2024-05-02T16:12:49.858Z

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Ernst Lippert (rechts) ist natürlich auch der Kapitän der Gießener Stadtmannschaft, die 1950 auf dem Waldsportplatz gegen Kassel spielt. Hier gratuliert er seinem Mannschaftskamerad Theis zu seinem 500. Spiel.    	Foto: Stadtarchiv Gießen
Ernst Lippert (rechts) ist natürlich auch der Kapitän der Gießener Stadtmannschaft, die 1950 auf dem Waldsportplatz gegen Kassel spielt. Hier gratuliert er seinem Mannschaftskamerad Theis zu seinem 500. Spiel. Foto: Stadtarchiv Gießen

Im Gießener Dress und Nationaltrikot

FUSSBALL-GESCHICHTE: +++ Ernst Lippert (1914-1995) nimmt bis heute Ausnahmestellung ein +++ Viel beachtete Funktionärskarriere +++

giessen. Wenn Bundestrainer Joachim Löw seinen Kader für ein Länderspiel der Nationalmannschaft benennt, ist es undenkbar, dass darin ein Spieler eines heimischen Clubs auftaucht. Vor mehr als 80 Jahren war das jedoch einmal anders, als ein junger Gießener sich berechtige Hoffnungen machen durfte, Nationalspieler zu werden. In der heimischen Fußballgeschichte nimmt Ernst Lippert deshalb bis heute eine Ausnahmestellung ein, ist er doch der einzige Spieler, dem es gelungen ist, im Trikot eines Gießener Vereins bis in den Kader der deutschen Nationalmannschaft vorzudringen.

Zweimal, im Januar und im April 1935, stand er als 20-jähriger in einem offiziellen Länderspiel im Aufgebot der Nationalelf – und das als Fußballer, der noch nicht einmal in der höchsten deutschen Spielkasse aktiv war.

Lippert, der im September 1914 in Gießen geboren wird, beginnt als Zehnjähriger beim VfB 08 Gießen mit dem Fußballspielen, schließt sich aber 1930 noch als Jugendspieler dem Stadtrivalen SpVgg. 1900 an. Wie viele, die später überdurchschnittliche Abwehrspieler wurden, beginnt auch Lippert seine aktive Laufbahn zunächst im Angriff. Schnell wird aber sein Talent für das Defensivspiel entdeckt, und es wird die Position des linken Außenverteidigers, die seine weitere Laufbahn prägen sollte.

Im Fokus von Nerz

Dass der Gießener, der „nur“ in der zweitklassigen Bezirksklasse spielt, überhaupt ins Blickfeld übergeordneter Beobachter gerät, hat damit zu tun, dass das Jahr 1933 nicht nur eine völlige Neuorganisation im Spielbetrieb des deutschen Fußballs mit sich bringt, sondern dass nun auch erstmals so etwas wie eine planmäßige Talentsichtung betrieben wird. Es gibt jetzt ehemalige Nationalspieler, in Hessen etwa Ludwig Leinberger, die Lehrgänge abhalten und nach hoffnungsvollen Nachwuchskräften Ausschau halten.

Ernst Lippert dürfte eine von ihnen gewesen sein, denn nur so ist zu erklären, dass er bereits Anfang 1935 von Reichstrainer Otto Nerz in den Kader für das Länderspiel gegen die Schweiz in Stuttgart berufen wird, in dem auch Könner wie der Frankfurter Rudi Gramlich, der Münchner „Lutte“ Goldbrunner oder Otto Siffling vom SV Waldhof stehen. Zwar kommt Lippert beim 4:0-Erfolg nicht zum Einsatz, aber der Gießener muss den bekannt kritischen Nerz zumindest soweit überzeugt haben, dass er ihn nur drei Monate später erneut in sein Aufgebot berufen wird.

Zwischenzeitlich hat Lippert auch seinen Stammplatz in der Gauauswahl Nordhessen gefunden, die vor allem im damals bedeutenden Reichsbundpokal spielt. Hier treffen die Auswahlmannschaften der Fußballgaue aufeinander und für den Reichstrainer sind sie ein wichtiges Instrument, um die Form seiner Länderspielkandidaten zu überprüfen, denn eine einheitliche höchste Spielklasse gibt es seinerzeit noch nicht. Als Ernst Lippert im April 1935 zum zweiten Mal zur Nationalelf reisen darf, kann er bereits auf internationale Erfahrung verweisen, denn mit einer Auswahl Süddeutschlands hat er in Marseille gegen Südostfrankreich gespielt und 1:3 verloren. Das Ausland ist auch Schauplatz seines zweiten Versuchs, in den „Dress der elf Besten“ vorzustoßen, doch wie in Stuttgart, so entscheidet sich Nerz auch beim 6:1-Erfolg gegen Belgien in Brüssel wieder für den Duisburger Willy Busch als linken Außenverteidiger, der die deutschen Farben schon im Jahr zuvor bei der Weltmeisterschaft in Italien vertreten hat.

Sieg gegen Italien

Einem Einsatz in der Nationalelf sollte Lippert nun nur noch einmal nahekommen, im Frühjahr 1936 im Vorfeld der Olympischen Spiele in Berlin. Für ein Vorbereitungsspiel gegen den FC Everton in Frankfurt beruft Nerz auch den Gießener, aber Lippert muss bei der 1:3-Niederlage wieder mit der harten Ersatzbank vorlieb nehmen. Dass sich Lippert jedoch nicht vor den Spielern verstecken muss, die bei Olympia auflaufen, beweist er wenig später, als er mit der nordhessischen Auswahl den frischgebackenen Goldmedaillengewinner aus Italien mit 3:1 bezwingt.

Aber auch andernorts macht sich der Gießener Verteidiger einen Namen, denn wie schreibt die Fachzeitschrift „Fußball“ nach einem Spiel im Reichsbundpokal zwischen Baden und Nordhessen, das die Badener im Oktober 1937 mit 1:0 gewinnen: Den feinen Dribblings des Torschützen Fischer „sei selbst ein Lippert“ (!) nicht gewachsen gewesen. Schlagzeilen machte Lippert in dieser Saison aber auch mit seinem Club, denn die SpVgg. 1900 wird 1938 Bezirksmeister und steht kurz vor dem Sprung in die erstklassige Gauliga. In den entscheidenden Aufstiegsspielen geht den Gießenern aber die Luft aus.

Inwieweit Lippert, der spätestens seit 1938 Soldat war, in den Kriegsjahren noch Fußball spielen konnte, lässt sich nur noch schwer rekonstruieren. Selbst sein Sohn Gert, in den 1960er Jahren ebenfalls erfolgreicher Fußballer in der Hessenliga beim VfB 1900, ist überfragt, da sein Vater eigentlich nur selten von der eigenen Laufbahn erzählt habe. Fest steht in jedem Fall, dass Ernst Lippert im Frühjahr 1946 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrt und an Pfingsten erstmals wieder für die 1900er aufläuft. Beim 6:1-Erfolg in einem Freundschaftsspiel über Opel Rüsselsheim scheint es, als wäre er nie weg gewesen.

Auch wenn der Krieg Lippert die besten Jahre gekostet hat, er hat in gewisser Weise doch auch Glück, denn er hat überlebt und kommt gerade recht, um die im Rückblick vielleicht interessanteste Zeit im Gießener Fußball zu erleben. Die SpVgg. und der VfB spielen in einer Klasse auf Bezirksebene, fast jede Woche gibt es irgendein mehr oder minder brisantes Nachbarschaftsduell. Nicht selten umsäumen Tausende von Zuschauern die Plätze. Lippert ist in jenen Jahren gemeinsam mit Willi Meermann oder Ewald Kociok so etwas wie der „Star“ bei den 1900ern, auch wenn er die 30 schon weit überschritten hat. „Lippert & Co.“ wird in der Presse seinerzeit fast schon zum Synonym für die SpVgg. Häufig liest man vom „Sonderlob für den Altmeister“ oder dem „überragenden Verteidigerspiel“, das er abgeliefert habe.

In der Saison 1948/49 ist Lippert der Kapitän der 1900er-Meisterelf, die sich nach einem packenden Zweikampf mit Eintracht Wetzlar die Bezirksmeisterschaft sichert, in der anschließenden Aufstiegsrunde zu Hessens höchster Spielklasse aber an eben diesem Gegner in einem dramatischen Entscheidungsspiel scheitert. Bis zu 8000 Zuschauer haben seinerzeit die Begegnungen der beiden Nachbarstädte verfolgt. Es ist im Grunde auch der letzte Höhepunkt in Lipperts Laufbahn als Spieler, denn im Sommer 1952 ist mit fast 38 Jahren und nach weit über 500 Einsätzen für die SpVgg. Schluss mit dem aktiven Fußball.

HFV-Ehrenmitglied

Aber er bleibt seinem Sport natürlich erhalten, denn fast nahtlos schließt sich eine Funktionärskarriere an, die in heimischen Gefilden ebenfalls ihres Gleichen suchen dürfte. Lippert ist im Vorstand der SpVgg. 1900, pfeift als Schiedsrichter bis zur 1. Amateurliga, ist Bezirksschiedsrichterobmann, für mehr als zwei Jahrzehnte Kassenwart im Kreisfußballverband, Klassenleiter der A-Klasse und schließlich ab 1966 für vierzehn Jahre auch noch Bezirksfußballwart. Als er 1980 sein Amt zur Verfügung stellt, wird er mit Ehrungen überhäuft und u.a. zum Ehrenmitglied des Hessischen Fußballverbandes ernannt. Eine Ehrung, die ihm sein Verein, der VfB 1900, übrigens bereits drei Jahre zuvor für die 50-jährige Mitgliedschaft verliehen hatte.

Als Ernst Lippert im Oktober 1995 im Alter von 81 Jahren stirbt, wird in den Nachrufen übrigens fast mehr über den Funktionär als über den großartigen Fußballer gesprochen. In einem Porträt ist er einmal als „ausgesprochener Fußball-Idealist“ bezeichnet worden, „dem Geltungsbedürfnis völlig fremd“ sei. Vielleicht ist dies auch ein Grund dafür, dass der Fußballer Ernst Lippert heute in Gießen nahezu vergessen ist. Welchen Stellenwert er jedoch in der Gießener Fußballgeschichte hat, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass nie wieder ein heimischer Fußballer einem Einsatz in der Nationalmannschaft so nahe gekommen ist, wie er. Übertroffen hat ihn bis heute nur eine Fußballerin, denn bekanntlich hat die spätere Weltmeisterin Nia Künzer ihre ersten beiden Länderspiele für den VfB 1900 absolviert.

Aufrufe: 022.3.2017, 08:00 Uhr
Christian von Berg (Gießener Anzeiger)Autor