2024-05-08T14:46:11.570Z

Querpass
Ein Mann mit einer Mission: Marcus ist der erste deutsche Fußballer, der offen zu seiner Homosexualität stand. Seine Geschichte hat er oft erzählt, so wie hier in Hamburg. Vor kurzem war er in Frankfurt (Oder) zu Gast.   Foto: Wikimedia Commons/Stephan Röhl
Ein Mann mit einer Mission: Marcus ist der erste deutsche Fußballer, der offen zu seiner Homosexualität stand. Seine Geschichte hat er oft erzählt, so wie hier in Hamburg. Vor kurzem war er in Frankfurt (Oder) zu Gast. Foto: Wikimedia Commons/Stephan Röhl

"Ich habe Menschenleben gerettet"

Der schwule Ex-Fußballer Marcus Urban hat einen Verein für Vielfalt gegründet. Jetzt war er mit seiner Vortragsreihe in Frankfurt (Oder), wo es nicht nur Rückendeckung gab.

Marcus Urban stand an der Schwelle zum Profi-Fußball. Doch dann brach er zusammen. Er merkte, dass er sich sein Leben lang versteckt hatte. Er ist schwul. Was er damals als Last sieht, macht er später zu seiner Berufung. Jetzt erzählte er im Frankfurter Stadion der Freundschaft von seiner Mission.

Marcus Urban bohrt die Stollen ins Gras, der Ball liegt wenige Meter vor ihm. Er sprintet los, trifft das Leder aber nicht richtig. Aus einem Schuss wird ein Schüsschen. „Du sollst nicht solche Tuntenschüsse machen, hörst du!“, ruft ihm der Torwart zu. Und Urban erwidert: „Sag mal, bist du schwul, oder was?“ Heute kann der Weimarer über solche Sprüche lachen. Früher wollte er sich das Leben nehmen.

Marcus Urban hat seine Geschichte schon oft erzählt. In Talkshows bei Maybritt Illner etwa und Markus Lanz. Er ist der erste deutsche Fußballer, der zu seiner Homosexualität stand. Sieben Jahre vor Ex-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger. 2008 veröffentlichte Urban mithilfe des Sportjournalisten Ronny Blaschke seine Biographie „Der Versteckspieler“, in der er sich und seinen Weg offenbart. Auch heute auf dem Gelände des Stadions der Freundschaft lauschen – wenn auch nur wenige – Zuhörer den Worten des schwulen Fußballers. Eines Menschen, der Anerkennung durch den Sport suchte, zuerst aber sich selbst anerkennen musste.

Aufgewachsen ist er in Weimar, bei seiner Mutter und seinem Stiefvater. Jener war Alkoholiker, erzählt der schlanke Mann mit den raspelkurzen Haaren. Urban spricht von Angstzuständen. Und von anderen Dingen, die passiert seien. Dann begann er mit dem Fußball. Er will seine Wut kompensieren, Profi-Fußballer werden. Der Beste sein.

Als 19-Jähriger gilt er als einer der hoffnungsvollsten Spieler der DDR. Damals kickt er für den Verein Rot-Weiß Erfurt und durchläuft alle Jugend-Nationalmannschaften. Es fehlt nur noch ein kleiner Schritt zum Profi. „Doch ich merkte, etwas läuft hier schief. Nach außen hin war alles gut. Nach innen zerriss ich immer mehr“, berichtet er. 1993 ist er ausgebrannt. Fußball hat keinen Reiz mehr für ihn.

Er beginnt, in Weimar Stadtplanung zu studieren. Aber auch das befriedigt ihn nicht. Eines Tages hört er auf einer Kassette Eros Ramazotti singen. Er weiß, er muss nach Italien. In Neapel lernt er, dem als Schüler gesagt worden war, dass er eine besondere Sprachbegabung besitze, Italienisch. Jeden Abend sitzt er in einer Bar, während am Tisch nebenan Mafia-Bosse die nächsten Opfer ausmachen. Er liebt Italien. Aber irgendetwas fehlt.

Dann bricht er zusammen. Zwei Wochen lang liegt Urban wie im Koma in seinem Bett. Kreidebleich. „Ich hatte in einem Gefängnis gelebt und mich daran gewöhnt, nicht frei zu sein“, sagt er. Zurück in Weimar geht er zu einem Psychologen. Er gesteht sich ein: „Ich stehe auf Männer.“ Er ruft seine Mutter an und seine Freunde. Sie nicken und akzeptieren. 1994 ist das Coming-out. Von da an beginnt Urban zu leben.

„Stellen Sie sich vor, Ihnen wird gesagt, Sie dürfen keine Äpfel mehr essen. Obwohl Sie Äpfel lieben“, wirft Urban in das Plenum in Frankfurt. „Werden Sie weiter Äpfel essen?“ Die Zuschauer im Raum nicken. „Sehen Sie, so habe ich mich gefühlt“, sagt der 43-Jährige und zeigt auf ein Bild, das er an die Wand geworfen hat.

Auf dem Bild ist ein Mann mit Schnurrbart zu sehen. Sein Kopf ist kahl, seine Statur bullig. Der Mann auf dem Bild ist Burkhard Bock. Er hat 35 Jahre lang in seinem Gefängnis gelebt. Vor zwei Jahren hat sich der Lychener mit Hilfe von Urban geoutet. Auch Bock ist heute gekommen und erzählt seine Geschichte. 2008 ist er mit Schiedsrichtern zu einem Lehrgang in die Türkei gefahren. Da war einer dabei, der schwul war. „Er war so frei und so fröhlich“, sagt Bock. Das habe ihn erstaunt. Er selbst machte seine Arbeit zwar, setzte eine gute Miene auf, wenn er dann aber einsam im Auto saß, übermannten ihn häufig die Tränen. „Ich wollte mich umbringen. Ich hatte die Tabletten schon im Mund.“ Doch er spuckte sie wieder aus. Und wandte sich an Urban.

Dieser ermutigt Bock zum Coming-out. „Ich bin Schiedsrichter, und ich bin schwul. Akzeptiert mich so, wie ich bin.“ Mit diesen Worten stellt sich Bock bei einer Versammlung vor 50 Unparteiische. Die Leute staunen, sagen nichts, gucken einander an. Dann beginnt der Erste zu klatschen. Es werden immer mehr, bis schließlich alle applaudieren.

Heute ist Bock Ansprechpartner für Homophobie im Landesverband. Er berät junge Sportler und Schiedsrichter, die sich noch nicht geoutet haben. Er ist damit der einzige Brandenburger in einem deutschlandweiten Netzwerk von 26 Ansprechpartnern für Homosexuelle im Fußball. Es ist ein Netzwerk, das Urban aufgebaut hat und sich Verein für Vielfalt nennt. „Ich hatte keine Lust mehr, den Funktionären vom Deutschen Fußball-Bund hinterherzurennen, deshalb habe ich den Verein gegründet.“ Deshalb gibt er Seminare, spricht auf Bildungsforen und Akademien. Ziel ist es auch, ein Spiel mit aktiven und zurückgetretenen Bundesliga-Kickern zu organisieren. Bisher haben sich zwei bereit erklärt.

Immerhin, möchte man meinen. Denn noch immer haften Homosexualität Vorurteile an. Gerade im vor Männlichkeitsattributen nur so strotzenden Fußball. Auf dem Tisch vor Urban liegt eine Boulevard-Zeitung, auf dessen Titel das Konterfei des ehemaligen Bundesliga-Coachs Christoph Daum prangt. In dem Artikel stehen die Sätze: „Grundsätzlich bin ich ein toleranter und liberaler Mensch. Ich habe keinerlei Berührungsängste zu homosexuellen Menschen. Kinderschutz geht mir aber über alles. Kinder müssen vor Gewalt und sexuellen Übergriffen geschützt werden.“ Homosexualität und Pädophilie gehen bei Daum Hand in Hand. Dabei ist wissenschaftlich belegt, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat.

Die Verknüpfung von Homosexualität mit Weichheit und Schwäche ist im Sprachgebrauch alltäglich. „Auf dem Platz hört man immer wieder Schimpfworte wie: Du schwule Sau!“, sagt Uwe Koch, Leiter des Projekts Sport für alle des Landessportbundes Brandenburg. „Das darf nicht sein.“

„Bei meinem Coming-out haben mich ehemalige Mitspieler gefragt: Hast du unter der Dusche geguckt?“, sagt Urban. Er antwortet darauf: „Manche fand ich attraktiv, andere waren nicht mein Typ.“ Von 5500 Bundesligaprofis hat sich bisher keiner geoutet. Thomas Hitzlsperger war nach seinem Karriereende der einzige Spitzenfußballer in Deutschland, der das wagte. „Ich weiß von 25 Bundesligaspielern, die schwul sind. Einige davon sind auch im Weltmeisterteam“, sagt Urban. Einige bekommen von Agenturen Frauen an die Seite gestellt, um ihre sexuelle Neigung vor der Öffentlichkeit zu verdecken. Andere würden mit dem Druck nicht klar kommen, depressiv und medikamentenabhängig werden.

Einer, der beschloss zu sterben, war Justin Fashanu. Der britische Fußballer vom Rekordmeister Liverpool machte 1990 öffentlich, dass er schwul ist. Er war der weltweit Erste. Und er zerbrach an den Anfeindungen. Acht Jahre nach seinem Coming-out erhängte er sich in einer verlassenen Autowerkstatt. In seinem Abschiedsbrief war zu lesen: „Ich hoffe, dass ich endlich meinen Frieden finden kann.“

Trotzdem und vielleicht gerade deshalb sagt Urban, dass er den Bundesligaprofis empfiehlt, sich zu outen. In Frankfurt gibt es Gegenstimmen. „Das ist eine persönliche Befindlichkeit. Nicht nur für den, der sich outet, sondern auch für die Mitspieler“, sagt der Vorsitzende des FC Union Frankfurt (Oder), Konrad Pintaske. Ja, ist es. Es ist eine unsichtbare Andersartigkeit, meint Urban. Jene, die sich outen, müssen es formulieren. Das ist aber auch eine Chance. Durch das Andere wird der Urteilende auf sich selbst zurückgeführt. Und stellt sich die Frage: Habe ich ein Problem mit Schwulen, Lesben, Menschen mit Trans-Hintergrund? Wenn ja, warum?

Um seine Sexualität zu verdecken, ging Urban früher unnötig hart an die Gegenspieler. Er foulte und beschimpfte die Fußballer selbst mit „schwule Sau“. Heute hat er zu sich gefunden. Es war kein einfacher Weg, sagt er. Aber ein notwendiger. Es kämen immer mehr Menschen zu ihm, die ihm danken. Ein Arzt, verheiratet, zwei Kinder, besuchte ihn letztens und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Danke für das Buch“, sagte er.

Spielerfrauen und Spielermänner nebeneinander sitzend im Stadion – das wünscht sich Urban. „Das dauert aber noch.“ Ressentiments wegen einer verpassten Karriere hat er nicht mehr. „Ich bin Weltmeister seit 1994. Scheiß auf die Profi-Karriere. Ich habe Menschenleben gerettet.“

Aufrufe: 015.4.2015, 06:55 Uhr
MOZ.de / Dorothee TorebkoAutor