2024-04-30T13:48:59.170Z

Ligabericht
Stammspieler: In Diensten des FC Gießen ist Jure Colak fester Bestandteil der Innenverteidigung, bevor ihn ein Muskelbündelriss ausbremst. Seitdem arbeitet der 30-Jährige an seinem Comeback, das in zwei bis drei Wochen stattfinden soll. 	Foto: dpa
Stammspieler: In Diensten des FC Gießen ist Jure Colak fester Bestandteil der Innenverteidigung, bevor ihn ein Muskelbündelriss ausbremst. Seitdem arbeitet der 30-Jährige an seinem Comeback, das in zwei bis drei Wochen stattfinden soll. Foto: dpa

Der Traum lebt - auch mit 30

RL SÜDWEST: +++ Jure Colak, Ex-Steinbacher und derzeit beim FC Gießen, hat eine Profikarriere noch nicht abgeschrieben +++

Gießen. Momentan ist Jure Colak verletzt. Tribüne statt Rasen. Physiotherapeut statt Training. Ein Muskelbündelriss hat den 30-Jährigen seit Mitte August zum Zuschauen verurteilt. Nach fünf Partien zum Saisonstart über 90 Minuten. Doch der Kroate, der schon viel erlebt hat und noch mehr erleben möchte, lässt sich nicht unterkriegen: „Ich beiße mich durch, ich möchte mit dem FC Gießen noch viel Spaß haben. Und vor allem: Ich möchte noch lange Fußball spielen.“ In der Regionalliga? „Wer weiß, wo mich das Leben noch hinführen wird?“

In zwei bis drei Wochen möchte Colak wieder mitmischen. Und dem schwach gestarteten, aber inzwischen deutlich verbesserten Aufsteiger zum Klassenerhalt verhelfen. Das Ziel, das jeder Fußballer hat, nämlich möglichst weit oben zu spielen, in Liga eins oder Liga zwei und dabei auch noch richtig gutes Geld zu verdienen, das hat er nicht aus den Augen verloren. „Mein kleiner Bruder hat es geschafft, warum ich nicht auch?“

Antonio Colak ist inzwischen in der Heimat der Eltern Marija und Zeljko aktiv. HNK Rijeka, Hrvatski Telekom Prva Liga. Drei Tore beim Rangvierten in Kroatien, zwei in der Quali zur Europa League gegen den FC Aberdeen. Und vor allem: Mitglied des erweiterten Kaders der Nationalmannschaft. Davor: TSG Hoffenheim, FC Ingolstadt, Darmstadt 98, 1. FC Kaiserslautern, 1. FC Nürnberg. Antonio-Mirko hat es geschafft, Jure wartet noch. Er sitzt quasi in den Startlöchern und scharrt mit den Hufen. Pardon: Stollenschuhen.

Auch wenn die Vita des Innenverteidigers ständige Wechsel verrät, so verneint er, dass das Gießener Waldstadion nur eine Übergangsstation sein wird. „Ich werde hier wertgeschätzt, das gefällt mir. Trainer Daniyel Cimen ist im Frühsommer sogar extra zu mir nach Worms gekommen, um mich zu verpflichten. Das fand ich sehr anständig.“ Deshalb will Colak seinen Teil dazu beitragen, dass der FC sich weiterentwickelt, gut spielt und, wie er es ausdrückt, „einen Schritt nach dem anderen macht.“ Ohne dass der Modellathlet jemals aus den Augen verlieren wird, dass die Reise mit etwas Glück und Geduld auch schnell weit hoch führen kann.

Wie einst im Januar 2017, als er dem Ruf seines Mentors Thomas Brdaric („Ein Klasse-Trainer, er wird irgendwann noch ganz oben auftauchen“), mit dem er ein Jahr zuvor den Klassenerhalt des TSV Steinbach bewerkstelligt hatte, folgte und nach Mazedonien ging. Für den FC Shkendija in Tetovo absolvierte er 14 Partien und erlebte die hitzige Atmosphäre auf dem Balkan mit all seinen Schattenseiten, die ein Kroate in einem Land, das Anfang des Jahrtausends noch von bürgerkriegsähnlichen Zuständen erschüttert wurde, durchleben muss. Als sich im Mai ein Vermittler meldete und ihn bat darüber nachzudenken, ob er sich einen Wechsel nach Asien vorstellen könnte, dachte Colak zunächst an einen Spaß. Und lehnte dankend ab. Doch ein dreitägiger Besuch im Iran überzeugte ihn vom Gegenteil. „Ich hatte tolle Gespräche mit äußerst zuvorkommenden und herzlichen Menschen. So etwas gefällt mir.“ Die Verantwortlichen des Siah Jamegan Khorasan FC legten ihm ein Papier vor, das er nicht ausschlagen konnte. „So viel Geld hatte ich davor noch nie verdient.“ Der Defensivspezialist unterschrieb einen Einjahresvertrag, „denn sie wollten unbedingt jemanden haben, der technisch versiert ist, sich aber in alles reinwirft.“ Eben einen wie Jure Colak, der fortan auf den Straßen von Mashhad, der Heimatstadt von Ali Chamenei, dem Obersten Religionsführer des Iran, auffallen sollte. Groß, gut aussehend, bald mehr Model als Fußballer. Exklusives Appartement in einem großen Hotel, eigener Fahrer, Rundumversorgung in einem Club der „Persian Gulf Pro League“ mit Partien gegen die Teheraner Hauptstadtclubs Esteghlal und Persepolis. Diese Spiele aber musste Colak – bis auf drei – alle von der Tribüne aus verfolgen. 123 Minuten Spielzeit in acht Monaten in jenem religiösen Zentrum, das jährlich von über 20 Millionen Pilgern besucht wird, sind dürftig. Und einer schweren Hüftverletzung samt Operation in Stuttgart geschuldet, die einer Fortsetzung der Karriere lange im Wege stand. „In dieser Zeit habe ich viel über mich und das Leben gelernt, denn die Ärzte haben mir gesagt, ich werde nie wieder spielen können.“

Doch Colak gab nicht auf, arbeitete hart mit und an sich, immer im Kopf, irgendwann doch noch einmal den Sprung in eine bedeutende Liga schaffen zu können. Der Iran, in dem jeder Spieltag ein Feiertag war, in dem sich die Profis ihren eigenen Friseur vor den Partien aufs Zimmer bestellten, „damit“, so Colak, „die Haarpracht auch bei über 40 Grad stets akkurat sitzt“, war eigentlich nur als Übergangslösung gedacht. Auf dem Weg nach Dubai, die Emirate oder Katar. Eben dorthin, wo nicht nur das Erdöl, sondern auch die Petrodollars fließen.

Beim Oberligisten SGV Freiberg hat sich der 30-Jährige nach längerer Zwangspause fitgehalten, den Abstieg von Wormatia Worms aus der Regionalliga hat er bei seinem halbjährigen Engagement nicht verhindern können. Nun also der FC Gießen. Bei dem Trainer Cimen ihm klar gesagt hat: „Ich brauche dich!“ Auch wenn Colak momentan verletzt ist. Und wieder Zeit hat, über sich, das Leben, vor allem aber seinen großen Traum nachzudenken.



Zur Person

Jure Colak ist in Split/Kroatien geboren, aber in der Nähe von Stuttgart aufgewachsen- In der Jugend spielte er für den SGV Freiberg sowie für die Stuttgarter Kickers und den VfB Stuttgart ind er A-Junioren-Bundesliga. Danach hießen die Stationen 1. FC Kaiserslautern II, 1860 München II, Waldhof Mannheim (alle Regionalliga Süd), Wacker Burghausen II (Bayernliga), SC Wiedenbrück (Regionalliga West), TSV Steinbach, FC Homburg (beides Regionalliga Südwest), FK Shkendija/Mazedonien, Siah Jamegan Khorasan FC/Iran und Wormatia Worms (Regionalliga Südwest), ehe der 30-Jährige in diesem Sommer zum FC Gießen kam. (afi)

Aufrufe: 025.9.2019, 08:00 Uhr
Alexander Fischer (Gießener Anzeiger)Autor