2024-05-02T16:12:49.858Z

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– Foto: stock.adobe/Miguel Mateo Leidemann

Streich als Jugendtrainer? "Irre trifft es wohl am besten"

Serie - Teil 9: Der 29-Jährige durchlief vier Jahre lang die Talentschmiede des SC Freiburg und kickte mit späteren Profis wie Schwolow, Ginter und Günter +++ Mit 16 von zuhause ausgezogen

Wiesbaden. Vier Jahre lang besuchte Marco Waldraff die Freiburger Fußballschule und nahm dafür einige Strapazen auf sich. Im Gegenzug sammelte er einzigartige Erfahrungen, lernte unter anderem den Alltag eines Fußballprofis kennen, wurde von späteren Bundesligatrainern gecoacht und stand zusammen mit Nationalspielern auf dem Platz. Heute schnürt der 29-Jährige seine Schuhe in der Verbandsliga für den SV Niedernhausen. Wir haben mit Marco Waldraff über seine Zeit im NLZ, Erfahrungen mit Christian Streich und seine zweite Karriere beim SC gesprochen.

Die Odyssee zum SC

Als „typischen Weg“, beschreibt Marco Waldraff seinen fußballerischen Werdegang in ein NLZ. Über seine Jugendvereine SG Gottmadingen-Biedingen und dem FC Singen 04 am Bodensee gelangte er in die Jugendakademie des SC Freiburg. Der SC hatte ihn im Training der Südbadischen U15-Auswahlmannschaft gesichtet und nach wenigen Probetrainings verpflichtet. Doch weil der Wechsel spät erfolgte, fand sich weder eine Gastfamilie noch ein Internatszimmer für den damals 15-Jährigen. Waldraff blieb nichts anderes übrig, als dreimal die Woche von seiner Heimat zum SC zu pendeln – Fahrzeit von zwei Stunden inklusive.

Wenn Samstags Heimspiele waren, schlief er im Gästezimmer des Internats. Unter dem vielen Pendeln und vier Trainingseinheiten plus Spiel oder Turnier an den Wochenenden litten die schulischen Leistungen des Teenagers und auch im privaten Bereich mussten Abstriche gemacht werden. „Das war nicht so schlimm, weil man Bock hatte diesen Weg zu gehen“, erklärt Waldraff. Dank seines guten linken Fußes, seinem Zweikampfverhalten und Selbstdisziplin, Attribute, die auch heute noch seine Steckenpferde auf dem Platz sind, überzeugte Waldraff, damals als linker Flügelstürmer, sodass er auch im Folgejahr für die Freiburger seine Schuhe schnüren durfte.

Kapitän Waldraff führt seine Mannschaft gegen den VFB Marburg auf den Platz. Am Ende gewinnt der SV die Hinrundenbegegnung mit 2:0.
Kapitän Waldraff führt seine Mannschaft gegen den VFB Marburg auf den Platz. Am Ende gewinnt der SV die Hinrundenbegegnung mit 2:0. – Foto: Torgranate Osthessen

Das zweite Jahr

Mit 16 zog Waldraff nach Freiburg. Jedoch nicht aufs Internat des Sportclubs, sondern in eigenes 30 Quadratmeter-Zimmer in einem Wohnhaus, gemeinsam mit zwei weiteren Nachwuchsspielern des SCF. „Trotzdem haben mich meine Eltern durchgehend unterstützt“, führt Waldraff weiter aus. "Sowas bleibt in Erinnerung. Und irgendwo musste ich ja meine dreckige Wäsche abgeben“, ergänzt er grinsend.

Schule und sechs Mal Training pro Woche

Sein Alltag zu der Zeit bestand aus Schule und sechs Trainingseinheiten die Woche, teilweise sogar zwei Einheiten pro Tag. Schule und Fußball unter einen Hut zu bringen, fiel ihm in Freiburg wieder einfacher. Er machte sein Fachabi, baute sich auch außerhalb seiner Mannschaft einen Freundeskreis auf, was ihm persönlich „sehr gutgetan“ habe. Sportlich lief es für Waldraff weiterhin gut, auch im zweiten B-Jugendjahr war er fester Bestandteil der Mannschaft. Er absolvierte 23 Spiele in der U17-Bundesliga und erzielte dabei acht Tore. Sein Trainer damals: Marcus Sorg, der heutige Co-Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft, den Waldraff insgesamt als „unspektakulär, in seinem Auftreten schon damals sehr professionell und fachlich gut“, beschreibt.

Erfahrungen mit einem Bundesliga-Coach

Ganz anders hingegen beschreibt er Sorgs Nachfolger in der A-Jugend, den heutigen Cheftrainer der Breisgauer, Christian Streich: „Irre trifft es wohl am besten. Bei Streich war alles ein Stück weit emotionaler, weil er schon ewig im Verein und selbst Spieler beim SC war. Was er aus Spielern herausholen kann, ist einzigartig in Deutschland!“ Als Beispiel hierfür nennt Waldraff Christian Günther, dessen Weg zum Bundesligaprofi und Nationalspieler wohl niemand vorhergesehen habe.

Waldraff im Dress des Bahlinger SCs.
Waldraff im Dress des Bahlinger SCs. – Foto: Claus G. Stoll

Nicht nur positive Facetten bei Streich

Durchweg positiv sind die Erinnerungen von Waldraff an die Zeit unter Streich jedoch nicht. Die genannten Eigenschaften des Bundesliga-Trainers, seine Kompetenz und Leidenschaft, beschreibt er als „zweischneidiges Schwert“. Dies erklärt er wie folgt: „Durch seine Detailversessenheit und Leidenschaft waren viele Aussagen emotional sehr aufgeladen. Als 18-Jähriger hatte man an seinen Worten teilweise schwer zu knabbern. Streich bringt wahnsinnig viel Energie rein und man lernt super viel, andererseits verspürten unter ihm einige auf dem Platz enormen Druck und hatten Angst Fehler zu machen. Ich hätte mir mehr Verständnis für Jugendliche in diesem Alter gewünscht.“ Trotzdem wirkt es nicht so, als hege Waldraff einen Groll gegenüber seinem ehemaligen Coach.

Das verflixte vierte Jahr

Im ersten A-Jugendjahr verlief für Marco Waldraff sportlich alles weiterhin nach Plan. Als jüngerer Jahrgang wurde Waldraff in den Bundesligakader hochgezogen, absolvierte in der Rückrunde neun Spiele in der klassenhöchsten Nachwuchs-Liga Deutschlands und erzielte einen Treffer. Dabei kam er nicht mehr, wie in der B-Jugend, als Flügelstürmer zum Einsatz, sondern rückte mehr in die Mitte des Platzes, um als Zehner oder Achter die Fäden im Mittelfeld zu ziehen.

In dieser Zeit war die Hoffnung bei ihm da, als einer von Wenigen einmal einen Profivertrag angeboten zu bekommen. Waldraff erklärt: „Ohne den Traum und die Hoffnung zu haben, es einmal zu den Profis zu schaffen, braucht man gar nicht ins NLZ zu gehen. Damals haben jedes Jahr nur zwei bis drei Spieler pro Jahrgang einen Anschlussvertrag. Trotzdem waren die Signale, die mir vom Club und den Leuten Drumherum gesendet wurden, positiv“, erinnert sich Waldraff.

Nach Bänderriss nicht mehr Fuß gefasst

In der Vorbereitung auf sein letztes A-Jugendjahr riss er sich jedoch zweimal die Bänder. „Nach den Verletzungen bin ich nicht mehr reingekommen in die Saison, habe viel Druck verspürt und wenig Erfolgserlebnisse erlebt. Ich habe dann schnell gemerkt, dass es für mich nach der A-Jugend beim SC nicht mehr weitergehen wird. Vielleicht habe ich dann auch unterbewusst ein paar Prozent weniger gegeben“, fasst Waldraff sein letztes Jahr beim SC zusammen.

Tatsächlich: Nach der Saison wurde ihm kein Anschlussvertrag angeboten, Christian Streich persönlich informierte ihn über sein Aus. „Da ich darauf eingestellt war, hat mich die Botschaft nicht so sehr getroffen. Andere hat es härter erwischt, für die ist ein Traum geplatzt“, berichtet Waldraff.

Der Freiburger Weg

Sein Fazit zu seiner Zeit beim SC fällt differenziert und reflektiert aus. „In der Fußballschule des SC wurde damals nicht nur auf das Talent geguckt, sondern auf Faktoren wie Mentalität, das Auftreten auf und neben dem Platz und ob die Leute was in der Birne hatten. Wenn die schulischen Leistungen nicht stimmten oder man schwänzte, rückte der Fußball schnell in den Hintergrund“, erinnert sich Waldraff zurück.

Weiter führt er aus: „Zudem wurde in Freiburg sehr auf ein funktionierendes Mannschaftsgefüge geachtet. Es gab wenig Streitereien und Konkurrenzkampf. Der SC hatte immer den Willen, eine starke Mannschaft auf den Platz zu schicken, nicht nur die drei besten Spieler eines Jahrgangs zu fördern, um sie später einmal zu Geld zu machen. Außerdem kamen zu meiner Zeit die meisten Spieler hier aus der Region.“ Diesen Freiburger Weg macht Marco Waldraff auch dafür verantwortlich, dass so vielen Nachwuchsspielern vom Sportclub der Durchbruch zu den Profis gelingt.

Mit Günther um den Stammplatz duelliert

Mit einigen davon hat er sogar selbst zusammengespielt, angefangen mit Christian Günther, mit dem er sich regelmäßig einen Zweikampf um die Startelf lieferte. Auch mit Alexander Schwolow, heute Torwart bei der Hertha, stand Waldraff zusammen auf dem Platz. Sein wohl bekanntester Mitspieler war Matthias Ginter, den Waldraff als „absolutes Ausnahmetalent“ beschreibt. „Er hat unscheinbar, aber konstant seinen Fußball gespielt, hatte zwei gute Füße, einen stabilen Körper und war Kopfballstark. Er war zwei Jahre jünger als die meisten und hat trotzdem viel erwachsener gespielt“, erinnert sich Waldraff.

Neben dem vielen Lob für die Freiburger Fußballschule kritisiert Waldraff aber auch den sehr erzieherischen und strengen Ton: „Es war wenig Platz für Freigeister im positiven Sinne. Augenzwinkernd ergänzt Waldraff: „Wenn man in Freiburg abends mal unterwegs war, musste man aufpassen, dass einen keiner erwischt. Da war man als Spieler immer auf der Hut.“ Sein Fazit zu seiner Freiburger Zeit fällt trotz der Aufs und Abs, sportlich, wie auch privat positiv aus: „Ich habe einzigartige Sachen mit dem SC erlebt. Ich durfte in den Alltag eines Fußballprofis eintauchen und erfahren, wie es ist, sein ganzes Leben auf eine Sache auszurichten. Mit dem Wissen, das ich heute habe, würde ich natürlich ein, zwei Dinge anders machen, Situationen besser wegstecken oder an anderen Stellen auch mal auf den Tisch hauen. Trotzdem war ich nie wirklich traurig, ein reduziertes Privatleben gehabt zu haben und würde es immer wieder machen.“

Die zweite Karriere beim SC

Nach dem Aus beim SC war bei Waldraff weder der Wille noch das Selbstvertrauen da, es woanders noch einmal zu versuchen den Durchbruch zum Fußballprofi zu schaffen. Stattdessen wechselte er zum Bahlinger SC. Beim Oberligisten war er von Anfang an Stammspieler, sammelte in sechseinhalb Jahren knapp 150 Einsätze und stieg zwischenzeitlich sogar in die Regionalliga auf, in der er dann auch 24 Mal zum Einsatz kam.

Gegen die Reserve der Stuttgarter Kickers feierte der Bahlinger SC einen 2:0 Sieg. Auch dank dieses Erfolges stieg der SC in der Saison 14/15 in die Regionalliga auf.
Gegen die Reserve der Stuttgarter Kickers feierte der Bahlinger SC einen 2:0 Sieg. Auch dank dieses Erfolges stieg der SC in der Saison 14/15 in die Regionalliga auf. – Foto: Daniel Thoma

Über alte Kontakte beim SC Freiburg sicherte er sich einen dualen Studienplatz in der Marketingabteilung der Breisgauer.

Neues Kapitel in Wiesbaden

Nachdem er sein dreijähriges Studium beim SC beendete, fand Waldraff eine Arbeitsstelle im Wiesbadener Raum. Damit schloss er das Thema Fußball für sich ab. Er erklärt: „Ich wollte Abstand gewinnen, runterkommen und mir neue persönlich Ziele stecken."

Doch wie es bei vielen ist, hat auch Waldraff nach einem halben Jahr Pause die Lust zu Kicken eingeholt. Auf Anraten seines alten Freiburger Teamkollegen Tim Albutat, der unter anderem für Duisburg in der zweiten Liga zum Einsatz kam, schloss er sich der SG Orlen an. Nach einem halben Jahr in der Kreisoberliga wechselte Waldraff dann zusammen mit seinem heutigen Trainer Maurice Burkhardt in die Gruppenliga zum SV Niedernhausen. Dort hat Waldraff nun seine zweite sportliche Heimat gefunden und ist sehr glücklich in einer „coolen Mannschaft Spaß am Fußballspielen zu haben“.

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Verbandsliga-Aufstieg im ersten Jahr

Direkt im ersten Jahr feierte er mit dem SVN den Aufstieg in die Verbandsliga, eine Liga, in der er sich jetzt pudelwohl fühlt. „Ich kann den Aufwand der Verbandsliga gut mit meinem beruflichen und privaten Leben verbinden, zudem fordert mich das spielerische Niveau in der Liga auch heraus“, erklärt Waldraff. Wo die Reise für den derzeitigen Tabellendritten in dieser Saison noch hingeht, kann der inzwischen 29-Jährige jedoch schwer abschätzen. Dafür kenne er die Liga nicht gut genug, meint er. Wirklich überrascht von den Ergebnissen seines Teams zeigt er sich jedoch auch nicht: „Ich denke, wir werden als Neuling unterschätzt. Wenn wir fit aus der Winterpause kommen, sehe ich kein Hindernis, warum wir nicht bis zum Ende oben dranbleiben sollten.“

Voller Fokus aufs Ziel! Letztes Jahr erzielte Waldraff noch drei Tore für den SV, in diesem Jahr wartet er noch auf seinen ersten Treffer.
Voller Fokus aufs Ziel! Letztes Jahr erzielte Waldraff noch drei Tore für den SV, in diesem Jahr wartet er noch auf seinen ersten Treffer. – Foto: Jochen Haupt

Zukunftspläne

Was passieren wird, sollte Niedernhausen tatsächlich aufsteigen, weiß Marco Waldraff noch nicht: „Hessenliga und der damit verbundene zeitliche Aufwand ist für mich schwierig zu bewerkstelligen, andererseits könnte es mich sportlich schon noch einmal reizen. Auch will ich mir eigentlich keinen neuen Verein mehr suchen, aber erstmal abwarten, wie die Saison weiter verläuft.“ Für Waldraff geht es beim Fußball sowieso nur noch um den Spaß, andere Dinge genießen bei ihm inzwischen oberste Priorität. Dazu gehört sein neuer Job im Online-Eventmarketing, aber auch im Privaten will der bald 30-Jährige die Planungen vorantreiben.

Zur Serie: In dieser Reihe porträtieren wir ehemalige NLZ-Spieler, die den Sprung zum Profi nicht gepackt haben und nun bei Amateurteams aus der Region spielen. Sie erzählen uns, wie nah dran sie wirklich am großen Traum Profifußball waren und welche Ambitionen sie jetzt haben - sowohl auf als auch neben dem Platz.

- Teil 1: Linus Wimmer (SV Eintracht Trier)
- Teil 2: Lukas Fischer (TSG Bretzenheim)
- Teil 3: Lars Hermann (TSV Schott Mainz)
- Teil 4: Nik Rosenbaum (SV Alemannia Waldalgesheim)
- Teil 5: Joshua Iten (SG Hüffelsheim)
- Teil 6: Bilal Marzouki (FC Maroc Wiesbaden)
- Teil 7: Kevin Frey (VfB Bodenheim/TSG Mainz Futsal)
- Teil 8: Giorgio del Vecchio (TSV Schott Mainz)

Aufrufe: 022.1.2022, 06:00 Uhr
Tim Stamm und Philipp DurilloAutor