2024-05-02T16:12:49.858Z

Allgemeines
Meine Fußballcouch steht in Lodz. Allein unter Polen.	Foto: Dziedzic
Meine Fußballcouch steht in Lodz. Allein unter Polen. Foto: Dziedzic

Wenn wir gegen uns spielen

EM: +++ Deutscher Pass gegen polnisches Fußballherz +++ Allein unter Polen muß man sich als deutscher Fan beim Jubeln zurückhalten +++

LODZ/LAUTERBACH. So langsam kehrt er zurück, der polnische Fußballgeist von 1974. Die Erinnerungen an die Wasserschlacht im Frankfurter Waldstadion kommen zurück. Eine Pfütze und Gerd Müllers Instinkt für Tore haben damals das polnische Sommermärchen platzen lassen, obwohl der Stürmer Lato (Sommer) hieß. Mit sieben Treffern wurde er Torschützenkönig des Turniers. ,,Die Deutschen konnten besser schwimmen", hieß es danach. Der Gewinner des Olympischen Turniers 1972 wurde zum Schluss der WM 1974 Dritter. Danach war Polen lange Zeit ein unbedeutender Fleck im internationalen Fußballgeschehen. Pilze suchen und Angeln wurden ,,Nationalsport". Das runde Leder rollte in die Mittelmäßigkeit.

In Lodz wehen verstärkt die Fahnen. Die Menschen bekennen wieder Farbe und stellen Pilzkorb und Angel in die Ecke, um die neue Magie des Fußballs auf sich wirken zu lassen. Der Magier hat einen Namen: Robert Lewandowski, der beste Stürmer der Welt, heißt es. Er lacht von tausenden Plakatwänden im Land und macht im polnischen Fernsehen so ziemlich für alles Werbung. Noch hat er keine Berechtigung sich im Olymp des polnischen Fußballs mit Kazimierz Deyna & Co. auf eine Stufe zu stellen. Der Kader von 1974 wird von der älteren Generation immer noch vergöttert. Fakt ist: Der EM-Auftakt in Frankreich, der Sieg über Nordirland, ist aus polnischer Sicht gelungen. Lewandowski konnte noch nichts von seinem wahren Spielvermögen zeigen. Vielleicht platzt der Knoten heute, wenn es gegen den Weltmeister geht. Für mich keine guten Aussichten. ,,Hilfe, ich bin allein unter Polen!" Besser gesagt, ich besuche die Familie meiner Frau und bin mitten im Zentrum von Lodz. Eine Stadt, die gleich mit zwei Vereinen, ?KS ?ódz und Widzew ?ódz, internationale Fußballgeschichte geschrieben hat.

Leider hat Fußball auch viel mit Emotionen zu tun. Nicht immer sind es die positiven. Russische Hooligans gingen in Marseille mit schlechtem Beispiel voran. Aggressionen schaukelten sich hoch, bis Fäuste und Gegenstände flogen.

Ich werde heute den Ball flach halten und keinen Streit vom Zaun brechen. Als Minderheit werde ich den Torjubel etwas leiser im Kreise der Familie vonstatten gehen lassen. Deutschland - Polen, das ist für mich schon etwas zwiespältig. Absolut uneins mit dem Spiel ist Maria Otterbein gebürtige Polin mit deutschem Pass und nebenbei noch meine Ehefrau. Sie hat ein großes Fußballherz und das schlägt in dem Fall für das Heimatland. Es ist noch nicht lange her, da drückte sie Jogi Löw und seinen Jungs die Daumen in Brasilien und ruinierte sich die Nerven. In der deutschen Bundesliga kennt sie sich aus und Borussia Dortmund ist ihr Lieblingsverein - seit ?ukasz Piszczek, Jakub B?aszczykowski und Robert Lewandowski, das polnische Dreieck, dort aufgelaufen sind. Zu Lewandowski hat sie eine Meinung: ,,Mal spielt er wie ein Gott, mal wie eine Flasche leer."

Der heutige Abend kann wieder Nerven kosten, denn wer mit meiner Frau Fußball schaut, muss die Randerscheinungen mit in Kauf nehmen. Lautes Schreien und wildes Gestikulieren gehört dazu, deftige Schimpfwörter auch, die sonst nicht über ihre Lippen kommen. Die Begeisterung ist groß, dabei hat sie noch kein Stadion von innen gesehen. Menschenmassen sind nicht ihr Ding. Vor dem Fernseher lässt sich auch die Traineraufgabe so schön übernehmen. Ich muss gestehen, meine Frau hat Fußballverstand. Ich hingegen will Tore sehen, wie die zustande kommen, ist mir egal. Natürlich mag ich die Polen und ihre Mannschaft. Ich bin seit 1989 immer wieder Gast in diesem Land. Neben den vielen positiven Eigenerfahrungen habe ich noch alle Bücher des ,,Polenflüsterers" Steffen Möller gelesen. Ein TV-Star in Polen und in Deutschland hauptsächlich als Bestsellerautor unterwegs, war er auch für ,,Der Vulkan lässt lesen" in Lauterbach. Wer Polens Land und Leute auf intelligente und unterhaltsame Weise verstehen will, sollte unbedingt seine Bücher lesen. Ich habe bei Steffen Möller nachgefragt, um seine Prognose zu erhalten: ,,Ich werde das Spiel in Deutschland gucken, im Kreise von Berliner Freunden, und ich tippe 1:1. Meine Hoffnung ist, dass wir uns im Finale wiedersehen, denn dann ist Polen in aller Munde." Wie die Geschichte ausgehen würde, soweit wollen wir noch nicht denken. Wir denken von Spiel zu Spiel.

,,Ich wünsche mir wirklich, dass Polen Europameister wird. Deutschland hat schon so viele Titel geholt", bezieht meine Frau Stellung. Und wieder schwärmt sie von 1974. Paul Breitner war einer der Lieblingsspieler des Feindes. ,,Der kann mit den Füßen sogar Dosen öffnen", sagten die Polen damals.

Mit gemischten Gefühlen sehne ich den Anstoß herbei. Wird meine Ehe nach den 90 Minuten noch weiter Bestand haben, sollte Polen verlieren? Oder werde ich mich von meiner Frau scheiden lassen, falls Lewandowski mein Land abschießt? Nein, bestimmt nicht. Es ist nur ein Fußballspiel und ich bin und bleibe der größte Fan meiner Frau.



Aufrufe: 016.6.2016, 07:45 Uhr
Gerhard Otterbein (Lauterbacher Anzeiger)Autor