Es war eine Nachricht, die für Aufsehen sorgte. „Oberliga statt Liverpool“ frohlockte ein bekanntes Boulevardblatt voyeuristisch im Sommer 2021 über den Wechsel eines jungen Fußballers, dem einmal eine große Zukunft vorausgesagt wurde. Nun ist Samed Yesil schon seit 2016 nicht mehr Teil des großen FC Liverpool, spielte zwischenzeitlich in der Türkei, in Homberg und Krefeld, aber dass ein einstiges Supertalent beim erst 2020 in die fünfte Liga aufgestiegenen Dorfverein DJK Teutonia St. Tönis anheuerte, verursachte Stirnrunzeln in der Branche. Warum gerade dort?
Antworten finden sich nur acht Kilometer südlich der St. Töniser Jahnsportanlage. Im Willicher Gewerbegebiet Münchheide ist seit 2014 die Kick Group auf rund 5000 Quadratmetern zuhause. Die Maschinenbaugruppe fertigt mit ihren spezialisierten Firmen und Tochtergesellschaften in mehreren Ländern Europas Produktionsanlagen und Filtersysteme für die chemische und die Stahlindustrie, die weltweit vertrieben werden. Zwischen 32 und 35 Millionen Euro erwirtschaftet sie damit jährlich. Das Besondere: Rund 35 der 180 Mitarbeiter waren oder sind noch für den Fußballverein aus St. Tönis aktiv. Einige weitere kicken bei anderen Vereinen aus der Region oder sind Leichtathleten. Samed Yesil macht gerade eine Ausbildung, auch Innenverteidiger Ioannis Alexiou, früherer in Griechenlands erster Liga aktiv, arbeitet hier, Kapitän Kevin Breuer als Chefcontroller Logistik. Export- und Vertriebsleiter ist der nunmehr 40-jährige Jochen Höfler, der zu Zweitliga-Zeiten beim FSV Frankfurt, später bei Red Bull Leipzig unter Vertrag stand. Dabei kam er nur mit einer Schlosserausbildung zur Kick Group. Seit kurzem ist im Warenversand auch ein Mann tätig, den viele Fußballfans nur eingehüllt in ein Elefantenkostüm und unter dem Namen „Bossi“ kennen.
Sie alle haben ihre Jobs wegen eines Mannes: Geschäftsführer Holger Krebs hat die erste Firma der Kick Group, die KSI Filtertechnik, 1996 in einer Garage in Tönisvorst gegründet. Da war er gerade einmal in seinen Zwanzigern. Schon damals sei es sein Ansatz gewesen, die Firma eng mit dem Sport zu verzahnen. „Wir haben uns schon immer Mitarbeiter im sportlichen Umfeld gesucht, sie aus dem Fußballnetzwerk gezogen. Denn man kannte den Menschen“, sagt Holger Krebs, der seit 1999 auch als Funktionär im Fußball wirkt.
14 Jahre lang lenkt er nun schon die Geschicke seines Heimat- und Jugendvereins Teutonia St. Tönis. Und das äußerst erfolgreich. Innerhalb von acht Jahren gelang dem Klub der Durchmarsch von der Kreisliga B vier Etagen höher in die Oberliga – der letzten Schwelle zwischen Amateur- und Profifußball. Aber er tut das nicht alleine und nicht in der ersten Reihe. Er ist nicht Präsident des Vereins, nicht einer der Sonnenkönige, wie es sie im Amateurfußball so oft gibt. Er ist nur einer von drei Teammanagern, kümmert sich mitunter um die Zusammenstellung des Kaders. Und das, obwohl er mit seinen Unternehmen rund ein Drittel des Saisonbudgets der Fußballabteilung bei Teutonia finanziert. Das Rampenlicht hat er noch nie gesucht. Er sagt Sätze wie „Ich sehe mich nicht als Mäzen.“ Nicht er, Holger Krebs, sei alleiniger Architekt des so erstaunlichen St. Töniser Erfolgsweges. „Das ist bei Teutonia wie auch bei meiner Kick Group auf mehreren Schultern verteilt“, sagt er bescheiden. Es komme vor, dass er bei strategischen Entscheidungen mit Abteilungsleiter Markus Hagedorn nicht einer Meinung sei, „meist finden wir dann eine gemeinsame Lösung“.
Nun gibt es zahlreiche Geschichten über Mäzene, die den Fußballern des Vereins, in denen sie die Macht übernommen haben, eine Alibi-Beschäftigung in ihrem Unternehmen verschaffen. Holger Krebs dagegen dreht den Spieß um. Natürlich trage er viel Liebe für den Fußball und den Vereinssport in sich, er sei Fan. Das spiele für das Sponsoring bei Teutonia St. Tönis, dem KFC Uerdingen, dem FC Wegberg-Beeck, dem SV Straelen, oder dem Eishockeyklub Krefeld Pinguine sicherlich auch eine Rolle. Um einen besseren Absatz seiner Maschinen gehe es jedenfalls nicht. Dennoch profitiert die Kick Group von ihrer Präsenz im Sport. Holger Krebs hat sich über die Jahre ein Netzwerk aufgebaut und akquiriert Mitarbeiter für sein Unternehmen. „Wir sehen, dass es interessant ist, aus diesem Kreis Leute zu gewinnen, Ausbildungsstellen mit ihnen zu besetzen“, sagt Krebs.
Denn einerseits sei das Klischee des Fußballers, der nur gut mit dem Ball umgehen könne, aber nichts im Kopf habe, längst überholt – viele der Fußballer bei Teutonia hätten einen höheren Bildungsgrad. Vor allem aber vertritt Krebs die Ansicht, dass der Fußball und der Vereinssport generell Menschen mit Werten und Eigenschaften sozialisiert, die für jedes Unternehmen wertvoll sind: Mut, Erfolgshunger, Disziplin, Verlässlichkeit. Diese Qualitäten seien in Zeiten des Fachkräftemangels wichtiger denn je. „Es gelingt fast immer, aus vernünftigen Menschen auch gute Mitarbeiter zu machen“, sagt er. Der Lebenslauf sei da zweitrangig. „Qualifikationen kann man immer hinterherschieben.“
Und auf der anderen Seite ist es auch ein Geheimnis des Erfolges von Teutonia St. Tönis. Namhafte und talentierte Spieler wechseln zum kleinen Dorfverein, weil sie bei der Kick Group eine langfristige berufliche Perspektive über die Zeit des Fußballs hinaus geboten bekommen, obwohl sie bei anderen Klubs ein höheres Honorar bekommen würden. So erzählt es zumindest Holger Krebs: „Sicherlich ist das beim Wechsel zu Teutonia ein Mosaikstein für Jungs wie Yesil. Mit vielen Vereinen in der Liga können wir finanziell nicht mithalten. Wir gehen mit einem besseren Landesliga-Etat durch die Saison.“ Ausnahmen für die Fußballer im Unternehmen gebe es keine, schon für das Binnenklima unter den Angestellten. „Sie müssen eher eine Schippe gegenüber den anderen drauflegen“, sagt Krebs. Die Kick Group sei auf Langfristigkeit ausgelegt, darauf, Mitarbeiter genau auszuwählen, um das spezielle Know-How in der Firma zu halten, das sie in manchen Bereichen weltweit wettbewerbslos mache.
Langfristiges Denken und Kontinuität, das gilt auch für die Ausrichtung von Teutonia St. Tönis. Er bezeichne den Klub gerne als „gut organisierten Dorfverein“, in dem es familiär und menschlich zugehe, ohne zu viel Druck von außen. Viele Spieler blieben über etliche Jahre in St. Tönis, weil sie dort Freunde und Zusammenhalt fänden, sich zu Charaktertypen entwickeln, sagt Krebs. Aber da sind auch die Expertise und das Netzwerk der handelnden Personen. Die anderen beiden Teammanager, Udo Schüler und Werner Fuck, sind Kenner des Fußballs am Niederrhein, seit Jahrzehnten sind sie bei Vereinen der Region tätig. Und Holger Krebs ist viel mehr als ein Firmenchef und enger Freund von Hermann Tecklenburg, Präsident des SV Straelen. Denn dass die beiden sich kennengelernt haben, ist einer Episode beim KFC Uerdingen geschuldet.
Über Holger Krebs muss man wissen, dass er glühender Fan des KFC Uerdingen war, jahrzehntelang kaum ein Heim- oder Auswärtsspiel verpasste, auch viele Uerdinger Fans, die er aus dieser Zeit kennt, arbeiten heute bei ihm in der Firma. 1999 stellte er auf einer Mitgliedsversammlung dann so viele kritische Fragen, dass ihm ein Vorstandsposten angeboten wurde. Doch schnell merkte er, dass es beim Traditionsverein wenig Veränderungswillen nach dem Ausstieg der Bayer AG gab, vor allem der Verwaltungsrat ihm und anderen beim Versuch, den Klub neu aufzustellen, Steine in den Weg legte. Über seine Zeit in der Führungsriege sagt Krebs heute: „Wenn man die negativen Seiten des Profifußballs hautnah miterlebt, verliert man irgendwann die Lust. Ich habe mich aufgerieben.“ Er entfremdete sich und besuchte sieben Jahre lang die ehrwürdige Grotenburg nicht mehr.
Während Krebs zu Teutonia St. Tönis zurückkehrte und dem Klub zu einem steilen Aufstieg aus den Amateurniederrungen verhalf, ging es mit dem KFC seitdem weiter bergab. Nach Chaosjahren unter dem Russen Michail Ponomarew und einer Insolvenz taumelt der einst so stolze Klub der Oberliga entgegen. Der Liga, in der der kleine Nachbar aus St. Tönis spielt. Als er noch beim KFC Uerdingen tätig war, gab es einmal ein Freundschaftsspiel mit Teutonia und „eine richtige Rutsche“, erinnert sich Krebs. Doch die Zeiten haben sich geändert. Anfang Januar dieses Jahres gab es während der Wintervorbereitung wieder ein Testspiel an der Jahnsportanlage. Teutonia gewann 1:0, das Siegtor gegen seinen früheren Verein erzielte: Samed Yesil. Schon zuvor begann sich das Kräftegleichgewicht zu verschieben. Seit sich das Stadion der Krefelder im Umbau befindet, gibt es auch einen akuten Mangel an Trainingsplätzen. Die Mannschaft tingelte seitdem zum Trainieren zu anderen Amateurplätzen. Krebs gewährte ihnen 2018 aus alter Verbundenheit Asyl und eine kostenlose Nutzung der Plätze in St. Tönis, bis der KFC mit der kurzfristigen Absage eines Testspiels diese Willkommenskultur mit Füßen getreten haben soll. Dennoch habe man sich wieder angenähert, sagt Krebs. Er war es auch, der mit seiner Kick Group nach der Insolvenz des KFC in die Bresche sprang und mit dem neuen Verein einen Sponsoring-Vertrag abschloss.
Auch einer Uerdinger Kultfigur gewährte Krebs Obdach. Andreas Bosheck alias „Bossi“, der Darsteller des Grotifanten, dem einstmals bekanntesten Maskottchen Deutschlands, bot Krebs einen Job bei sich im Warenversand an, nachdem der KFC so verzweifelt war und ihn im Zuge der Insolvenz vor die Tür setzte. Diese Anekdote um den berühmten Plüschelefanten steht ein Stück weit symbolisch für die fußballerische Zeitenwende stehen, die sich in der Region andeutet.
Kann der kleine Dorfverein aus St. Tönis dem großen KFC Uerdingen etwa den Rang ablaufen? „Ich glaube nicht, dass wir dem KFC Uerdingen die Stellung in der Region streitig machen“, sagt Holger Krebs zurückhaltend, der Verein habe aufgrund seiner Erfolgsjahre einen festen Platz im Herzen vieler Menschen am Niederrhein, so eine emotionale Bindung müsse über Jahre wachsen. Was die Zuschauerzahlen und die Attraktivität für Sponsoren betreffe, sei der KFC in ganz anderen Sphären unterwegs, „aber wir bei Teutonia sind sehr stolz, diesem Klub sportlich auf Augenhöhe begegnen zu können.“
Und das gilt auch für den Jugendbereich. Die Fusion mit dem SV St. Tönis steht noch bevor, sie ist zur Saison 2022/23 geplant. Der neue große Verein mit rund 1800 Mitgliedern könnte dann bald über drei Rasen- und zwei Kunstrasenplätze verfügen und Sportclub heißen. Auf Jugendebene gibt es den Zusammenschluss in Form einer Spielgemeinschaft mit 34 Juniorenteams bereits seit zwei Jahren. Die B-Junioren sind gerade in die Niederrheinliga, die zweithöchste Spielklasse aufgestiegen. Neben dem KFC Uerdingen heißen die Gegner Rot-Weiss Essen oder MSV Duisburg.
Kann es mit der ersten Mannschaft irgendwann über die Oberliga hinausgehen? Krebs sagt dazu: „Ich glaube schon, dass wir irgendwann eine Mannschaft zusammenstellen können, die oben mitspielt. Aber für die Regionalliga brauchen wir andere Rahmenbedingungen.“ Nämlich einen anständigen Kabinentrakt und vor allem eine Tribüne, damit Zuschauer auch von außerhalb und bei schlechtem Wetter ins Jahnstadion kommen, mit der Zeit zu Fans werden und für den Verein mehr Einnahmen generieren. Und da sei auch die Stadt gefragt. „Teutonia ist das Aushängeschild von Tönisvorst, da muss man auch in die entsprechende Infrastruktur investieren“, sagt Krebs.
Erst einmal freut sich Holger Krebs aber auf nächste Saison und die Spiele gegen seine alte Liebe, den KFC Uerdingen. Ob man „Bossi“ als Grotifanten dann auf dem Rasen des St. Töniser Stadions sehen werde? „Vielleicht ja in einem St. Töniser Schlangenkostüm“, sagt Krebs lachend, „nein, ich glaube nicht, dass wir ihn bekehren können.“