Es ist ein Kerl wie ein Baum, der da auf seinem natürlich viel zu kleinen Sitzplatz in der Düsseldorfer Philipshalle kauert. 1,92 Meter groß, mindestens 95 Kilo schwer, blonde, leicht gelockte Sigurd-Frisur, ein Typ wie ein Boxer. Den Sitznachbarn fällt er auf. Aber nur, weil er so eine imponierende Figur ist. Noch bleibt Olaf Bodden, der Fußballer, unerkannt. Er ist nur ein ziemlich großer Zuschauer beim Hallenturnier der Fortuna mit dem 1. FC Köln, Schalke 04 und Bayer Uerdingen.
Beim Veranstalter des Turniers ist er schon in diesem Januar 1989 kein unbeschriebenes Blatt mehr. Es hat sich bis zum (Noch-)Zweitligisten herumgesprochen, dass Bodden ein sehr gefährlicher Verbandsliga-Stürmer ist. Für die Gocher Viktoria schießt er seine Tore, im Strafraum ist er eine Urgewalt, technisch noch ungeschliffen, aber mit einem unwiderstehlichen Kopfballspiel. Die Fortuna will ihn an den Flinger Broich holen, Bodden schaut sich das Turnier als Gast des Klubs gemeinsam mit seinem Vater Heinz an.
Die Verhandlungen der Düsseldorfer mit dem Hünen aus Hasselt finden allerdings kein zufriedenstellendes Ende. Familie Bodden nimmt eine zweite Option wahr. Der Düsseldorfer Nachbar Borussia Mönchengladbach holt den Stürmer in seinen Bundesliga-Kader. Eine richtige Erfolgsgeschichte wird das nicht. Bodden macht in zwei Jahren nur drei Bundesliga-Spiele. Aber er kämpft sich doch in die deutsche Eliteliga. Bei Hansa Rostock geht sein Stern auf, sein erstes Bundesliga-Tor erzielt er am 16. November 1991 im Spiel gegen den Hamburger SV.
Fortan kann sich Fußball-Deutschland ein eigenes Bild von diesem Kraftfußballer machen. Und er versteckt sich nicht im Osten. Weil er dem TSV 1860 München tüchtig Tore einschenkt, holt ihn Trainer Werner Lorant in den Münchner Ortsteil Giesing. Es gibt noch keine Transferfrist, daher kommt Bodden in der Hinrunde der Saison 1994/95. Die letzten Vertragsdetails bespricht er mit Lorant am Telefon. Allerdings nicht aus der eigenen Wohnung, „denn im Osten hatten wir kein Telefon“, wie er sich erinnert. Die Verhandlungen führt er von einem öffentlichen Fernsprecher aus einer Telefonzelle in Graal-Müritz – eine halbe Autostunde entfernt von Rostock. In der ehemaligen DDR hatten die SED-Bonzen hier ein luxuriöses Ferienheim an der Ostsee. Sicher haben es ihm die Kollegen von Hansa erzählt. Boddens Karriere erreicht in München ihren Höhepunkt.
Die 60er führt er mit seinen Toren vom Abstiegsrang zum Klassenerhalt. Einen Treffer steuert er zum Beispiel zum 2:0-Heimsieg über Borussia Mönchengladbach bei. Ein Millionenpublikum bestaunt im Fernsehen, wie er seine inzwischen 97 Kilo Kampfgewicht in die Strafräume wuchtet und wie er ein wirklich gefürchteter Stürmer wird. In seiner besten Saison schießt er 14 Tore. Er ist ein wesentlicher Teil der zweitbesten Zeit in der Geschichte der ruhmreichen Löwen, die in München mal die unbestrittene Nummer eins waren – weit vor den Bayern.
Doch dann kommt die Krankheit. Sie holt den Stürmer buchstäblich vom Himmel. Gerade, als er sich anschickt, ein Thema in der Nationalmannschaft zu werden, leidet er an einer seltsamen Mischung aus Müdigkeit und anhaltenden Grippesymptomen. Die Ärzte diagnostizieren zunächst Pfeiffersches Drüsenfieber, später das Allgemeine Erschöpfungssyndrom. Der Modellathlet verfällt regelrecht, er wiegt nur noch knapp 77 Kilo, das früher meist braungebrannte Gesicht ist fahl, die Haut spannt sich auf den Wangenknochen, selbst kurze Spaziergänge fallen schwer. Aber es kommt noch schlimmer. Auf eigenes Risiko geht Bodden eine Behandlung mit einem noch nicht freigegebenen Medikament ein. Sein Körper reagiert allergisch. Der bärenstarke Fußballprofi wird zum Pflegefall, sein Leben findet im Liegen statt, er braucht den Rollstuhl. „Ich habe meine Gesundheit verloren, meine Karriere verloren und einen Haufen Geld verloren“, klagt er in der ZDF-Reportage „Der müde Stürmer“.
Er gibt nicht auf. Es ist jedoch alles andere als ein Leben, wie er es sich vorgestellt hat. „Ich bin immer froh, wenn es Abend ist“, erklärt er. „Morgens, wenn man aufwacht, ist es der blanke Horror. Jetzt hat man den ganzen Tag vor sich im Bett und muss die Zeit totschlagen.“
Dazu kommen finanzielle Sorgen, denn die Behandlung der rätselhaften Krankheit ist teuer, und Bodden muss Jahre mit der Krankenkasse über die Kostenerstattung streiten. Die Versicherung stuft seine Krankheit als psychisch bedingt ein, dabei sind die Fachleute der Ansicht, dass es sich um ein neurologisches Phänomen handelt.
Boddens alte Mitspieler haben ihn nicht vergessen. Im November 2013 veranstalten sie ein Benefizspiel im alten Grünwalder Stadion. Auch Rudi Völler, der alte 60er und spätere Weltmeister, kommt an dem kühlen Abend. 4000 Fans feiern Bodden, der auf einer Trage ins Stadion gefahren wird, gehüllt in eine Fahne von 1860. Nicht nur hier kommen dem früher mal so harten Kerl die Tränen. „Ich habe Momente, wo ich hier zu Hause weine“, sagt er der „Abendzeitung“ in einem Gespräch zu seinem 52. Geburtstag im vergangenen Jahr. Über die Krankheit redet er allerdings schon lange nicht mehr, „weil es sowieso niemand versteht“. Statt sich auf das Leiden zu konzentrieren, lebt er in der Erinnerung an seine besten Zeiten als Fußballer. „Ich denke sehr gerne zurück, die Bundesliga-Jahre waren ein Segen“, sagt er. „Ich bin ja mit 19 Jahren noch bei der SG Hasselt in der Kreisliga herumgedümpelt.“ Vielleicht wäre er nie in der ganz großen Fußballwelt angekommen, wenn sich Vater Heinz nicht um die Karriere des Sohnes gekümmert hätte. Er bleibt hartnäckig und weckt den Ehrgeiz seines Jungen, der in der Jugend noch ganz zufrieden in seinem Dorfklub ist.
Da blüht sein großes Talent doch eher im Verborgenen. Keiner ahnt, was sein Trainer Lorant beim Benefizspiel sagen wird: „Er hätte der beste Stürmer Deutschlands werden können.“ Dieser Traum endet mit 28 Jahren. Inzwischen sind Boddens Vorstellungen von der Zukunft viel bescheidener. Und es fröstelt einen ein bisschen, wenn er sagt: „Mein Traum, noch etwas von der Welt zu sehen, ist nicht allzu realistisch.“ Eine bittere Einsicht.