2024-04-24T13:20:38.835Z

Allgemeines
Der große Bruder des Opfers und Spieler beim FC Pipinsried: Arbnor Segashi F: Norbert Habschied
Der große Bruder des Opfers und Spieler beim FC Pipinsried: Arbnor Segashi F: Norbert Habschied

Arbnor Segashi: Dank dem FCP kann er wieder lachen

Der Spieler des FC Pipinsried erlitt einen schrecklichen Verlust

Verlinkte Inhalte

Vor knapp einem Jahr tötete ein Schüler neun Menschen beim Amoklauf am Münchner OEZ. Nun spricht eine Opferfamilie über die schwierige Zeit und den Umgang mit dem Verlust.

München - Der schreckliche Amoklauf vom 22. Juli 2016. Ein Tag, den München nie vergessen wird. Neun Menschen ließen ihr Leben, als Schüler Ali David S. (†18) zum Amokläufer wurde und am Olympia-Einkaufszentrum mit einer Pistole um sich schoss. Tage, Wochen und Monate der Trauer vergingen. Doch wie geht es den Familien der Opfer heute? Damit hat sich eine Dokumentation (Donnerstag, 20.15 Uhr, ZDFinfo) befasst und die Familie Segashi in ihren schwersten Momenten begleitet.

Nur fünf Kilometer Luftlinie wohnen sie vom Tatort entfernt - im Hasenbergl. Tochter Armela, damals 14, war das Nesthäkchen der Familie. Sie wurde beim Amoklauf getötet. Seitdem führt die Familie ein Leben im Schatten des Verbrechens. Aber: Sie wollen nicht, dass Armela vergessen wird - und deshalb über sie sprechen.

„Sie war ein richtiger Familienmensch“, da sind sich alle einig. Eine unbeschwerte Familie, unzertrennliche Geschwister - so war das Leben der Segashis vor dem Amoklauf. Heute leiden sie unter dem Verlust. Nichts ist mehr wie früher.

Zum Jahrestag: Moosacher planen Menschenkette ums OEZ

„Waren glücklichste Familie der Welt“

Vater Smajl ist Busfahrer, er sagt: „Ich habe alles versucht, um für die Familie da zu sein.“ Im Hasenbergl hatte er eine Eigentumswohnung gekauft. „Als Armela noch da war, waren wir die glücklichste Familie der Welt.“ Mutter Nazmije hatte sich früh entschlossen, sich nur der Familie zu widmen. Doch nach dem Tod ihrer Tochter hat sie es in München nicht mehr ausgehalten und ist zu ihrer Familie im Kosovo gereist.

„Sie war mein Lieblingsmensch“, sagt Bruder Arbnor (22), der beim FC Pipinsried kickt und Sportmanagement studiert. „Ich habe niemanden mehr geliebt als sie. Auch weil sie so jung war, hatte ich immer das Gefühl, ihr Beschützer zu sein.“ Am Tag des Amoklaufs konnte er das nicht. „Nach ihrem Tod wurde mir eines schnell klar: Gott sei Dank muss ich nicht sagen, ich wünschte, ich hätte noch mal einen Tag, nur um ihr zu sagen, wie sehr ich sie liebe.“ Denn das hat er oft getan - und trägt ihr Foto immer bei sich.

Mutter kann Armela auf Handy nicht erreichen

1981 kam Vater Smajl nach Deutschland, 1988 nach München. Seine jüngste Tochter Armela ging in die achte Klasse der Realschule, träumte von ihrem eigenen Make-up-Salon. Bis der Amokläufer alles zerstörte. „Es war zuvor ein ganz normaler Tag“, erinnert sich der Vater. „Plötzlich fragte ein Nachbar: Habt ihr mitgekriegt, was am OEZ passiert ist?“ Mutter Nazmije schreibt Armela, doch die Nachricht kommt nicht auf ihrem Handy an. „Da wusste ich, dass irgendetwas nicht stimmt.“ Dass Armela nicht ans Telefon geht: „Das gab es nie“, sagt auch der Vater. Mit dem Reisepass seiner Tochter fährt er zum OEZ, um nach Armela zu suchen. Arbnor steuert die Krankenhäuser an.

Bis in die Nacht wissen die Sega­shis nicht, wie es um ihre Tochter steht. Bis zuletzt hoffen sie. Dass Armela nur ihr Handy verloren hat - oder sich versteckt. Oder nur verletzt ist. Doch um sechs Uhr morgens klingelt die Polizei. „Sie kamen mit sechs oder acht Leuten und sprachen ihr Beileid aus.“ Armela ist tot. In ihrer Heimat Kosovo wird sie am 26. Juli beerdigt. 15.000 Menschen nehmen Abschied - drei Tage lang.

Waffe von Münchner Amoklauf: Betreiber von Darknet-Plattform festgenommen

Vater kann vor Trauer nicht mehr arbeiten

Die Rückkehr in den Alltag und in die Münchner Wohnung ist schwer. Arbnor kehrt als Erster zurück. „Man merkt erst, wie viel Kraft man hat, wenn man stark sein muss“, sagt er. Die Familie braucht Hilfe vom Staat, denn Vater Smajl kann nicht mehr arbeiten - zu groß ist die Trauer. Für seine ältere Tochter Arberia ist die Arbeit dagegen willkommene Abwechslung. Sie macht eine Ausbildung zur zahntechnischen Angestellten, privat nahm sie therapeutische Hilfe wahr. „Dort habe ich nur geweint“, sagt sie. Bis die Seele heilt, braucht es Zeit. „Armela war meine beste Freundin.“ Arberia hat sich ihren Namen auf ihren Unterarm tätowieren lassen.

Bruder Arbnor hat mit seinen Freunden getrauert - 50 kamen einen Tag nach dem Todesfall, um ihn zu trösten. „Es war nicht leicht. Wir wussten nicht, wie wir damit umgehen sollten und wollten ihm einfach beistehen“, sagt ein Kumpel. Auch heute noch sind sie eine große Stütze für den Studenten - so wie seine Mitspieler beim FC Pipinsried. Mit ihnen kann er wieder lachen und teilt auch unbeschwerte Momente. „Aber ich hatte lange Schuldgefühle und habe mich gefragt, ob ich wieder glücklich sein darf“, sagt Arbnor.

Eigentumswohnung soll verkauft werden

36 Jahre lang hat Vater Smajl keine Hilfe in Deutschland gebraucht - heute fühlt er sich hilflos, aufgrund des Schicksalsschlages. Die Eigentumswohnung, die er für seine Familie einst gekauft hat, will er verkaufen. Die Erinnerungen schmerzen.

Doch was ist mit der Zukunft? Wie soll alles weitergehen? „Was uns am Leben hält, sind unsere zwei Kinder“, sagt Vater Smajl. Seine Frau Nazmije kann noch nicht nach vorne schauen. „Armela fehlt mir so“, sagt sie mit Tränen in den Augen.

Das OEZ wird für sie immer der Ort bleiben, der ihr Leben verändert hat. Viele Münchner gehen dort wieder einkaufen. Für die Familie Segashi ist es wie der Gang zum Friedhof. „Für uns ist es ein Ort zum Trauern“, sagt Arberia. „Wenn ich nicht am Grabstein sein kann, dann wenigstens hier.“ Bruder Arbnor sagt: „Eigentlich hasse ich diesen Ort. Aber es war der letzte Ort, an dem Armela war. Hier kann ich ihr noch nahe sein.“

Aufrufe: 03.7.2017, 09:19 Uhr
tz - Andreas ThiemeAutor