2024-04-16T09:15:35.043Z

Ligabericht
Und mit Co Alexander Otto zum Abschluss im Kasseler Auestadion.	Archivfoto: Hedler
Und mit Co Alexander Otto zum Abschluss im Kasseler Auestadion. Archivfoto: Hedler

Nikolaus-Tag ohne Trainingsanzug

+++ Niko Semlitsch ist seit gestern 70 Jahre jung +++ Märchenhafte Karriere von Steinbach über Offenbach nach Saarbrücken +++ Tor für die Ewigkeit +++

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giessen. Eine Meldung, da ist er sich sicher, wird es nicht mehr geben: Niko Semlitsch übernimmt den Verein XY. „Nein“, sagt er, „der Zug ist abgefahren, Trainingsanzug trage ich nur noch zuhause auf dem Sofa.“ Reicht ja auch, immerhin ist der Mann mit den 14 Trainerstationen seit gestern 70 Jahre. Alt? Oder jung? Eindeutig: Nikolaus „Niko“ Semlitsch ist eher jung, weil der Erfahrungsschatz, aus dem sich seine unzähligen Anekdoten und Erzählungen speisen, die er mit dieser sonor-schnarrenden Semlitsch-Stimme vorträgt, zwar einem 70 Jahre langen (und ganz gewaltig abwechslungsreichen) Leben entspringen, aber so wie er das alles von sich gibt, das ist einfach listig-lustig, fast teenagerhaft. Ja, der Niko ist auch ein herausragender Entertainer – und an dieser Stelle, da es um eine Geburtstagswürdigung geht, darf man auch mal aus dem Reporter-Nähkästchen plaudern: Gut, dass es wieder einmal einen Anlass gab, sich mit ihm zu treffen. Denn so ein Termin mit Niko S. ist immer belebend, witzig, aufbauend. Die Spieler, die er allüberall von Schweinfurt bis Frankfurt, von Steinbach bis TuBa Pohlheim und Klein-Karben gecoacht und manches Mal sicher auch malträtiert hat mit harter Hand, aber auch Sachverstand, dürfen das auch mal anders sehen. Kann sein. Aber darum geht es hier jetzt nicht.

Nikolaus Semlitsch, geboren am 27. November 1946 in Stalino (sowas gab es tatsächlich), im Februar 1947 mit vier Monaten auf dem Bahnhof in Garbenteich (sowas gab es auch einmal) gelandet, danach ein Steinbacher fürs Leben geworden (die gibt´s auch) und seit 40 Jahren immer zur gleichen Zeit auf Mallorca, könnte auch einem Märchen entsprungen sein.

Nun, liebe Fußballfreunde, gebt fein acht, der Nikolaus hat etwas mitgebracht. Denn auch wenn diese Geschichte schon häufiger erzählt wurde, so ist sie doch immer wieder schön: Wie er in Hausen zur Sportplatzeinweihung 1969 in der Kreisauswahl gegen den Bundesligisten Offenbacher Kickers spielte und er („hey, da waren deutlich bessere Fußballer dabei, Jonny Feldhaus zum Beispiel“) von OFC-Trainer Paul Oßwald im Sportheim zum Tisch gebeten wurde, und der Bundesliga-Coach ihm sagte, er solle doch mal am Bieberer Berg vorbeikommen am Donnerstag. Zum Probetraining. Vom Postboten zum…, nein nicht Millionär, aber „das muss mer sich mal vorstelle, vierzehn Tage vorher habe ich noch als Fan im Block gestanden, jetzt sollte ich da spielen.“ Beim ersten Training mit den Amateuren hat er gesagt, „da hinten will ich hin“, dorthin, wo die Bundesliga-Stars trainierten. „Und dann bleibe ich.“

Niko Semlitsch hat es gesagt – und getan. Er ist geblieben. Hat mit 23 Jahren sein Postboten-Gehalt mal locker verdoppelt, „ich wär auch für hundert Mark hingegangen“, bald einen Drei-Jahresvertrag bekommen. Und stand auf einmal mit Siggi Held, Josef Hickersberger, Erwin Kostedde und Winnie Schäfer auf dem Platz. Als er seinem Vater später nach Unterzeichung des Vertrages eröffnete, dass er bauen wolle, „hat der mich nur angeguckt und mit seinem Flüchtlingsdeutsch gesagt: ei von woas denn, mei Jung.“ So ganz konnte Vater Semlitsch, ausgereist aus Stalino, der mit harter Arbeit sein Häuschen finanzierte, nicht verstehen, was da über Nacht geschehen war bei seinem Niko, der damals noch Niki gerufen wurde.. „Es war natürlich nicht wie heute, das ist ja Wahnsinn, aber für mich war es schon viel Geld damals.“

Das war jedoch nicht entscheidend. Für den bald als Mister Eisenfuß bei den Profis firmierenden Semlitsch wurde ein Traum zur Lebensrealität, ein Traum, den er im Grunde ja gar nicht geträumt hatte. sondern weil es „genau an dem Tag in Hausen auf dem Sportplatz einfach ein Glücksfall war“, Glück, das er sich dann aber erarbeitete. Denn wichtig ist ihm, an dieser Stelle nimmt Niko Semlitsch die Kappe vom Kopf und legt sie auf den Tisch: „Danach war es kein Glück mehr, sondern harte Arbeit, kein Zufall mehr, sondern Ehrgeiz und der Wille, sich das nicht mehr nehmen zu lassen.“ Hört sich irgendwie auch nach Stalino an. Semlitsch, dessen Fotogalerie aus Fußballerjahren einen äußerst wandelbaren Menschen zeigt, von glattrasiert bis Rauschebart, von Netzer-Haarpracht bis Breitner-Locken, hat da sein Leben in die Hand genommen und die Post- gegen die Sporttasche getauscht. 112 Bundesligaspiele, 32 Zweitligaspiele, 11 DFB-Pokalspiele, 12 Einsätze in der Amateurnationalmannschaft, das Zimmer geteilt mit Uli Hoeneß („kann ich heute noch anrufen“) und bei Saarbrücken mit Felix Magath („war unser Jüngster und sah aus wie ein Indianer, wenn wir an die Bar sind, blieb er im Zimmer“). Und dann gab es dieses Tor für die Ewigkeit, als er in der 18. Minute für den 1. FC Saarbrücken gegen Darmstadt 98 den Ball reinzimmerte. Das erste Tor der neugegründeten 2. Liga anno 1974, oder wie der Kicker schrieb: „Niko Semlitsch ist der Timo Konietzka von Liga zwei“. Überhaupt der 1. FC Saarbrücken: „Man kann das nicht verrrrgleichen“, schnarrt er begeistert, „Offenbach war eine großartige Zeit, Saarbrücken aber genauso, weil wir da aufgestiegen sind und in diesem fußballverrückten Saarland eine Euphorie entfacht haben.“ Weil Oskar Lafontaine, damals Bürgermeister Saarbrückens, nach dem Spiel Niko immer abgeklatscht hat und sie – später – nochmals in die Geschichte eingingen. Ein 6:1 gegen Bayern München am 16. April 1977, das war doch auch damals schon der Hammer. Nikolaus Semlitsch, Dieter Ferner, der junge Bernd Förster, der vierfache Torschütze Roland Stegmayer auf der einen, Franz Beckenbauer, Sepp Maier, Gerd Müller, Karl-Heinz Rummenigge auf der anderen Seite.

„Da sprechen die heute noch von in Saarbrücken.“ Sagt Semlitsch, der damals auch noch als Boutique-Besitzer nebenbei sein Geld verdiente. Niko Semlitsch als Mode-Zar. Und Eisenfuß? Gerechtfertigt? Taucht man ein ins weltweite Statistik-Netz, ist keine rote Karte zu finden. „Ich war hart, aber ich war auch schnell“, erinnert sich Semlitsch, „gut, einmal habe ich den ,Grabi‘ (Jürgen Grabowski, die Red.) in Offenbach samt Linienrichter abgeräumt und als der Schiedsrichter angesaust kam, habe ich mich gleich rundum entschuldigt.“ Blieb bei gelb. Semlitsch, der Clevere.

Und Niko, der Unglücksbote? In der Sammlung der „Elf Freunde“ zu 50 Jahre Bundesliga steht diese Anekdote, dass Semlitsch in Saarbrücken sieben Unfälle in sechs Monaten hatte. „War ja so“, sagt er heute – und lacht: „aber sechsmal davon war ich als Beifahrer beteiligt, konnt‘ ich ja nix dafür.“ Mitnehmen wollte ihn dann doch kein Mitspieler mehr. Und die „Bild“-Zeitung hat ihn auf einen Schrottplatz gestellt, um ein cooles Foto zu bekommen. Niko Semlitsch hat Zeit seines Lebens für guten Stoff gesorgt – und dann 2004 erwischte es das Glückskind im Training beim FSV Frankfurt mit einem Herzinfarkt. Ein Schock, sicher, „da merkste was“, sagt Semlitsch, der auch heute noch die Folgen spürt: „aber ich habe ja noch Glück gehabt, es gibt Menschen, die hat es schlimmer erwischt.“ Und irgendwann war er ja sogar wieder im Trainergeschäft, beim VfB 1900 schloss sich der Kreis. Hessenpokal-Finale in Kassel, das war noch mal ganz großes Kino. Fast wie damals, als er in Hausen entdeckt wurde. Und die Geschichte ist auch in fünf Jahren wieder gut, zum 75. Geburtstag. Auch ohne Trainingsanzug.



Aufrufe: 027.11.2016, 22:00 Uhr
Rüdiger Dittrich (Gießener Anzeiger)Autor