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Der ganz, ganz große Traum

Wie ein Kreisligist sogar die Champions League gewinnen kann

Eric Cantona schraubt die Plastikkugel auf, entfaltet den Zettel und zieht die Augenbrauen hoch. Mit Dnipro Dnipropetrowsk ist er gerade noch fertig geworden, diesem Fußball- Synonym für einen Zungenbrecher. Aber SC Teutonia 1921 Kleinenbroich? Nie gehört! Cantona nuschelt etwas auf Französisch, der Simultandolmetscher übersetzt: „Wo zur Hölle kommen die denn her?“

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Es ist Freitag, der 31. August 2018, und im Grimaldi Forum in Monte Carlo wird die Gruppenphase der Europa League ausgelost. Cantona steht auf der Bühne als Vertreter seiner Heimatstadt Marseille, wo im Stade Vélodrome am 15. Mai 2019 das Endspiel stattfindet. Doch daran verschwendet die kleine Fraktion aus Kleinenbroich in diesem Moment keine Gedanken. Zu groß ist allein die Sensation, dass sich der Kreisligist aus der Nähe von Mönchengladbach mit dem Gewinn des DFB-Pokals fürs internationale Geschäft qualifiziert hat. Alles Quatsch? Unmöglich? Okay, Quatsch ist es wirklich, aber: Es ist nicht unmöglich. Gibt man bei Google „Kürzester Weg nach Europa“ ein, erscheinen zunächst Artikel über den DFB-Pokal und dann erst Artikel über Flüchtlingsrouten. Sowohl die Underdogs als auch die Etablierten hauen diese Phrase gerne raus, und sie haben ja Recht: Nur sechs Siege sind nötig bis zur Erfüllung des großen Traums, in der Bundesliga sind die Verhältnisse dagegen zementiert.

Der große Traum ist uns aber nicht groß genug, wir träumen mit dem SC Teutonia Kleinenbroich und allen anderen Kreisligisten vom Niederrhein den ganz, ganz großen Traum, an dessen Ende sogar der Gewinn der Champions League stehen soll, verbunden mit Einnahmen von bis zu 100 Millionen Euro.

Für die Kleinsten der Kleinen ist der Weg nach Europa zwar ein äußerst weiter, aber die Schritte sind zählbar. Kleinenbroich hat bereits am 31. Oktober 2015 das Kreispokalfinale in Mönchengladbach gegen Viktoria Rheydt 2:0 gewonnen. Fünf Schritte hat der A-Ligist schon hinter sich gebracht. Noch zwölf sind es bis in die Europa League.

2016/17 nimmt der SC Teutonia, die „Mannschaft des Jahres“ der Stadt Korschenbroich, am Niederrheinpokal teil. Sechs Siege sind dort nötig bis zum Titelgewinn und zur Qualifikation für den DFB-Pokal. 2017/18 folgen weitere sechs Siege und mit dem Erfolg im Berliner Olympiastadion (2:1 gegen Borussia Dortmund) sichert sich Kleinenbroich einen direkten Startplatz in der Gruppenphase der Europa League – und macht Eric Cantona in Monte Carlo einen Knoten in die Zunge.

Während die sportlichen Aufgaben völlig utopisch erscheinen, kann man sich die logistischen heute schon genauer anschauen. Allein die Durchführungsbestimmungen des DFB-Pokals und der Europa League sind jeweils mehr als 100 Seiten lang. Dort finden sich dann noch zahlreiche Verweise auf andere Dokumente wie die Spielordnung des DFB oder das UEFA-Stadioninfrastruktur- Reglement. Wie hell muss das Flutlicht sein? Wer holt die Schiedsrichter vom Flughafen ab? Wie viele Toiletten muss das Stadion haben? Auf welchen Ärmel kommt welches Logo? Nur der Ausgang der Spiele scheint nicht geregelt zu sein. Wenn Dominik Klouth 2019 den entscheidenden Elfmeter im Europa- League-Finale gegen Atlético Madrid verwandelt, hat Teutonia Kleinenbroich bereits um die 30 Millionen Euro eingenommen. 32 von 45 Schritten sind dann geschafft. Der Europa-League-Sieger hat neuerdings mindestens einen Platz in den Play-offs zur Champions League sicher. Wenn der aktuelle Titelträger über seine Liga für die Königsklasse qualifiziert ist, wovon in der Regel ausgegangen werden darf, geht es für Kleinenbroich sogar direkt in die Gruppenphase. Das bedeutet: weitere zwölf Millionen Euro, bevor das erste Spiel überhaupt angepfiffen wird.

Der heimische Sportplatz „Am Hallenbad“ dürfte bereits in den späteren Runden des Niederrheinpokals an seine Grenzen stoßen, weil größere Klubs wie Rot-Weiss Essen zu viele Fans mitbringen. Schade um die Schlagzeile „FC Bayern gerät am Hallenbad ins Schwimmen“. Ein Umzug in den Borussia-Park erscheint unausweichlich, ermöglicht aber auch immense Zuschauereinnahmen. Seitdem alle DFB-Pokal-Spiele im Pay-TV übertragen werden, sind schon die Anforderungen der Medien zu groß für die Kleinen. Allein für die Übertragungswagen muss ein 600 Quadratmeter großer Parkplatz zur Verfügung gestellt werden. Immerhin sind die Tore von der Kreisliga bis zur Königsklasse durchgehend 7,32 Meter breit und 2,44 Meter hoch.

Bis ein Kreisligist als Champions-League-Sieger den Henkelpott in die Luft stemmen darf, muss er in fünf Jahren 45 Spiele bestreiten und davon die ersten 17 allesamt gewinnen. Im Europapokal genügen sogar Unentschieden. 1:1 beim FC Liverpool, 0:0 zu Hause – völlig ausreichend. Die Liga kann Kleinenbroich in der Zeit sogar schleifen lassen. Groß geträumt wird unter der Woche, wenn das Flutlicht angeht.

Aufrufe: 022.9.2016, 10:05 Uhr
Jannik SorgatzAutor