2024-05-08T14:46:11.570Z

Interview
Nur eine von zahlreichen Entscheidungen: Die Spuck-Attacke gegen Thomas Hitzlsperger (rechts) brachte dem Schalker Lincoln (Mitte) nach der Roten Karte durch Schiedsrichter Lutz Wagner auch eine vierwöchige Sperre ein. 	Foto: dpa
Nur eine von zahlreichen Entscheidungen: Die Spuck-Attacke gegen Thomas Hitzlsperger (rechts) brachte dem Schalker Lincoln (Mitte) nach der Roten Karte durch Schiedsrichter Lutz Wagner auch eine vierwöchige Sperre ein. Foto: dpa

"Überstehe das erste Jahr"

INTERVIEW: +++ Ehermaliger Bundesliga-Schiedsrichter Lutz Wagner im Gespräch +++

Lauterbach. Am Dienstag war Lutz Wagner zu Besuch in Lauterbach. Am Rande seines Vortrages in der Schule an der Wascherde nahm sich die deutsche Schiedsrichter-Legende Zeit für ein Gespräch über seinen Werdegang vom heimlichen Schiri-Neuling beim SV 07 Kriftel bis zum großen Unparteiischen mit fast 200 Einsätzen in der Bundesliga. Der heutige DFB-Ausbilder erzählte im exklusiven Interview mit dem LA von seinen Erlebnissen bei den großen Derbys der Republik und einem Meisterschafts-Endspiel in Südkorea, erklärte den Unterschied zwischen einem sehr guten und einem ausgezeichneten Schiedsrichter – und gab allen jungen Kollegen im schwarzen Dress einen goldenen Tipp mit auf den Weg.

Herr Wagner, wie sind Sie überhaupt zum Schiedsrichter-Wesen gekommen? Wie hat das bei Ihnen angefangen?

Ich habe natürlich sehr, sehr gerne Fußball gespielt, anfangs in der Jugend, und wir hatten damals einen Schiedsrichter, der war genauso alt wie ich. Das war in der C-Jugend. Ich habe ihn angesprochen und habe gesagt: „Klasse gemacht. Wie wird man denn Schiedsrichter?“ Er hat mir dann gesagt, wo ich mich melden soll und wo ich da hingehen kann. Und da bin ich erstmal heimlich hin, weil ich gedacht habe: Wenn Du durchfällst, muss das ja keiner wissen. Dort habe ich mich dann angemeldet, habe den Schein gemacht und mein Verein hat erst mit Verspätung mitbekommen, dass ich ja mittlerweile Schiedsrichter bin. Anfangs habe ich parallel Fußball gespielt und Schiedsrichter gemacht. Dann musste ich mich aber irgendwann, als ich auch als Schiedsrichter gut vorankam, auch mal entscheiden, gerade wenn es in höherere Klassen geht, wem oder was räume ich Priorität ein. Ich habe mich für die Schiedsrichterei entschieden, weil: Ich wäre nie als Fußballer dahin gekommen, wo ich jetzt letztendlich als Schiedsrichter gelandet bin.

Bei welchem Verein haben Sie Ihre Laufbahn begonnen? Sie haben gesagt, Sie kommen aus dem Taunus...

SV 07 Kriftel, das ist mein Heimatverein, dem bin ich auch bis heute noch treu. Ja, und für einen Schiedsrichter ist es, anders wie bei einem Spieler, der ja gewisse Mitspieler und vielleicht einen Verein mit einem entsprechenden Umfeld braucht, nur wichtig, dass er einen Verein hat. Kriftel ist mein Heimatverein, da bin ich sehr gut aufgehoben, da fühle mich wohl und da bin ich heute noch.

Sind sie dort auch heute noch als Fußballer und als Schiedsrichter aktiv?

Jetzt nicht mehr. Als Schiedsrichter ist man ja dann mit 47 zu alt. Als Fußballer habe ich von der Jugend gespielt bis in den Aktiven-Bereich rein und musste dann im Prinzip aufhören. Heute spiele ich ab und zu nochmal in der Schiedsrichter-Mannschaft oder auch bei einem Benefiz-Spiel, aber im Prinzip nicht mehr unter Wettbewerbsbedingungen.

Wenn Sie zurückdenken an Ihre aktive Laufbahn in der Bundesliga oder in internationalen Ligen: Was war es für ein Erlebnis, auf so einer Bühne tätig zu sein? Sie haben ja davon berichtet, wie das ist, in Dortmund vor 80 000 Zuschauern zu stehen, die „Hängt Sie auf, die schwarze Sau“ singen, aber auch von schönen Momenten. Wie haben Sie das erlebt?

In dem Moment, wo das Spiel stattfindet, kann man sich ja eigentlich gar nicht so erfreuen oder es genießen, weil man so fokussiert und so konzentriert ist. Bis unmittelbar vor dem Spiel haben Sie noch eine Möglichkeit, alles aufzusaugen und auch nach dem Spiel lassen Sie alles Revue passieren. Im Spiel sind Sie wie in einem Tunnel. Da sind Sie fokussiert und konzentriert und Sie wollen ja möglichst keine Fehler machen. Sie versuchen, alles zu erkennen und zu ahnden, ja, und auch das Spiel entsprechend zu begleiten. Also, da kann man im Spiel jetzt nicht so, wie man denkt, dass man da steht und sich freut: „Ach, es läuft doch so toll“. Dafür bleibt bei der Schnelligkeit des Spiels keine Zeit.

Was war ein besonders schlimmes Erlebnis in Ihrer Schiedsrichter-Laufbahn? Und was war auf der anderen Seite ein besonders schönes?

Ich fange generell, weil ich ein positiver Mensch bin, mit dem schönen an. Das Schöne war, dass ich zum Beispiel an Stellen gekommen bin, wo ich sonst nie hingekommen wäre, unter anderem habe ich auch eine ganz tolle Erfahrung gemacht. Nach der WM 2002 habe ich für eine längere Zeit in Korea gepfiffen, in Südkorea wohlgemerkt, und habe dort Schiedsrichter a) ausgebildet, aber andererseits auch die Top-Spiele gepfiffen. Ich bin dann aufgrund dessen zwei Jahre später zum entscheidenden Spiel, dem Endspiel um die Meisterschaft, dort nochmal angefordert worden. Das war eine klasse Form von Wertschätzung. Tolle Atmosphäre, super Stadien, sehr, sehr angenehme und nette Menschen - also eine wunderbare Erinnerung, die ich nie missen möchte.

Und die negativen Dinge: Ich glaube, wenn man Fehler macht und wird sich derer bewusst, und man merkt auch, dass eine Mannschaft oder ein Spieler darunter leidet, dann tut einem das sehr weh. Also das ist was, das hat mich immer runtergezogen, da war ich erst mal eine Zeit lang gar nicht gut zu gebrauchen. Da musste man sich schnell wieder rausholen, um wieder neuen Mut zu schöpfen und wieder mit Tatkraft an die Sache zu gehen. Ein Spiel, das mir sehr zu denken gegeben hat, war das einzige Spiel in Deutschland, das damals unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat, das Spiel Alemannia Aachen gegen Nürnberg. Da gab es mal ein sogenanntes Geisterspiel auf dem Aachener Tivoli: ein Spiel ohne Zuschauer, vor gespenstischer Atmosphäre. Da habe ich doch erstmal gemerkt, wie wichtig Emotionen sind, wie wichtig Fans sind, wie wichtig das alles zum Fußball gehört. Und da habe ich mich direkt danach gesehnt, dass ich auch mal wieder beschimpft oder ausgepfiffen werde.

Was war im positiven Sinne Ihr besonderstes Spiel?

Ja, zum Beispiel dieses Spiel in Korea, mit Sicherheit. Und ansonsten: Ich glaube, in der Bundesliga ist jedes Spiel eine Riesen-Herausforderung. Weil die Bundesliga ist eine brutal ausgeglichene Klasse. Natürlich können Sie sagen: Da haben Sie das Münchner Derby, da haben Sie Dortmund - Schalke oder Bremen - HSV, das habe ich schon gepfiffen. Aber manchmal sind es die Spiele, die am Anfang unscheinbar sind. Ich habe zum Beispiel unwahrscheinlich gerne in der ersten Pokalrunde gepfiffen, weil dann spielt ein kleiner Verein gegen einen Bundesligisten. Und für diesen Verein ist es das Spiel des Jahres. Da ist, ich sag jetzt mal, die ganze Stadt, der ganze Ort in heller Aufregung. Es ist so eine ganz tolle Atmosphäre – und dort dabei zu sein und das auch über eine längere Zeit in diesem Fußball-Zirkus mitzumachen, das hat halt einfach unwahrscheinlich Spaß gemacht. Und oftmals sind es auch die zwischenmenschlichen Dinge, die Leute, die man kennenlernt und die Verbindungen, die man heute noch hat, die noch wichtiger sind im Nachhinein als das Sportliche.

Sie sind heute, nach Ihrer aktiven Laufbahn, der Coach der Bundesliga-Schiedsrichter und einer der wichtigsten Schiedsrichter-Ausbilder des Landes. Was würden Sie denn einem jungen Menschen, der heute Schiedsrichter werden will, als Tipp mit auf den Weg geben?

Also als Allererstes: „Überstehe das erste Jahr.“ Weil das erste Jahr ist für einen Schiedsrichter das schwierigste. Er hat noch nicht das sogenannte, sprichwörtliche dicke Fell, er hat im Prinzip noch keinerlei Erfahrung - und er wird trotzdem von Anfang an gleich so gesehen, als wäre er der perfekte Schiedsrichter. Das heißt also, er hat natürlich schon mit dem Umfeld zu kämpfen. Die Zahlen der Schiedsrichter zeigen: Wir bilden jedes Jahr zwischen 8 000 und 10 000 Schiedsrichter neu aus in Deutschland. Aber im ersten Jahr verlieren wir weit über 50 Prozent wieder. Warum? Weil viele kommen dann mit den Begleitumständen auf den Plätzen nicht klar. Wenn einer dann mal ein Jahr dabei ist, hat im Prinzip schon die ersten „Erfolge“, merkt schon, dass das klappt, ist schon mal mit den ersten Schwierigkeiten umgegangen und hat die ersten Klippen überwunden, dann bleibt der meistens auch dabei. Und das kann ich eigentlich jedem nur wünschen, dass er diese Zeit übersteht.

Wir haben jetzt mittlerweile ein Paten-System in Deutschland, dass junge Leute auch Paten an die Hand kriegen, aber letztendlich muss er selber Schiedsrichter bleiben wollen und dann wird er es lange bleiben. Dass er fit sein muss, dass er Gerechtigkeits-Sinn haben muss, dass er eine gewisse Menschenkenntnis mitbringen muss, dass er die Sache immer in den Vordergrund stellt und nicht die Person, ich glaube, das sind so gewisse Grundvoraussetzungen oder Wesenszüge. Aber nachher, mit den Schwierigkeiten richtig umzugehen und nicht den Mut zu verlieren, ist – glaube ich – ganz wichtig.

Werfen wir noch einen Blick auf die Profi-Schiedsrichter: Sie haben in Ihrem Vortrag Pierluigi Collina und Wolfgang Stark als Beispiele angesprochen. Was zeichnet für Sie einen absoluten Spitzen-Schiedsrichter aus, der auch auf internationaler Ebene pfeift?

In Deutschland können mit Sicherheit sehr viele Schiedsrichter aufgrund ihrer Regelkenntnisse und ihrer körperlichen Fitness ein Bundesliga-Spiel leiten. Das Entscheidende ist, dass ich das, was ich kann, unter allen Bedingungen abrufen kann, auch unter schwierigsten Bedingungen. Wenn die Sonne scheint und der Heimverein 3:0 führt, ist es relativ einfach. Wenn es aber 0:1 steht und ich habe vielleicht schon einen vom Platz gestellt und das Stadion steht Kopf, ist es umso schwerer, dieselbe Leistung abzurufen. Ich glaube, das ist das Geheimnis: Dass Du Dinge eben unter allen Bedingungen abrufen kannst und nicht nur, wenn sie optimal sind. Das ist der Unterschied. Wir haben viele, sehr gute Schiedsrichter, aber eben nur einige ausgezeichnete. Die Ausgezeichneten können das gleiche wie die sehr Guten, aber sie können es unter allen Umständen abrufen.

Wie stehen Sie zu den jüngsten Entwicklungen im Profi-Fußball, Stichwort: Videobeweis? Und wie sehen Sie das, wenn Sie früher – Ihre aktive Laufbahn mit rund 200 Bundesliga-Spielen – mit heute vergleichen?

Also, ich persönlich hätte mir bei mancher schwierigen Entscheidung den Video-Beweis gewünscht, weil er mich sehr wahrscheinlich vor einem schwerwiegenden Fehler bewahrt hätte. Und wer macht schon gerne Fehler? Wenn man irgendeine Chance hat, die zu korrigieren, dann nimmt man diese Hilfe gerne an. Ich glaube, das Wichtige ist, das ist zumindest meine Meinung, dass dies nicht den Fußball verändert, dass es wirklich auf wenige, elementare Dinge beschränkt bleibt und nicht zu einem Videospiel wird. Und ich glaube, da sind wir schon auf einem guten Weg, aber das muss eben die Zukunft zeigen. Jetzt sind die ersten Schritte in die Wege geleitet und jetzt muss man aufmerksam schauen, wie es weitergeht.

Ihr Vortrag hat großen Eindruck beim Publikum hinterlassen. Wie fanden Sie denn Ihren Ausflug in den Vogelsberg?

Tja, also ich komme ja – das sage ich jetzt nicht, weil ich hier Gast bin – sehr gerne hierher. Bevor ich DFB-Lehrwart wurde, war ich ja zehn Jahre Verbandslehrwart in Hessen. Und da war meine sportliche Heimat die Sportschule in Grünberg. Und von daher ist mir hier die gesamte Umgegend nicht unvertraut. Ich war hier auch oft früher zu Spielen unterwegs und das Schöne ist: Wenn man dann jetzt eben hier steht und einen Vortrag halten darf, sieht man im Publikum den einen oder anderen sitzen, den man noch von früher kennt. Dann ist das natürlich umso schöner.



Steckbrief

- Name: Lutz Wagner

. Alter: 53

. Beruf und sportliche Funktionen: Selbstständiger Unternehmer, DFB-Schiedsrichter-Lehrwart, Schiedsrichter-Coach der Bundesliga

. Wohnort: Kriftel

. Familienstand: verheiratet, 1 Tochter

Aufrufe: 018.11.2016, 17:55 Uhr
Johannes Kuck (Lauterbacher Anzeiger)Autor