2024-05-02T16:12:49.858Z

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Immer wieder sind vor allem Schiedsrichter Zielscheibe von Beleidigungen auf dem Fußballplatz. Ob solche Hinweisschilder dies verhindern können?  Archivfoto: Fotokombinat, imago
Immer wieder sind vor allem Schiedsrichter Zielscheibe von Beleidigungen auf dem Fußballplatz. Ob solche Hinweisschilder dies verhindern können? Archivfoto: Fotokombinat, imago

Tatort Fußballplatz

Ein »Du Volldepp« gehört noch zu den harmloseren Beleidigungen auf dem Spielfeld +++ Der Ton in den unteren Ligen wird immer rauer +++ Jede Woche urteilen Sportgerichte über die krassesten Fälle +++ Die Bilanz der Sünden an einem Augsburger Abend

Auf dem Tisch liegen: ein „Du Trottel“, ein „Wichser“, ein „Du Volldepp“, ein „Scheiß Schiri, so ein Depp“ und eine abschätzige Bemerkung über die Bundeskanzlerin. Weich verpackt zwar in reichlich Fußballdeutsch und DIN-A4-konform getackert, jede Entgleisung eine eigene Akte. Aber liest man aus den Papierstapeln den Kern heraus, dann ist ein guter Teil davon richtig derb, ja vulgär, und den Lesern einer seriösen Familienzeitung nur schwer zuzumuten.

Gleichermaßen: Ein solcher Ton gehört zur Wahrheit auf unseren Fußballplätzen. Mögen der Sport, die Leidenschaft, der Spaß noch so sehr im Mittelpunkt stehen. Und mögen die verbalen Ausraster nicht in jedem Spiel die Regel sein. Es gibt sie, und zwar immer öfter. Sie gesellen sich zu den anderen kleinen und großen Vergehen, dem vergessenen Spielerpass, dem rüden Foul, harmlosen Sprüchen wie: „Du darfst deine Pfeife ruhig an den Nagel hängen.“ Es dauert dann ein paar Tage, und die Sünder-Bilanz eines Wochenendes liegt bei greller Deckenbeleuchtung auf einem ovalen Tisch in Augsburg. Denn Strafe muss sein.

Zum Tribunal geht’s in den Stadtteil Pfersee. Ein Mehrfamilienhaus in einem schwach beleuchteten Wohnviertel. Auf der Klingelleiste steht zwischen Hinz und Kunz „Sportgericht“. Türsummer, Hochparterre, man ist geneigt zu fragen, ob man die Schuhe ausziehen soll. Rund um die schwäbische Geschäftsstelle des Bayerischen Fußball-Verbandes sind Wohnungen, und irgendwie sieht es drinnen beim BFV auch ein wenig so aus.

„Tribunal“ klingt vielleicht ein wenig martialisch für das, was jeden Dienstagabend hier geschieht. Drei Männer, alle keine Juristen, dafür Praktiker durch und durch, weil seit Jahrzehnten im Amateurfußball verankert, richten in Jeans und Pullovern über die „Bösewichte“ eines Spieltages. In dieser Besetzung seit acht Jahren. Da ist der Chef der Runde, Harald Schnitzlein, 58, angestellt in einer Druckerei. Peter Winter, 55, Außendienst-Mitarbeiter. Und Anton Grahammer, 63, Chef einer Elektrotechnik-Firma und Bruder des früheren FC-Bayern-Profis Roland Grahammer.

Um zu verstehen, was die Herren an diesem Abend mit dem Papierstapel auf dem ovalen Tisch anstellen, muss man Folgendes wissen: In jedem bayerischen Regierungsbezirk gibt es mehrere Fußball-Sportgerichte. Sie sprechen Strafen aus für Spieler, die vom Schiedsrichter des Feldes verwiesen wurden, wegen eines Fouls oder einer Beleidigung. Sie urteilen über Spielabbrüche und formale Vergehen. Während Akteure und Trainer Spieltage in Punkten und Toren analysieren, bekommen die Sportgerichte also die negativen Begleiterscheinungen auf den Tisch. All das, was in regelmäßigen Abständen große Debatten in den Medien provoziert, verbunden mit der Erkenntnis: Die Sitten auf dem Spielfeld verrohen immer mehr. „Da ist was dran“, wird Harald Schnitzlein später dazu sagen.

Ein Sportgericht ist kein ordentliches Gericht wie ein Amts- oder Landgericht. Es verhängt Sperren und Geldbußen nach einem Verfahrenskatalog, den der Fußball-Verband aufgestellt hat. Mit dem Strafgesetzbuch hat dies nichts zu tun. Wird ein Spieler etwa durch einen brutalen Tritt schwer verletzt, kann er den Übeltäter theoretisch wegen Körperverletzung anzeigen. Der Fall landet dann womöglich vor einem „normalen“ Gericht. Für das Urteil des Sportgerichts spielt dies aber keinerlei Rolle. Dieses befindet lediglich über die Rote Karte, die der Spieler erhalten hat, sperrt ihn also für eine oder mehrere Partien.

Der Abend fängt mit einem „Du Trottel“ an. Wer das gesagt hat und für welchen Verein er spielt, muss unerwähnt bleiben. Bayerns Datenschutzbehörde in Ansbach habe dem BFV verboten, Sportgerichtsurteile „mit Vereinsnamen und Personennennung öffentlich zu machen“, sagt dessen Rechtsexpertin Grit Labahn. Lediglich betroffene Vereine könnten digital über einen Login-Bereich auf Urteile zugreifen.

„Du Trottel“, das klingt vergleichsweise harmlos. Aber Beschimpfung ist Beschimpfung. Deshalb hat der Schiedsrichter zur Roten Karte gegriffen. „Ein Spiel?“, fragt Peter Winter in die Runde. Zwei nickende Köpfe, Sperre bestätigt. Etwa 30 Fälle sind abzuarbeiten, etwas mehr als sonst üblich. 30 Fälle nur von einem Wochenende. In einer Saison kommen zwischen 500 und 700 zusammen – die nur auf dem Tisch der drei Männer landen.

Sie sind vom BFV-Präsidium berufen worden – immer für vier Jahre, ein reines Ehrenamt übrigens – und für alle Männer-Partien von der untersten Klasse bis zur Kreisliga im Dreieck Augsburg-Stadt und -Land, Aichach sowie Neuburg an der Donau zuständig. Für den Rest Schwabens (und eines kleinen Teils von Oberbayern) gibt es auf dieser Ebene zwei weitere Sportgerichte.

Im Regelfall urteilen sie nach Aktenlage. Mündliche Verhandlungen sind selten. Das Prozedere ist immer gleich. Der Schiedsrichter schreibt digital seinen Bericht. Dieser landet bei Schnitzlein, Winter oder Grahammer. In der Zwischenzeit kann sich der betroffene Verein zu den Vorwürfen gegen seinen Spieler äußern. Wo nötig, telefoniert der Sportrichter hinterher. In der Gruppe wird dann diskutiert: Gab es eine Provokation? Wo war der Ball? Zeigt der Spieler Reue? Gemeinsam wird entschieden. Das Urteil liegt noch am selben Abend im elektronischen Postfach des Vereins. So geht das Dienstag für Dienstag.

Die wuchtigen Pokale auf dem halbhohen Wandschrank strahlen frech in den Raum, als die hässlichen Auswüchse der Erfolglosigkeit und des Frustes verhandelt werden. Eine saftige Schiedsrichter-Beleidigung beim Stand von 0:6. Ein Fluch über die Asylpolitik von Angela Merkel. Ein fieser Tritt von hinten in die Beine. Ein Mittelfinger. Vor allem: immer wieder der Griff tief in die Schimpfwort-Schatulle. In den unterschiedlichsten Sprachen.

Jetzt mal ehrlich: War das schon immer so? Schnitzlein setzt die Lesebrille ab, überlegt einen Augenblick und sagt: „Wir haben nicht mehr Fälle. Aber die Intensität nimmt zu.“ Heißt: Die Fouls sind heute teilweise übler. Aber noch viel mehr: „Die verbalen Entgleisungen, vor allem gegenüber Schiedsrichtern, haben eminent zugenommen.“

Was tun? Oft fällt der Satz: Der Fußball ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Wenn dort die Sitten verrohen, tun sie es im Fußball auch. Wahrscheinlich stimmt das. Härtere Strafen sind ein Schritt, aber „kein Allheilmittel“, sagt Schnitzlein. Der Verband versucht, mit Fair-Play-Aktionen gegenzusteuern, mit Anti-Gewalt-Kursen oder Schulungen, bei denen Spieler den Blickwinkel von Schiedsrichtern einnehmen. Die Sportrichter können solche Kurse auch als Bewährungsauflage verhängen. Aber das Ganze ist ein mühsamer Weg. Schwappen auf dem Platz die Emotionen über, wird die Zunge eben locker. Sehr locker.

Schnitzlein erinnert sich an einen krassen Fall vor neun Jahren, der auch körperlich brutal war. Ein Spielertrainer aus Burgau bei Günzburg, einst Profi in Ulm, bespuckte erst den Schiedsrichter, streckte ihn dann mit einem Kopfstoß nieder und legte später gegenüber unserer Zeitung verbal nach. Er wurde lebenslang gesperrt, in diesem Fall vom Verbands-Sportgericht, nach Jahren aber wieder begnadigt.

Immer wieder also steht der Schiedsrichter im Mittelpunkt. Peter Winter war selbst mal einer. Sein Gespür kann hilfreich sein. Und der Kontakt zu den Ex-Kollegen. Vieles lässt sich besser einschätzen. Winter schüttelt aber auch mal den Kopf, wenn einer die Gründe für einen Platzverweis nur in einem dürftigen Satz erklärt hat. Das Gericht soll daraus nun den ganzen Vorgang ableiten. Und dann pfeift auch nicht jeder, um es vorsichtig zu sagen, auf Bundesliga-Niveau. Aber eine Attacke auf den Schiedsrichter, das geht gar nicht. Die Richter schlagen dann ihr Regelwerk auf, ein DIN-A5-Ringbuch, blättern zu Paragraf 68 und greifen durch. Für Beleidigung oder Bedrohung sind bis zu sechs Monate Pause möglich, bei einer Tätlichkeit droht im schlimmsten Fall eine lebenslange Sperre.

Die ARD hat Anfang des Jahres in ihrer Doku „Tatort Kreisklasse – Wenn der Schiri zum Freiwild wird“ ein regelrechtes Schreckensbild vom deutschen Amateurfußball gezeichnet. Sie stützte sich auf eine Studie der Tübinger Kriminologin Thaya Vester, die mehr als 2600 Schiedsrichter in Baden-Württemberg befragt hatte. Mit dem Ergebnis: Knapp 40 Prozent sind schon mal ernstlich bedroht und 17 Prozent körperlich angegriffen worden.

„Ich halte von so einem Film nicht viel.“ Sagt ausgerechnet ein Schiedsrichter. Der Zufall will es, dass an diesem Abend im Nebenraum die Spitze der Augsburger Unparteiischen tagt. Thomas Färber, 34, Rechtsanwalt, ist ihr Chef. Er pfeift in der höchsten bayerischen Klasse, der Regionalliga. Hat auch schon das eine oder andere Unschöne erlebt. Und sagt trotzdem: „So ein Film kann für unsere Arbeit kontraproduktiv sein.“ Klar, die Probleme seiner Zunft mal in den Mittelpunkt zu stellen, sei schon hilfreich. Aber gleich so drastisch? „Bei allem Ärger mit Beleidigungen ist die Lage in unserer Region ruhiger als in Metropolen wie Berlin“, sagt er. Zwar macht sich fast jeder zweite bayerische Schiedsrichter Sorgen über die Entwicklung, ergab eine BFV-Umfrage 2012. Gleichzeitig sagen 90 Prozent, dass sie sich auf dem Platz sicher fühlen.

Und noch etwas stört Färber an der TV-Doku: „Mit solchen Bildern tun wir uns schwer, Nachwuchs zu gewinnen.“ Schon jetzt ist es nicht einfach, alle gut 250 Spiele am Wochenende in seinem Bereich zu besetzen. Letztens musste ein Kollege drei Partien an einem Tag leiten, „das sehen Außenstehende nicht“.

Ein paar Meter weiter haben die Sportrichter gerade ihr letztes Urteil verschickt. Um kurz vor elf. Ein Fall ist liegen geblieben. Unterste Liga. Drei Rote Karten in der 90. Minute. Danach Spielabbruch, weil eine Mannschaft einfach den Platz verlassen hat. Kurios ist: Die Partie wurde zufällig gefilmt. Und die Aufnahmen passen mit den Aussagen des betroffenen Vereins so gar nicht zusammen. Jetzt gibt es ein Nachspiel, eine mündliche Verhandlung. Mit Zeugen und Videobeweis. Und einem Urteil.

Strafe muss sein.


Sie richten über die »Bösewichte« eines Spieltages: (von links) Anton Grahammer, Vorsitzender Harald Schnitzlein und Peter Winter. Foto: Ulrich Wagner

Diese Fußball-Sportgerichte gibt es in Bayern

  • Grundlage Die „Rechts- und Verfahrensordnung“ des Bayerischen Fußball-Verbandes (BFV) regelt Besetzung und Zuständigkeiten der Sportgerichte und gibt den Strafrahmen für die Urteile vor.
  • Bayern Insgesamt gibt es im Freistaat 47 Sportgerichte mit rund 160 (ehrenamtlichen) Mitarbeitern. Höchstes Gremium ist das Verbands-Sportgericht, das unter anderem für alle Entscheidungen zuständig ist, die den Ausschluss von Vereinen oder deren Mitgliedern, die Verhängung einer Vereinssperre und die Versetzung in eine niedrigere Spielklasse zum Gegenstand haben. Das Sportgericht Bayern kümmert sich um alle Vergehen zwischen Regionalliga und Landesliga. Darüber hinaus gibt es sieben Bezirks-Sportgerichte, verantwortlich für die Bezirksligen.
  • Schwaben Hier gibt es zusätzlich zum Bezirks-Sportgericht drei Kreis-Sportgerichte (ab Kreisliga abwärts) und zwei Jugend-Sportgerichte.
  • Oberbayern Der Fußball-Bezirk verfügt über fünf Kreis- und vier Jugend-Sportgerichte.
Aufrufe: 06.11.2015, 08:23 Uhr
Augsburger Allgemeine / Andreas FreiAutor