2024-04-30T13:48:59.170Z

Interview der Woche
Markus Schmid erläutert im Interview seine detaillierte Sicht bezüglich der Nachwuchsausbildung in Deutschland. Foto: Nils Eden Philippka-Sportverlag
Markus Schmid erläutert im Interview seine detaillierte Sicht bezüglich der Nachwuchsausbildung in Deutschland. Foto: Nils Eden Philippka-Sportverlag

Technik vor Taktik

Badischer Fußballverband +++ Markus Schmid über die gute, aber dennoch verbesserungswürdige Nachwuchsförderung im deutschen Fußball

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Die Nachwuchsförderung im deutschen Fußball hat nach dem WM-Aus der Nationalmannschaft im vergangenen Sommer reichlich Kritik einstecken müssen. Mehmet Scholls "Rundumschlag" Ende 2017 erhielt damit neue Nahrung, als er im Wortlaut sagte, "die Kinder bekommen auch nicht mehr die richtigen Hinweise, warum ein Pass oder ein Dribbling nicht gelingt. Stattdessen können sie 18 Systeme rückwärtslaufen und furzen."

Markus Schmid, DFB-Stützpunktkoordinator im Badischen Fußballverband, erläutert im Gespräch seine Sicht der Dinge. Er sieht dabei die Technik des Einzelnen als unabdingbare Grundlage vor mannschaftstaktischen Inhalten

Herr Schmid, steckt der deutsche Fußball in der Krise?

Markus Schmid: Ich bin kein Freund von Extremen. Auf Vereinsebene sind wir im Spitzenfußball laut dem UEFA-Koeffizienten hinter England, Spanien und Italien die Nummer vier. Unsere Nationalmannschaft hat in der vergangenen Dekade im Vergleich zu allen anderen Teams die größten Erfolge erzielt. Das Aus bei der WM in Russland kann keinesfalls mit dem desaströsen EM-Scheitern 2000 verglichen werden, denn damals standen mit Sebastian Deisler und Michael Ballack nur zwei Spieler, die 25 Jahre alt oder jünger waren, im Kader. Bei der WM in Russland waren es 8 Spieler. Beim letzten sehr erfolgreichen Länderspiel gegen Holland waren es 15 von 25 Spielern. Das zeigt doch, aktuell kommen immer noch genügend junge Spieler mit Potenzial nach. Daher sehe ich keine akute Krise. Es ist wichtig, sich ständig zu hinterfragen und neue Entwicklungsstufen anzustreben, eine Revolution wie vielfach gefordert, ist sicher nicht nötig - eher eine Evolution wie auch unser Sportlicher Leiter Nationalmannschaften Joti Chatzialexiou zuletzt formulierte.

Die Engländer und Franzosen machen es in der Talentausbildung besser.

In den letzten zehn Jahren, haben alle neidisch auf das deutsche Nachwuchssystem geschaut. Vielleicht mögen uns die Engländer und Franzosen überholt haben. Wenn ich bspw. einen Kylian Mbappé von Paris und Raheem Sterling von Manchester City nehme, und das sind nicht die einzigen in diesen Ländern, ist das eine extrem hohe Qualität an der Spitze. Allerdings haben wir auch einige junge, entwicklungsfähige Spieler, die in Spitzenvereinen zum Stammpersonal gehören.

Vor kurzem hat die U21 gegen den hochgehandelten Nachwuchs der Franzosen unentschieden gespielt, gegen die Engländer gewonnen. Jetzt lassen sie mal noch einen Havertz, Sané, Werner, Kehrer oder Brandt, die allesamt fester Bestandteil der A-Nationalmannschaft sind und für die U21 noch auflaufen dürften, mitspielen. Das sind Spieler, um die uns Europa beneidet. Wir stehen also nicht weit hinter diesen Nationen.

Sandhausens U16 und die SGK Heidelberg U17 im Verbandsliga-Spitzenspiel. Foto: bz

Nach dem WM-Aus hat die Kritik an der generellen Ausbildung in Deutschland zugenommen. Kern der unzähligen Aussagen ist die Fokussierung auf Taktik im Jugendbereich und weniger auf die individuellen Fähigkeiten. Wie erreichen der DFB, seine Verbände sowie Vereine die nächste Entwicklungsstufe in der Ausbildung?

Zunächst muss allen Beteiligten klar werden, dass die genannten Institutionen zusammen in einem Schiff sitzen und die Segel nicht in verschiedene Richtungen setzen sollten. Dies ist auch ein zentrales DFB-Anliegen.
Nun zur inhaltlichen Trainingsausrichtung: Schwerpunktmäßig Mannschaftstaktiken zu trainieren ist nicht das Kernproblem. Es ist lediglich das Symptom. Die eigentliche Ursache liegt in der Fokussierung auf Wettkämpfe und deren Ergebnisse. Die Wettkämpfe müssen der individualorientierten Ausbildung dienen und nicht umgekehrt. Es darf nicht vorrangig um Wettkampfergebnisse im Kinderfußball gehen. Bitte nicht falsch verstehen, wenn ich auf dem Platz stehe, muss ich auch gewinnen wollen. Es geht aber darum, dass Kinder mit dem Fußball beginnen der Tätigkeit wegen und nicht, um Ergebnisse einzufahren. Und das ist auch gut so. Hier muss teilweise auch ein Umdenken von Seiten der Eltern, der Trainer und Vereinsfunktionäre erfolgen.

Mein Eindruck ist, dass es durch den Ergebnisfokus um taktische Fehlervermeidungsstrategien geht. Lassen sie bspw. mal einen mutigen Spieler vor dem eigenen Tor ein Dribbling durchführen. Das Geschrei auf und neben dem Feld ist groß. Das ist der falsche Ansatz. Eine Strategie wäre, an Spielnachmittagen viele parallel stattfindende Kleinfeldspiele vom 3 gegen 3 bei den Bambinis bis zum 7 gegen 7 bei den D-Junioren durchzuführen. Hier haben Spielsysteme und mannschaftstaktische Konzepte eine weitaus geringere Bedeutung als in den Großfeldspielen. Außerdem werden wir dadurch ausgeglichenere Spiele sehen, von denen jedes Kind, egal ob stärker oder schwächer, profitiert. Daher haben wir zuletzt gemeinsam mit einigen Landesverbänden, darunter auch in unserem Badischen Landesverband einige Pilotprojekte gestartet.

Es muss bei den Kleinsten im Training wie im Spiel um viele Ballaktionen, Mut zum Dribbling, den Spaß mit dem Ball gehen, die Kinder müssen eigenständig Erfahrungen sammeln, Fehler machen dürfen, aus denen sie dann lernen, sie müssen selbst nach Lösungen suchen und keine vom Trainer vorgefertigten Passfolgen einfach ´abarbeiten´. Diese Bolzplatz-Mentalität übertragen auf das Vereinstraining gilt es in der Ausbildung zu akzentuieren. Ein Kindertrainer muss ein Freund und Begleiter sein, kein Oberlehrer, der taktisch alles vorkaut oder lauthals alles kommentiert.

Das heißt Technik vor Taktik?

Ich würde es gern symbolisch anhand eines „Ausbildungshaus“ ausdrücken: Die Technik gepaart mit Spaß am Spiel bildet das Fundament. Individualtaktisch-kognitiven Prozesse der Wahrnehmung, der Antizipation und der Entscheidung ergeben das Erdgeschoss. In den Obergeschossen befinden sich die Gruppen- und Mannschaftstaktik sowie die Ausprägung der Athletik und positionsspezifische Inhalte. Durchgängig tragende Säulen sind die Ausprägung der Schnelligkeit und der Mentalität. Bei den Kleinsten sollte über spielerische Herangehensweisen das Fundament gelegt werden, danach kommt das Erdgeschoss bevor die Obergeschosse gebaut werden. Die Säulen sollten durchgehend parallel mitlaufen. Die Übergänge der einzelnen Stockwerke sind selbstverständlich fließend und eng mitineinander verzahnt.

Warum dieser Aufbau? Die Taktik ist Kopfarbeit und zuständig für den Entwurf eines adäquaten Handlungsplans, die Technik ist die Beinarbeit und für die Umsetzung des Handlungsplans verantwortlich. Da der Plan vor der Ausführung steht, denken womöglich einige, dass die Taktik vor der Technik stehen müsse. Wenn ich allerdings nur ein sehr eingeschränktes Repertoire an Techniken vorweisen kann, leidet darunter auch die Ausarbeitung von Handlungsplänen, mir liegen nur wenige aufgrund der fehlenden Technik zur Verfügung. Daher ist nach meinem Verständnis das Abhängigkeitsverhältnis der Taktik von der Technik größer als andersherum. Das Fundament und das Erdgeschoss müssen groß, stabil und vielfältig aufgebaut sein, um ein großes Haus zu bauen. Daher sollten wir uns im Kinderbereich nicht zu sehr mit Gruppen- und Mannschaftstaktiken beschäftigen. Ich kann jedem 15-Jährigen immer noch beibringen, wie er zu verschieben hat oder wie verschiedene Spielsysteme funktionieren. Versäumnisse beim Erlernen vielfältiger, variabler und präziser Techniken aufzuarbeiten, ist bei einem 15-Jährigen weitaus schwieriger und langwieriger. Das Problem ist, dass ich durch ein mannschaftsorientiertes Taktiktraining kurzfristig mehr Erfolg bei Großfeldspielen habe als durch ein Techniktraining. Daher ist die Implementierung kindgerechter Wettbewerbsspielformen auf Kleinfeldern so wichtig.

Ein weiteres Problem ist die sogenannte Drop-Out-Quote, also Nachwuchsspieler, die irgendwann die Lust verlieren und aufhören. Was können Verband und Vereine dagegen tun?

Das ist in erster Linie ein gesellschaftliches Problem, da gerade im Pubertätsalter viele aufhören zu kicken. Ich habe vor kurzem gelesen, dass der Fußball seine Vormachtstellung verliert, da viele Vereinsmannschaften abgemeldet wurden. Das sehe ich anders. Es ist nicht der Fußball, es ist allgemein der Sport, der an Bedeutung verliert, wie viele Studien zeigen. Fallende aktive Mitgliederzahlen sind bedingt durch den demographischen Wandel, ein breiteres Freizeitangebot, eine technologisierte Umwelt oder Interessensverschiebungen in der Pubertät. Ich möchte diese Problematik aber nicht nur auf gesellschaftliche Entwicklungen schieben, selbstverständlich müssen wir um jedes Talent kämpfen. Marco Reus, um ein bekanntes Beispiel zu nennen, wurde als 16-Jähriger in der Jugend von Borussia Dortmund aussortiert und hat später dennoch eine außergewöhnliche Karriere hingelegt. Es gibt viele Beispiele, wie man auch auf Umwegen in die Bundesliga kommt, diese Wege an die Spitze für Spätstarter oder Quereinsteiger müssen wir weiter jedem ermöglichen.

Um Bundesligaspieler zu werden, muss man also nicht mit spätestens 13 Jahren in ein Leistungszentrum wechseln?

Ein frühzeitiger Wechsel in ein Leistungszentrum ist für eine optimale, individuelle Entwicklung nicht zwangsläufig der notwendige Schritt. Auf der einen Seite bietet dir das Leistungszentrum perfekte Trainingsbedingungen, du hast qualifizierte Trainer, dein Trainingspensum steigt, du kannst dich in der täglichen Trainingsarbeit mit den Besten auf dem Feld messen. Es gibt noch weitere Faktoren, die für ein Leistungszentrum sprechen.

Auf der anderen Seite muss aber auch Folgendes betrachtet werden: du erhältst wegen der großen Konkurrenzsituation vermutlich weniger Spielzeit, stehst mehr unter sportlichen, aber auch schulischem Leistungsdruck, du verbringst je nach Anfahrtsweg mehr Zeit im Auto als auf dem Trainingsplatz. Du musst als Spieler technisch, körperlich und vor allem mental gewappnet sein für einen Wechsel. Da gilt es ausgewogen und neutral mit dem direkten, vertrauten Umfeld abzuwägen, ob der Schritt in ein Leistungszentrum gewagt wird oder nicht. Einige Beispiele aus der Bundesliga zeigen, dass es sich auch lohnt, noch abzuwarten, sich in Ruhe im heimatlichen Umfeld zu entwickeln. Manchmal auch wieder einen Schritt zurückzugehen, um dann durchzustarten. Entscheidend ist, egal welchen Weg man wählt, er sollte mit Überzeugung erfolgen.

Dem Umfeld fällt eine hohe Bedeutung zu!?

Eine entscheidende Bedeutung. Es ist nicht nur die Beratung. Das Umfeld muss auch bereit sein, dass die Heranwachsenden ihren eigenen Weg beschreiten. Kinder und Jugendliche müssen lernen auf ihrem persönlichen Weg mit Rückschlägen umgehen zu können, daraus zu lernen. Manchmal muss man hinfallen, um zu wachsen. Auf dem Lebensweg können nicht immerzu die Eltern, Trainer oder Berater alle Steine aus dem Weg räumen oder ihnen immer wieder aufhelfen. Fragen Sie mal Lehrer, z.T. müssen sie sich mehr mit den Eltern als mit den Kindern beschäftigen. Um sich menschlich und sportlich zu entwickeln muss ein Kind lernen selbstständig Steine aus dem Weg zu gehen oder wieder aufzustehen, nachdem es hingefallen ist.

Selbstverständlich bedarf es ein sportliches und soziales Umfeld, dass dich nach persönlichen Misserfolgen zwar aufrichtet und berät, aber nicht die Probleme aus der Welt schafft. Auch nach Erfolgen muss das Umfeld ab und zu ein Kind erden. Selbst wenn du der Beste des Teams bist oder in der Auswahl spielst, muss das Umfeld dir aufzeigen, wo du dich noch als Mensch oder Sportler verbessern kannst. Nur mit Schulterklopfern wird es schwierig an die Spitze zu kommen. Der Umgang mit Misserfolgen steht in engem Zusammenhang mit der Persönlichkeitsbildung. Ein Bereich, der zum Teil stiefmütterlich behandelt wird.

Wie kann man die Wahrscheinlichkeit verringern, dass Talente im Jugendbereich nicht verkannt werden? Bei Reus war es so, dass er als Spätentwickler im Juniorenalter körperlich große Nachteile hatte.

Um es anschaulich zu machen, vergleichen wir die Talententwicklung in diesem Fall mit einem Marathon. Im Juniorenbereich achten viele Späher darauf, wer zu diesem Zeitpunkt, also ungefähr bei Kilometer 20, vorne ist. Damit habe ich zwar eine klare Momentaufnahme, entscheidend ist jedoch die prognostische Frage, wer bei Kilometer 42 vorne sein wird, und das sind nicht immer diejenigen, die aktuelle die Besten sind.

Eine Szene aus dem U17-Oberliga-Spiel zwischen dem FCA Walldorf und dem SV Waldhof. Foto: bz

Zu dieser Thematik hört man allerdings häufig die Aussage, dass es unmöglich ist vorherzusagen, wer nach der Jugendzeit das Zeug zum Profi hat?

Einfach ist es nicht, ich kann aber bei einem genauen Blick auf den einzelnen Spieler viele Dinge erkennen, die zu einer erhöhten Objektivität und Genauigkeit der Einschätzung führen. Wir müssen ein Talent ganzheitlich und dynamisch betrachten, dazu gehört auch, den Spieler nicht nur leistungsmäßig einzuschätzen, sondern welche Entwicklungsreserve noch dahintersteckt. Konkret bedeutet dies, nicht nur bei Kilometer 20 zu stehen und zu schauen, wer als erstes die Marke erreicht, sondern auch mal den Blick auf die vorangegangenen Kilometer zu richten. Dabei sind Informationen über das bisher absolvierte, fußballspezifische Trainingspensum, das biologische Alter, Stabilität des sozialen Umfelds etc. zentrale Kriterien. Derzeit scheint mir, wird bei der Talentauswahl von Jugendspielern, vor dem Hintergrund der Wettbewerbsformen und des Ergebnisdrucks, die aktuelle Leistungsfähigkeit und damit einhergehend die Körperlichkeit oder die Athletik überschätzt. Die Spielkreativität und -freude, Entscheidungsfähigkeit, die Mentalität, die Technik oder die Trainingssensitivität dagegen werden unterschätzt, obwohl sie elementare Talentfaktoren und mit einem geschulten Auge beobachtbar sind.

Muss sich Fußball-Deutschland jetzt auf magere Jahre ihrer Nationalmannschaft einstellen, ehe die nächste Entwicklungsstufe in der Nachwuchsförderung Früchte trägt?

Nein. Ich halte das Abschneiden bei der WM in Russland aus verschiedenen Gründen für einen einmaligen Ausrutscher. Unsere Strukturen waren und sind gut. Hier und da gilt es an einzelnen Schrauben zu drehen. Es kommen aber jetzt und auch in naher Zukunft viele weitere Talente nach. Deshalb sehe ich auch in den kommenden Turnieren die deutsche Mannschaft im erweiterten Favoritenkreis, vielleicht nicht wie in den vergangenen Jahren auf der Top-Position, aber zumindest in Lauerstellung. Der Anspruch des größten Verbandes der Welt muss sein, zurück an die Weltspitze zu kommen.

Aufrufe: 09.4.2019, 15:00 Uhr
red.Autor