2024-04-24T13:20:38.835Z

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F: Reinhardt
F: Reinhardt

Von Flug- und Fluchkurven - oder zwei spektakulären Spielen

+++ Beobachtungen am Rande in Kinzenbach und beim VfB 1900 Gießen +++

Giessen. Wer sich für Flugkurven von Bällen interessiert, der hätte am Sonntag doppelt Spaß gehabt. In Kinzenbach beispielsweise war es Eberhard Gienger, dessen Flugkurve am Fallschirm hängend mittlerweile bekannt sein dürfte, der diesmal aber bei seinem Landeanflug auf den neuen Kinzenbacher Kunstrasen nicht die Ball-Sicherheit eines Manuel Neuer ausstrahlte. Die Kugel, die im besten Fall in den Armen Giengers im Mittelkreis landen sollte, um den historischen Moment zu unterstreichen, entglitt dem ehemaligen Reck-Weltmeister und landete „ab vom Schuss.“ Nun wäre zu überprüfen, ab welcher Fallhöhe ein Ball einen Zuschauer zu Fall bringen würde, das heißt, wie gefährlich es ist, wenn ein Fußball per Fallschirm eingeflogen wird, der sich dann unkontrolliert auf den Weg macht. Sagen wir mal so: Müssen Zuschauer von solch spektakulären Ereignissen künftig einen Helm tragen?

Doch weg von dieser Randgeschichte, hin zum Wesentlichen, nämlich der Erkenntnis, dass 800 Zuschauer in Kinzenbach den neuen Kunstrasen nebst einem rasanten Spitzenspiel genossen, übrigens mit sowohl auf Kinzenbacher als auch Fernwälder Seite unzähligen Spielern, die schon das Trikot des VfB 1900 Gießen trugen. Tatsächlich bot die Partie zwischen der SG und dem FSV Fernwald eine weit über Gruppenliga-Niveau liegende Besetzung.

Ein paar Kilometer weiter verloren sich 49 zahlende Zuschauer auf dem alles andere als neuen Kunstrasen des VfB Gießen, der – das wird immer wieder vergessen – ja immer noch eine Klasse höher angesiedelt ist. Die Ball-Flugkurve, die hier zu bewundern war, war indes auch nicht von Pappe. Wer es nicht gesehen hat, macht sich keine Vorstellung davon, mit welchem Drall das Geschoss von Oberliederbachs Nummer 14 an den linken Pfosten prallte, um dann parallel zur Torlinie dem rechten Pfosten zuzustreben und sich dort, als werde der Ball von Geisterhand gesteuert, sich um das Aluminium herum ins Tor-Aus zu drehen.

Das war aber nicht die einzig bemerkenswerte Szene in einem Spiel, von dem man zuvor dachte, es könne der Gruppenliga-Spitzenbegegnung in Kinzenbach das Wasser nicht reichen.

Dabei war das Spiel des VfB 1900 Gießen sein Eintrittsgeld wert, auch wenn dieses Eintrittsgeld angesichts der dünnen Zuschauerzahl wohl kaum gereicht hat, um die Schiedsrichterkosten zu decken. Bonjour Tristesse. Für die wenigen Zaungäste auf den bröselnden Rängen hinter dem Waldstadion war aber nicht nur die alle physikalischen Gesetze aushebelnde Kurve des Pfostenschusses eine Besonderheit, sondern die ganze Dramatik eines Spiels, dem man vorher das Etikett „David gegen Goliath“ aufgeklebt hätte.

Und dann glich es eben auch irgendwie einer griechischen Tragödie. Dort der VfB 1900, Tabellenletzter mit limitierten Mitteln, da die SG Oberliederbach, eine im Vorderfeld angesiedelte Verbandsliga-Mannschaft, die unverdient 2:0 in Führung lag, während die Gießener um ihre Chance kämpften, als gäbe es kein morgen. Mit dem türkischen Neuzugang Yunus Silik hat der VfB zudem einen Mann hinzugewonnen, der eine spielerische Komponente hineinbringt, die die exakt sieben Köpfe starke Edelfan-Kurve bescheinigen ließ, dass „sie sich wirklich total weiterentwickelt haben“.

In der Tat waren die Gießener spielerisch nicht schlechter als die als spielstark geltenden Gäste. Wenn auch taktische Feinheiten eher im Kampfesgetümmel und -willen der Rahmani-Elf untergingen, so war doch beeindruckend zu sehen, dass sich diese gebeutelte Mannschaft nicht aufgibt und trotz nahezu hoffnungsloser Lage alles versucht. Und wer den Jubel nach dem 2:2 von Dennis Jost nahe der Eckfahne beobachten durfte, der kam tatsächlich nicht umhin, sich kräftig mitzufreuen und die Daumen zu drücken, dass die Aufholjagd doch bitte von Erfolg gekrönt sein sollte. Doch in griechischen Tragödien (und im Fußball) gibt es keine Gerechtigkeit, da wird man unschuldig schuldig gesprochen. Oder kassiert völlig unnötig und unverdient eben doch noch ein Tor. Ein Fehler in der Minute 90 plus 2, ein wenig zuviel Freiraum auf der Außenbahn für Steffen Janke, der passte in die Mitte, wo Denny Piazza eiskalt zuschlug.

Die Fluchkurve der VfB-Spieler, die am Boden zerstört auf dem Kunstrasen saßen, nahm nach Abpfiff immense Ausmaße an. So ist Fußball. In Kinzenbach vor 800 Zuschauern ein Fest. In Gießen vor 50 Zuschauern ein Drama. Aber da wie dort ein Erlebnis. Nicht nur wegen der seltsam fliegenden Bälle.



Aufrufe: 02.11.2016, 08:11 Uhr
Rüdiger Dittrich (Gießener Anzeiger)Autor