2024-05-02T16:12:49.858Z

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Im Hoffenheimer Dress: Leonie Pankratz.
Im Hoffenheimer Dress: Leonie Pankratz.

Nächste Ausfahrt

FRAUEN: +++ Leonie Pankratz will es noch einmal wissen: Die Gießenerin, die beim VfB 1900 ihre Karriere begann, wechselt in die 1. französische Liga +++

Gießen. Jetzt also Montpellier. In Südfrankreich, zehn Kilometer vom Mittelmeer entfernt, eine wunderbare Altstadt, mediterrane Lebensart, mediterranes Klima. Unter dem Stichwort Fußball findet sich in Bezug auf die 400 000-Einwohner-Stadt: „Der 1974 gegründete Montpellier HSC spielt in der erstklassigen französischen Ligue 1 und trägt seine Heimspiele im 1972 erbauten Stade de la Mosson aus. In der Saison 2011/12 wurde der Verein erstmals französischer Fußballmeister. Zur Saison 2001/02 entstand die Frauenabteilung des MHSC, die seitdem ohne Unterbrechung in der Division 1 Féminine, der höchsten Liga im französischen Frauenfußball spielt.“ Ganz schön schlau, das gute Wikipedia.

Und ganz schön klug, da hinzugehen. Leonie Pankratz ist klug, dazu noch eine brillante Fußballspielerin, die es als Verteidigerin bis in die Bundesliga geschafft hat. Zehn Jahre hat die in Gießen geborene junge Frau im Grunde für die TSG Hoffenheim gespielt, zunächst in der 2. Liga, dann in der Bundesliga. Im Grunde heißt, dass die nun 30-Jährige immer mal wieder das eingestreut hat, was nun (vermutlich) auch noch einmal ein krönender Abschluss ihrer Karriere wird: Durch, mit und dank des Fußballs, mit dem sie bei den F-Junioren des VfB 1900 Gießen 1996 begann, die (europäische) Welt wenn nicht zu erobern, so doch besser kennenzulernen.

Gießen, Mittwoch, 15. Juli, im News Café. Mediterran ist an diesem Vormittag nichts in ihrer Heimatstadt, eher kühl und nieselig. Leonie Pankratz „ist auf einen Sprung“ zuhause bei ihren Eltern, am Sonntag, 19. Juli, wird der Umzug aus dem Kraichgau nach Südfrankreich über die Bühne gehen. Aber Leonie Pankratz findet zum Glück noch die Zeit zu einem inspirierenden Gespräch.

„Im September 2019 habe ich schon mit den Verantwortlichen der TSG besprochen, dass es meine letzte Saison sein wird“, erzählt die Hoffenheimer Spielführerin, die für sich damals zwei Optionen sah: „Entweder konzentriere ich mich auf meine Arbeit im Projektmanagement oder ich gehe noch mal ins Ausland, um mich voll auf den Fußball zu fokussieren.“ Zwei Jahre hat Pankratz gearbeitet und parallel dazu Bundesliga gespielt. Das sollte man – bei zumeist zwei Trainingseinheiten am Tag plus den Spielen am Wochenende – mal den Fußball-Bundesliga-Kollegen erzählen. Leonie Pankratz gibt zu: „Da ist man schon am Anschlag, um 6.30 Uhr aufstehen, ins Training, dann zur Arbeit, nach Hause, schnell was essen, dann wieder Training, das wollte ich mir nicht noch ein Jahr geben.“ Der Plan auszusteigen, stand nach einem guten Dutzend Jahren Leistungssport, denn die Gießenerin hatte bereits 2006 mit dem Wechsel zum 1. FFC Frankfurt sehr stringent auf eine Sportkarriere hingearbeitet. Stets mit dem Wissen, dass im Frauenfußball keine Reichtümer einzufahren sind. Von daher war für sie ein weiteres Jahr Bundesliga-Fußball, wo sie zuletzt mit der TSG Hoffenheim Dritter wurde, kein Thema mehr, der Job wäre in den Fokus gerückt.

Doch meistens kommt es anders, als frau denkt: „Die Arbeit hat mir schon total viel Spaß gemacht, ich hatte gerade mein erstes eigenes Projekt, einen Kongress mit 600 Teilnehmern, zu managen.“ Und dann? „Kam Corona.“ Das war‘s mit dem Kongress, das war‘s erst einmal mit den Überlegungen, sich voll auf die Arbeit zu konzentrieren.

Und dann? „Kam das Angebot aus Frankreich.“ Eine kurze Überlegung war es wert, einen Moment des Innehaltens, aber dann war sich Leonie Pankratz sicher, „dass ich das machen muss, so ein Angebot bekommt man nicht noch einmal.“ Das Gefühl war stimmig: Sie hat dann ihre Arbeit gekündigt, die Wohnung gekündigt, die meisten Dinge verkauft, ein paar Sachen in Gießen untergestellt. Das war‘s, der nächste Sprung ins (nicht mehr ganz so) kalte Wasser. Nach 169 Bundesligaspielen und bereits drei Stationen in Spanien, Portugal und Island passt dieser Schritt durchaus in die vergleichsweise illustre Fußball-Karriere der jungen Frau, die ihren spanischen Ehemann Alvaro Molinos Domene, dessen Gedanke, ein Jahr beruflich nach China zu gehen, auch von Corona ausgebremst wurde, mitnimmt. Eine Wohnung wird in Stadionnähe vom Verein gestellt – und Sprachen sind (nicht nur studienbedingt) ihr Ding. Spanisch, Portugiesisch, Englisch, auch Französisch – nur bei ihrem Engagement in Vestmannaeyjar 2016 konnte sie mit Isländisch nicht dienen.

Als Leonie Pankratz 2009 zu UD Levante wechselte, dem spanischen Erstligaclub aus Valencia, stellte sich die (Frauenfußball-)Situation noch völlig anders dar. „Als ich damals nach Spanien bin, wurde mir in Frankfurt noch gesagt, wenn du ins Ausland gehst, ist deine Karriere vorbei.“ Damals, so Pankratz nachdenklich, war Deutschland im Frauenfußball „noch das Nonplusultra. Mittlerweile haben aber viele Nationen nachgezogen, sie haben sich professionalisiert, die Ligen sind professioneller geworden, es sind Sponsoren eingestiegen.“ All das merke man auch daran, dass „viele Spielerinnen aus der Bundesliga jetzt nach Frankreich, England oder Spanien wechseln“. Die ehemalige Juniorennationalspielerin macht sich deshalb schon länger Gedanken. Deutschland müsse aufpassen, man habe sich zu lange darauf ausgeruht, die Topadresse zu sein.

So ist das mit dem Überbau – Pankratz ist eine Spielerin, die auch Kritik an den Strukturen oder dem Verband anbringt, wohltuend angesichts der oft abgegebenen Standard-Statements. Vielleicht auch ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Frauen- und Männerbundesliga. Für sich hat sie immer klare Entscheidungen getroffen – und jetzt ist es eben die, noch einmal an einer absoluten Topadresse ihren Sport auszuüben.

Was aber ist ihr Hauptantrieb, die Motivation, mittlerweile gut die Hälfte ihres Lebens dem Leistungssport zu widmen? Denn es ist doch immer auch eine Entscheidung gegen andere Dinge, gegen Freunde, Freizeit, ein freies Wochenende oder einfach mal spontan wegfahren zu können? Pankratz ist da klar: „Ich würde nie sagen, dass Fußball mein Leben ist. Diesen Satz habe ich noch nie über die Lippen gebracht, aber das Leben durch den Fußball ist toll.“ Dadurch habe sie eben auch „großartige Menschen in großartigen Ländern“ kennengelernt. Denn neben Valencia und Vestmannaeyjar war Pankratz auch in Portugal bei Boavista Porto am Ball, wo sie im Rahmen eines Austauschprogramms auch studierte.

Mit Boavista Porto holte Pankratz („die portugiesische Liga war die am wenigsten professionelle“) 2013 den Landespokal. „Da war ich die einzige Ausländerin, in Island beispielsweise gab es auch Amerikanerinnen und Kanadierinnen.“ Die zurückhaltende, „fast schon zu bescheidene Art der Portugiesen, auch deren angenehme Gastfreundschaft, das hat mir sehr imponiert“. Und in Island schließlich ist Leonie Pankratz bei Vestmannaeyjar auf einer Insel neben der Hauptinsel gelandet. „Ich wusste gar nicht, dass der Verein auf einer kleinen Insel ist“, sagt Pankratz, „die war ungefähr so groß wie die Insel von Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer.“ Ein einmaliges Erlebnis: „Da ist alles im Mini-Format, aber alle sind fokussiert auf den Verein, die Männer spielen auch 1. Liga.“ Und die Gießenerin, die schon lange im Kraichgau lebt und jetzt nach Südfrankreich umzieht, war 2016 im Nordatlantik, „als Island bei der EM so erfolgreich war“. Eine grandiose Erfahrung, wie sie sich erinnert, „auch wegen der unglaublich tollen Landschaft“.

Dass der Fußball die zweite Geige im familieneigenen Orchester spielte, kann man so deutlich vielleicht nicht formulieren, aber mit der Brechstange hat Leonie Pankratz, die durch ihren älteren Bruder zum Fußball kam, nie versucht weiterzukommen. „Ich war für mich in der Sache ehrgeizig, aber ich hätte nie höhere Mächte in Bewegung gesetzt, um etwas zu erreichen.“ Mit Biss, aber nicht verbissen hat sie ihr Talent befördert und „gemerkt, dass es was werden könnte“, als sie in der Hessenauswahl der C-Jugend sehr gut mithalten konnte.

Leonie Pankratz hat im Fußball und der Berufswahl ihren Platz gefunden, und auch ihrem Mann ist angesichts des Wechsels nach Frankreich nicht bange. „Alavaro ist selbst Sportler, fährt Mountainbike und hat manchmal angesichts seiner Trainingsintensität gelacht, wenn ich kaputt war“, sagt Pankratz und lächelt. „Vielleicht war es auch gut, dass ich nie Druck hatte von zuhause, meine Mutter hat mich zwar am Wochenende durch die Weltgeschichte zu den Spielen gefahren, aber der Drang, weiterzukommen, der kam von mir alleine.“

Und jetzt kommt Leonie Pankratz noch einmal weiter, zum HSC Montpellier. Es kursiert ein Video, wo sie den Vertrag unterzeichnet, das Trikot mit der Nummer 13 in Händen. „Es ist schön, immer wieder nach Gießen zu kommen, es ist eine tolerante und junge Stadt“, sagt Pankratz, als sie aufbricht. Packen ist angesagt. Jetzt also Montpellier.

Aufrufe: 029.7.2020, 08:00 Uhr
Rüdiger Dittrich (Gießener Anzeiger)Autor