Natürlich kenne ich den Weg noch, ich bin ihn ja so oft gelaufen – na ja, meistens bin ich ihn gerannt, weil ich spät dran war; vom Parkplatz vorbei an dem kleinen Bolzplatz, weiter zur Gaststätte, die ich nur bei den Weihnachtsfeiern von innen gesehen habe, und dann hinter zu den Kabinen. Den Duft von nassen Socken, verschwitzten Leibchen und von der Erde, die an ungeputzten Stollenschuhen klebt, habe ich bereits in der Nase, bevor ich durch die Tür trete.
Hinter der Tür werden die im Kopf abgespeicherten Geruchsmoleküle zur Realität und die Bilder einer ganzen Entwicklung, vom Kind bis zum, nun ja, Mann, kommen wieder hoch. Zehn Jahre habe ich für den TSV Johannis 1883 Fußball gespielt, von der ersten bis zur zehnten Klasse, von der F- bis zur B-Jugend. Fast 15 Sommer sind seitdem vergangen, viel verändert hat sich hier trotzdem nicht. Nur die Wände wurden offenbar gestrichen und strahlen jetzt in den Vereinsfarben.
Warum ich zurückgekommen bin? Weil wir die A-Klasse 6 begleiten – eine ganze Saison lang. Auch die zweite Mannschaft von Johannis 83 spielt in dieser Liga und das nicht einmal schlecht. Zur Zeit stehen sie auf dem vierten Tabellenplatz, nur ein paar Punkte trennen sie von der Aufstiegsrelegation und wenn man ihren Trainer richtig versteht, dann wäre der Sprung in die höhere Spielklasse gar nicht so unrealistisch, hätte sein Team nur einen etwas ausgeprägteren Trainingseifer.
Im Herbst erlaubte sich die Mannschaft eine Schwächephase, als „Kollektiv von Zufallsbekanntschaften“ traten sie in der letzten Partie vor der Winterpause auf, wie es der Kollege Marco Schrage damals so schön formulierte, und hinterher durfte Elmar Renninger, der Trainer, so schöne Sätze wie diesen hier sagen: „Normalerweise würde ich die Jungs für dieses Spiel im Training richtig hart rannehmen, aber sie kommen ja eh nicht.“ Ein Satz als Steilvorlage für einen Ortstermin. Sind das bei Johannis 83 wirklich nur Zufallsbekanntschaften? Kommen da tatsächlich nur ein paar Übereifrige ins Training, um ihr Ronaldo-Trikot und die neuesten adidas Predator aufzutragen? Halten die unter der Woche nur ein bisschen den Ball hoch und verzichten auf Laufeinheiten? Und wenn ja, warum stehen die dann trotzdem so weit oben in der Tabelle?
Das fragt sich auch Elmar Renninger an manchen Sonntagen. Der Trainer der Zweiten kann wunderschön mit seiner Mannschaft schimpfen, gleichzeitig ist er auch ein sehr herzlicher Übungsleiter, der seinen Jungs einiges nachsieht. „Es ist ja nicht so, dass sie nicht wollen“, sagt er, als wir von der Kabine auf den Platz gewechselt sind, sich die Reserve gerade am Torschusstraining versucht und die meisten Bälle hinten im Fangzaun landen, „aber manchmal fehlt es dann eben doch am Talent“.
Deswegen spielen seine Jungs ja in der A-Klasse und nicht in der Landesliga und deshalb darf die Selbstdisziplinierung im Alltag auch mal hinten anstehen. „Wir hätten sicherlich noch mehr Punkte holen können“, meint Renninger, „aber dann müssten sie sich eben mal beherrschen und abends weniger ausgehen.“
Als Renninger diesen Satz mit einem tadelnden Kopfschütteln vorträgt, fühle ich mich ertappt. Am Abend zuvor bin ich im Biergarten extra noch etwas länger sitzen geblieben, um mich auf die Atmosphäre in der A-Klasse einzustimmen, das rächt sich jetzt. Das Aufwärmprogramm ist nicht übermäßig hart, bringt mich als Amateurfußballer a.D. aber trotzdem schon an, stellenweise über meine Grenzen. Laufen, dehnen, Liegestütze, Sit-ups – soweit kann ich mithalten, für solche Herausforderungen hat mich ja erst vor wenigen Wochen ein Personal Trainer fit gemacht. Doch dann kommen die Sprintübungen.
Während ich gegen das böse Gefühl in meinem Magen ankämpfe, blicke ich mich um und muss feststellen, dass schmerzverzerrte Grimassen die Ausnahme sind. „Noch ein Durchgang“, ruft Renninger, „und wenn jetzt einige wieder nur joggen, dann wiederholen wir das Ganze noch ein paarmal.“ Schon wieder fühle ich mich ertappt und gebe noch einmal alles, um nicht schon beim Warmlaufen den Zorn meiner Teamkollegen auf Zeit auf mich zu ziehen. Immerhin, beim abschließenden Trainingsspiel gebe ich einen ganz passablen Außenverteidiger, das Stellungsspiel funktioniert – vielleicht gerade wegen der mangelnden Fitness – besser denn je, mir gelingt sogar ein Tor bei unserem 3:2-Sieg.
Dass an diesem Tag 18 Mann ins Training gekommen sind, darüber wundert sich auch Renninger, vielleicht liegt es an meinem Besuch, vielleicht am Tabellenplatz, wahrscheinlich aber einfach nur am schönen Wetter. Wie ein Kollektiv von Zufallsbekanntschaften wirkt die Truppe jedenfalls nicht, dafür spricht auch, wie routiniert die Frotzeleien untereinander gekontert werden.
Und dass es ihnen nicht egal ist, wer am Wochenende auf dem Platz steht. Weil die erste Mannschaft mal wieder Bedarf angemeldet hat, müssen sie ihren zweitbesten Torjäger abgeben. Nach dem Training sorgt das in der Kabine für ein paar kleine Wutausbrüche unter den Spielern. Dass niemand mich gefragt hat, ob ich aushelfen will, hat mich nicht gewundert, aber bereit wäre ich natürlich, den Weg kenne ich ja.