungen, wie man die Situation lösen kann. Erst dann darf er wieder spielen.

Vrenezi spielte damals bei den legendären Harras Bulls. Ein Team, das auch über die Landesgrenzen hinaus Turniere gewann. Seine Mitspieler hießen Robert Glatzel (Hamburger SV) oder Liridon Krasniqi (Khon Kaen United, thailändische erste Liga). „Wir wollten die Besten im Straßenfußball sein“, sagt Vrenezi: „Und das ist uns meistens auch gelungen. Was der FC Bayern in der Bundesliga war, waren wir auf der Straße.“

„Es geht um die Ehre. Beim Straßenfußball spielst du einfach aus der Seele raus.“

Ünal Tosun.

Wenn die Teams von der Schwanthalerhöhe gegen Teams aus Laim oder Neuhausen spielen, dann geht es nicht um drei Punkte. „Es geht um die Ehre“, sagt Tosun. „Es war auch immer ein bisschen Viertel gegen Viertel. Das hat das ganze besonders gemacht.“ Auf der Straße spielt man nicht im 4-2-3-1, es gibt keine Taktik, an die man sich halten muss. Es ist das freie Spiel mit dem Ball, das begeistert. Die Kreativität, einen Spieler da zu sehen, wo ihn andere vielleicht nicht sehen. Sich einfach mal was zu trauen. Das habe er mit in den „normalen Fußball“ genommen, sagt Vrenezi. „Beim Straßenfußball spielst du einfach aus der Seele raus“, sagt Tosun.

Heid fallen hunderte Geschichten von ehemaligen Spielern ein. Da gibt es Krasniqi, der 2008 auf einem Festival in Basel die Trikots der Harras Boys an ein brasilianisches Team verscherbelte. Bei 1860 nahm Krasniqi unter falschem Namen am Probetraining teil, überzeugte die Trainer so sehr, dass er trotzdem bleiben durfte. Zumindest, bis er einige Monate später wieder rausgeworfen wurde. „Liridon ist bei uns zum Hero geworden, zum Bolzplatzhelden. Er ist ein Mythos. Die Jungs kennen ihn heute noch.“

Held über Savio Nsereko (SK Srbija München): „Es war ein Traum, ihm zuzuschauen“

Wenn ein Profi, der bei buntkicktgut groß geworden ist, trifft und sich an seine Jugend zurückerinnert, dann sind das die besonders schönen Momente für Heid. Rückschläge gab es für ihn immer wieder mal im persönlichen Bereich. Geschichten, die nicht gut ausgegangen sind. Wenn er sich über Monate für einen Jugendlichen eingesetzt hatte und dieser dann trotzdem den Drogen verfiel oder im Gefängnis landete. Heid musste lernen, damit umzugehen. Er erzählt von Savio Nsereko. „Er kam aus Uganda, wir haben ihn Dadi genannt. Seine Ballverliebtheit hat mich begeistert. Es war ein Traum, ihm zuzuschauen. Er hatte mit zehn Jahren schon eine Ballbehandlung, die ich von keinem kannte.“ Nach Profi-Stationen bei 1860, West Ham United oder auch Brescia Calcio täuschte Nsereko später seine Entführung vor, um die eigene Familie zu erpressen. Heid zeigt auf einen der vielen Ordner. Dort hat er den Weg Nserekos dokumentiert.

Heid kommt aus der Nähe von Stuttgart. Sein Herz schlägt für den VfB und die Harras Bulls. Danach kommt erst mal lange nichts. Irgendwann in seinem Leben entschied er sich dazu, keine private, sondern mit buntkicktgut eine viel größere Familie zu gründen. Erst hatte er die Rolle eines großen Bruders, dann eine väterliche Rolle. „Und vielleicht wird jetzt bald eine großväterliche daraus“, lacht der 66-Jährige. Wenn Heid am Stachus entlangläuft, kommt von überall ein „Hey Rudi, kennst du mich noch?“.

„Rudi hat uns geholfen, dass wir frei sein konnten, frei spielen konnten, aber trotzdem alles im Rahmen bleibt. Er hatte immer ein Auge auf uns.“

HSV-Torjäger Robert Glatzel.

Heid kann sich nicht an alle erinnern, aber alle erinnern sich an Rudi. Natürlich gibt es auch die Phasen, in denen alles mal zu viel wird. Heid setzt sich dann ans E-Piano oder fährt in die Berge. Die Frage „Wofür mache ich das jetzt eigentlich alles?“ hat er sich schon gestellt. „Bei der Situation von neu ankommenden Flüchtlingen kann ich in den letzten zwanzig Jahren keine entscheidenden Verbesserungen erkennen“, sagt Heid. Buntkicktgut könne an den Symptomen arbeiten, aber keine Wurzelbehandlung durchführen.

Doch es ist die Arbeit mit den Kindern, die Spieltage, die ihm wieder Kraft geben. Heids Spezialität, davon erzählen viele, ist es, nach erfolgreichen Turnieren immer so zu tun, als würde er am McDonalds vorbeifahren. „Meistens ist er dann aber doch wieder umgedreht. Außer er war mal richtig sauer auf ein paar Jungs“, sagt Vrenezi. „Rudi hat uns geholfen, dass wir frei sein konnten, frei spielen konnten, aber trotzdem alles im Rahmen bleibt. Er hatte immer ein Auge auf uns“, sagt Glatzel.

Über Weihnachten ist Heid ins Allgäu gefahren. Aber nur für ein paar Tage. Dann brennt bei Rudi wieder Licht. (NICO-MARIUS SCHMITZ)

Aufrufe: 02.1.2023, 10:12 Uhr
Nico-Marius SchmitzAutor