2024-04-25T14:35:39.956Z

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Der Leiter des „Zentrum Mensch“ in Satteldorf Jan Langenbuch (links) und DFB-Physiotherapeut Thomas Ehrmann (rechts) mit dem DFB-Vizepräsidenten Hans-Dieter Drewitz. Foto: Nils Gundel
Der Leiter des „Zentrum Mensch“ in Satteldorf Jan Langenbuch (links) und DFB-Physiotherapeut Thomas Ehrmann (rechts) mit dem DFB-Vizepräsidenten Hans-Dieter Drewitz. Foto: Nils Gundel
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Rückläufige Mannschaftszahlen, immer mehr Spielgemeinschaften

Interview mit DFB-Vizepräsident Dr. Hans-Dieter Drewitz: Tradition und Fortschritt verbinden

Rückläufige Mannschaftszahlen, immer mehr Spielgemeinschaften, sinkendes Interesse am Sport – seit Jahren kämpft der DFB-Vizepräsident Dr. Hans-Dieter Drewitz gegen diese Entwicklungen an.

Seit Jahren steigen die Mitgliederzahlen von Rekord zu Rekord. Momentan sind 6,9 Millionen Menschen Mitglieder beim DFB, das sind grob 80 000 mehr als noch im Vorjahr. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Jugendmannschaften in Hohenlohe seit Jahren ab.

Wie ist diese Entwicklung zu erklären?

Dr. Hans-Dieter Drewitz: Erstens tragen zu den steigenden Mitgliederzahlen primär die Anmeldungen bei den Spitzenvereinen bei, und die sind bei den Großen wie dem VfB Stuttgart oder den Bayern seit Jahren steigend. Zweitens gibt es eine gesellschaftliche Entwicklung. Wir erleben gerade einen demografischen Bruch, es gibt weniger Kinder. Diese Entwicklung hängt ganz stark von den geografischen Regionen ab. In Großstädten gibt es Vereine, die gerade in den jüngeren Altersklassen Aufnahmestopps erlassen, auf dem Land sterben teils die Mannschaften, manchmal gleich die kompletten Vereine. Letzteres ist kein spezifisches hohenlohisches Problem, das betrifft den gesamten ländlichen Raum.

Es ergeben sich immer mehr Spielgemeinschaften mit teils absurd langen Anfahrtswegen zum Training wie beispielsweise von Dünsbach nach Schrozberg. Ist das der richtige Ansatz zu den rückläufigen Spielerzahlen, oder gibt es noch andere Lösungsmöglichkeiten?

Seit einigen Jahren gibt es schon Spiele mit kleinerer Spielerzahl. Die Erfahrung zeigt aber, dass elf gegen elf ab der C-Jugend immer noch die beliebteste Form ist. Alle Spieler eifern ja den großen Mannschaften nach, und die spielen nun mal so. Aber natürlich ist zu spielen besser als gar nicht zu spielen. Deswegen wurden auch bestimmte blödsinnige Restriktionen in den unteren Bereichen abgeschafft. Die Beschränkung auf drei Wechsel oder das Verbot von Rückwechseln ist da einfach Unsinn.

In welchen Bereichen gäbe es weitere Anpassungsmöglichkeiten?

Ich setze mich für eine Anpassung des Zweitspielrechts ein. Wenn jemand alterstechnisch eigentlich in der B-Jugend spielen würde, es jene im Verein aber nicht gibt, dann muss er häufig in der A-Jugend spielen. Viele wollen aber in „ihrer“ Altersklasse kicken, sind aber gleichzeitig gegenüber ihren Vereinen loyal. Ein angepasstes Zweitspielrecht könnte dazu führen, dass ein Jugendlicher in einem Nachbarverein in der B-Jugend spielen könnte und im Heimatverein weiterhin bei der A-Jugend.

Ein weiterer Punkt ist, dass Spielgemeinschaften überbezirklich kein Aufstiegsrecht haben. Müsste das nicht angepasst werden, wenn es immer mehr von ihnen gibt?

Da bin ich offen gestanden sehr skeptisch. Wenn ich unterwegs bin, dann höre ich von Vereinen immer wieder die Klage von Verantwortlichen, dass sie nicht spielen können, weil sie nur neun gute Leute haben. Da frag ich dann gerne: „Wenn ihr neun gute Leute habt, wie viele habt ihr dann insgesamt?“ Meistens haben sie dann grob sechs mehr, sind also 15 Spieler. Worauf ich damit hinaus will ist, dass Vereine natürlich gerne gewinnen wollen. Wenn wir Spielgemeinschaften aber zu weit aufsteigen lassen, dann spielen in denen nur noch die Besten aus mehreren Vereinen. Das ist dann wie im Schulsport: Die Schlechten werden als Letztes gewählt und stehen nur noch am Feldrand. Sie verliert man dann für den Sport, weil Gewinnen für diese Kicker halt nicht alles ist.

Inwiefern?

Das sind dann Siege und Aufstiege, an denen sie nicht aktiv beteiligt sind. Das machen sie so lange mit, wie sie Hoffnung haben, selbst eingesetzt zu werden. Wenn die stirbt, dann gehen auch Spaß und Interesse am Spiel verloren. Und das ist dann langfristig gedacht für die Vereine fatal, weil viele Kinder- und Jugend­trainer nicht diejenigen sind, die früher zu den Besten in der ersten Mannschaft gezählt haben. In all den Jahren Vereins- und Verbandsarbeit habe ich gelernt, dass ein Gros der Arbeit auf den Schultern derer liegt, die sportlich eher mittelmäßig waren, gleichzeitig aber nie die Freude am Spiel verloren haben. Manchen Vereinen muss man hier wirklich kurzfristiges Denken vorwerfen. Das ist auch nicht förderlich für ein anderes Problem, das von Medien, Politik und Medizinern oft beklagt wird, nämlich dass Kinder viele motorische Defizite aufweisen.

Wie kann man dieser Entwicklung entgegensteuern?

Ich verweise auf Dettmar Cramer, der das mal ganz gut auf den Punkt gebracht hat. Er sagte sinngemäß, dass die Jungs früher mit 14 Jahren aus den Turn- und Leichtathletikgruppen in den Fußball gekommen sind. Die waren athletisch und motorisch ganz anders vorbereitet. Heute hat ein 15-Jähriger fast zehn Jahre aktive Fußballzeit und wahrscheinlich kaum einen anderen Sport gemacht. Um Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, sind Trainer in den unteren Kinderklassen heute auch weniger Fußballtrainer, sondern mehr Bewegungspädagogen. Da wird dann nicht nur Fußball gespielt, sondern auch alle möglichen anderen Ballsportarten. Wichtig ist, dass man dabei den natürlichen Spieltrieb nutzt und erhält. Das ist aber noch nicht bei jedem Verein so angekommen. Wir schieben diese Entwicklung aber seit einigen Jahren an.

Finden Kooperationen mit Schulen statt?

Ja, mit den Grundschulen. Das funktioniert auch ganz gut, gerade weil viele Lehrerinnen in der Grundschule nur bedingt was mit Fußball anfangen können. Wenn wir sie begeistern, dann machen sie und die Schüler den Sport lieber. Da motiviert man sich dann gegenseitig. Zudem probieren wir gerade, an die Kindergärten heranzukommen. Dadurch soll eine langsame und gleichmäßige Heranführung der Kinder an den Sport gesichert werden. Wir sind aber stark von den Vereinen vor Ort abhängig. Können oder wollen die nicht mitziehen, dann geht da leider wenig.

Das Zeitfenster, in dem ein solches Training stattfinden könnte, fällt meist in die Arbeitszeit für die meisten Erwachsenen. Wie sollen die Ehrenamtlichen das stemmen?

Das Problem kann ich durchaus nachvollziehen. Deshalb versuchen wir, mehr Jugendspieler beziehungsweise Schüler als Trainer zu gewinnen. Die können das dann übernehmen, wenn die Schule aus ist. Das hat zudem einen positiven Nebeneffekt, weil der B-Jugendspieler für den E-Jugendlichen ein kleiner Fußball­gott ist, zu dem er aufblickt und dem er nacheifert.

Bräuchte man diesen Effekt aber nicht eher im D- und C-Juniorenbereich, wo besonders viele Kinder die Mannschaften verlassen?

Man muss bedenken, dass die meisten in der D- oder C-Jugend schon seit vielen Jahren kicken. Manche suchen sich dann etwas Neues im Verein und Sport. Ich bin ein vehementer Verfechter, dass man mit der Zeit gehen muss und die Kommunikationswege der Jugend und ihr Freizeitverhalten nutzt. Ein Beispiel ist der E-Sport-Bereich. Viele verstehen nicht, welchen Platz das im Verein haben sollte. Gleichzeitig fragt man sich aber auch, warum die Kids dann daheimbleiben und nicht im Verein zocken. Der Fußball soll erhalten werden, benötigt aber Alternativen und eine Weiterentwicklung. Traditionen gilt es zu erhalten, ohne den Fortschritt zu verteufeln oder zu ignorieren. Und wir müssen unsere Spieler, die vielfach schon E-Sports machen, auch für uns abholen und dürfen sie nicht anderen überlassen.

Die DFB-Stützpunkte sind dazu gedacht, Talente zu fördern. Viele Kinder verlassen die Stützpunkte aber bereits im D-Jugendalter in Richtung eines Nachwuchsleistungszentrums. Kann die Förderung dann überhaupt schon ausreichend gewesen sein?

Das ist schwierig zu sagen. Manche packen das ohne Probleme, andere fliegen wieder aus den Leistungszentren. Die sind dann aber nicht verloren, sondern ­können im Stützpunkt weiter an sich feilen. Vielleicht schaffen sie den Sprung ja dann im zweiten Anlauf. Viele der heutigen deutschen Fußballstars gingen den Weg über Stützpunkt und Leistungszentrum. Wichtig ist bei der Förderung vor allem, dass wir ­keine Nachwuchstalente über­sehen.

Aber kann die Rückstufung nicht auch hemmend wirken?

Natürlich kann sie das, aber es läuft halt nicht immer wie geplant. Ich hasse den Begriff „Human Resources“, er ist einfach schrecklich. Ich will weg von einem Verhalten, Menschen als ersetzbare Ressource zu sehen, als wegwerfbar. Wenn jemand es nicht packt, dann soll er in anderer Form eine zweite Chance erhalten. Das gilt auch im besonderen Maße bei den U-Nationalmannschaften. Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Kindern und Jugendlichen, deswegen sind bei den Turnieren auch immer Lehrer mit dabei.

Es finden aktuell zwei große Turniere statt: einerseits der Confed Cup, andererseits die U-21-Europameisterschaft. Die Kritik an den Austragungsorten reißt nicht ab, vor allem wegen der Vergabe der Weltmeisterschaften an Russland und Katar. Wie positionieren Sie sich dazu?

Ich war noch nie an einem Vergabeverfahren beteiligt, deswegen kann ich dazu auch nichts sagen. Aber man sollte beim Ausrichterland schon ganz genau schauen. Die Austragung solcher Meisterschaften ist für die Länder ein zweischneidiges Schwert. Einerseits wird ihnen die Möglichkeit gegeben, ihr Image aufzupolieren. Andererseits macht es Missstände für die ganze Welt sichtbar. Als ich vor einigen Jahren in Katar war, gab es die katastrophalen Arbeitsbedingungen bereits, gestört hat das aber keinen. Jetzt werden sie im Kontext der WM 2022 zur Sprache gebracht. Und ich möchte dazu auch mal sagen, dass wir in Deutschland ja nicht wirklich dazu beitragen, dass diese sportlichen Großveranstaltungen woanders stattfinden, wenn wir beispielsweise Olympia zweimal ablehnen. Wenn die Demokratien sich nicht beteiligen wollen, dann bleiben irgendwann nur noch Autokratien und Diktaturen übrig.

Und was erhoffen Sie sich von den Turnieren im Ergebnis?

Ein gutes Auftreten und ein Erfolg beim Confed-Cup wäre natürlich schön, aber ich sag es mal so: Lieber scheide ich im Halbfinale aus und gewinne nächstes Jahr die WM als umgekehrt. Und bei der U 21 erhoffe ich mir eine Entwicklung wie 2009 mit Neuer und Hummels. Ich sehe eine große Zukunft für die Nationalelf.

Aufrufe: 029.6.2017, 08:20 Uhr
HOT / Nils GundelAutor