2024-05-14T11:23:26.213Z

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Sozial engagiert: Landesauswahltrainer Sebastian Grätsch. Foto: Hobke
Sozial engagiert: Landesauswahltrainer Sebastian Grätsch. Foto: Hobke

Grätsch: „Entscheidend ist der Teamgeist“

DM-Titel für Landesauswahl mit Menschen geistiger Beeinträchtigungen / Sebastian Grätsch gewährt Einblicke in sein Trainerdasein

Seit dem Sommer 2015 ist Sebastian Grätsch hauptverantwortlicher Trainer der Landesauswahl ID für Menschen mit geistiger Behinderung (englisch: ID = intellectual disabilities). In diesem Jahr feierte der ehemalige Liga-Spieler des Verbandsligisten TSV Vineta Audorf mit seiner Mannschaft überraschend den Gewinn der Deutschen Meisterschaft. Die Landeszeitung hat Grätsch am Rande eines Trainingslagers auf dem Sportplatz in Schacht-Audorf getroffen. Im Interview mit LZ-Redakteur Joachim Hobke gibt der 38-Jährige einen Einblick in seine Arbeit.

Herr Grätsch, was hat Sie bewogen, Menschen mit Behinderungen zu trainieren?
Ich habe im Januar 2005 in den Kappelner Werkstätten als Heilpädagoge angefangen, und im April 2005 wurde ich gefragt, ob ich für den damaligen Trainer die erste Mannschaft der Werkstätten übernehmen würde. Wir sind ziemlich erfolgreich im Werkstätten-Fußball, waren 2005, 2007 und 2009 bis 2015 Landesmeister. Bis 2011 gab es auch eine Landesauswahl, die sich dann aber über einen kurzen Zeitraum aufgelöst hat. Anfang 2013 habe ich mit meinem Kappelner Kollegen Jan Müller, dem ehemaligen Torwarttrainer Wolfgang Ehm und dem damaligen Behindertenbeauftragten des SHFV, Kilian Weber, die Landesauswahl wieder ins Leben gerufen. Zunächst als Co-Trainer unter Oliver Mohr, bis ich im Sommer 2015 gefragt wurde, ob ich dessen Nachfolge antreten möchte. Das ist aber auch nur möglich, weil der Geschäftsführer der Kappelner Werkstätten, Stefan Lenz, voll hinter dem Fußball steht und Jan Müller und mich in unserer Arbeit unterstützt.


Haben Sie nie daran gedacht, eine „normale“ Vereinsmannschaft zu trainieren?
Habe ich ja schon getan. Im Herbst 2010 habe ich mit Kai Jastremski die zweite Herren des TSV Vineta Audorf in akuter Abstiegsnot übernommen und vor dem Abstieg in die Kreisklasse gerettet. Anschließend habe ich dann noch eineinhalb Jahre als spielender Co-Trainer weitergemacht. Das war aber doch zu zeitaufwendig. Ich stand 25 Jahre lang mehrmals wöchentlich auf dem Platz. Mir reichen jetzt die wöchentlichen Einheiten mit der Werkstattmannschaft und die intensiven Wochenendeinheiten mit der Landesauswahl.


Benötigt man eine spezielle Ausbildung als Trainer von Spielern mit Behinderung?
Eine pädagogische Ausbildung ist zumindest hilfreich. Man muss schon auf die Bedürfnisse der Jungs eingehen können und auch einige Dinge in speziellen Fällen über Behinderungsarten wissen, insbesondere, wenn die psychischen Probleme hinzukommen. Man darf manche Dinge nicht persönlich nehmen. Der eine oder andere hat halt Probleme mit der Impulskontrolle, dem muss man dann auch die Auszeit geben können. Und natürlich sollte man auch ein bisschen Ahnung vom Fußball haben.


Welche besonderen Anforderungen werden an Sie als Trainer der ID-Auswahl gestellt?
Meiner Meinung nach unterscheidet sich meine Arbeit nicht wesentlich von der eines Vereinstrainers. Entscheidend ist, dass Übungen immer wieder wiederholt werden, nicht zu abstrakt sind und dem einen oder anderen etwas ausführlicher erklärt und vorgemacht werden muss. Da wir, damit meine ich das gesamte Trainerteam, alle so normal wie möglich behandeln, benötigt es im Gegensatz zu „normalen“ Mannschaften etwas mehr Empathie und Improvisationstalent, um die Alltagsprobleme der Spieler bearbeiten zu können. Jeder Spieler hat sein Päckchen zu tragen, das heißt, wir als Trainer müssen sehr individuell auf die einzelnen Bedürfnisse und Fähigkeiten eingehen, ohne dabei das Team aus den Augen zu verlieren. Also letztendlich eigentlich doch auch wieder ganz normale Trainerarbeit wie überall im Fußball.


Trainieren die Spieler auch in „normalen“ Vereinen mit?
Die meisten Spieler spielen im Spielbetrieb der Werkstättenliga Schleswig-Holstein. Einige sind auch noch in Vereinen aktiv. Es wäre schön, wenn alle in Vereinen spielen würden. Dies ist aber leider momentan noch nicht selbstverständlich. Zum einen liegt dies an dem Problem, dass nicht alle Spieler in ihrem Leben so strukturiert sind, dass sie wirklich regelmäßig am Training teilnehmen. Desweiteren scheitert es gelegentlich an den kleinen Dingen: So haben die Jungs keinen Führerschein und sind immer darauf angewiesen, mitgenommen zu werden, oder melden sich vielleicht nicht ab. Darauf nimmt der „normale“ Vereinstrainer, der vielleicht alle gleich behandelt, dann gegebenenfalls keine Rücksicht.


Wie leistungsstark sind die Spieler?
Man merkt bei den Spielern, ob sie tatsächlich im Fußballverein oder „nur“ im 7er-Werkstattfußball spielen. Im konditionellen und im gerade im taktischen Bereich fällt es auf, weil wir mit der Landesauswahl normalen 11er-Fußball spielen. Die konkrete Leistungsstärke ist schwer zu beschreiben. In einer funktionierenden Kreisligamannschaft könnte mit Sicherheit der eine oder andere mitspielen, solange er sich an einer geordneten Struktur orientieren kann. Unsere Landesauswahl würde aber wiederum über 90 Minuten große Schwierigkeiten haben, mit einer Kreisligamannschaft mitzuhalten.


Mit welchen kleinen und großen Problemen haben Sie als Trainer der Landeswahl zu kämpfen?
Zu den kleineren Problemen gehören die immer wieder mal auftretenden, einfach nicht vorhersehbaren Momente in der Trainerarbeit. Momentan haben wir zum Beispiel zwei Spieler im Kader, bei denen eine Hörschädigung vorliegt. Als bei dem einen in Audorf das Akku seines Hörgeräts alle war, waren wir dann doch etwas aufgeschmissen. Zum Glück konnte der zweite dann für uns „übersetzen“. Daraufhin habe ich mal im Internet recherchiert, wie die gängigsten Fußballbegriffe in Gebärden heißen. Man lernt also nie aus. Das größte Problem ist leider unsere Unbekanntheit. Die Deutsche Meisterschaft und unser Titelgewinn in Schleswig fand fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Mit der Unbekanntheit geht natürlich auch das Problem der finanziellen Unterstützung einher. Der RBSV (Rehabilitations- und Behinderten Sportverband Schleswig-Holstein/d. Red.) und der SHFV (Schleswig-Holsteinischer Fußballverband) haben zwar vor einigen Jahren eine Kooperation abgeschlossen, wodurch wir in der Vorbereitung das Vergnügen hatten, drei Wochenenden im Uwe Seeler Park trainieren zu können. Aber für weitere Unternehmungen wie zum Beispiel Hochseilgarten waren wir auf externe Spenden angewiesen. Da kaum einer unserer Spieler auf dem regulären ersten Arbeitsmarkt arbeitet, und aus diesem Grund nicht so viel Geld zur Verfügung hat, ist es schon ein Problem, beispielsweise die Zugfahrten zum Trainingslager zu finanzieren. Es bleibt dann immer sehr viel an mir und meinem Trainerteam hängen. Wie kommen die Jungs zum Training? Wer holt sie ab? Wer bezahlt die Bahnfahrt


Was macht die Arbeit so besonders?
Die Arbeit mit dem Trainerteam und der Mannschaft macht einfach Riesenspaß.Wir haben erreicht, dass sich die Spieler vertrauen, unterstützen und auch in schwierigen Phasen füreinander da sind. Das ist das, was tatsächlich im Bereich des ID-Fußballs eine Ausnahme ist. Dass sich die Jungs dann tatsächlich auch noch immer weiter verbessern, und Übungen und Laufwege verinnerlichen, ist natürlich klasse. Aufgrund unserer Unbekanntheit ist es natürlich nicht so einfach, an neue Talente zu kommen. Im letzten Jahr haben wir sämtliche Förderschulen angeschrieben und im Uwe Seeler Park einen Scouting-Tag veranstaltet. Es kamen zwar nur zehn Jungs, aber immerhin sind zwei von denen ein halbes Jahr später Deutscher Meister geworden.


Was bedeutet Ihnen Erfolg? Was bedeutet Ihren Spielern Erfolg?
Da sind meine Jungs ganz Sportler. Sie sind sehr ehrgeizig und wollen gewinnen – wie andere auch. Für mich war es ein Erfolg zu sehen, wie die Jungs im Trainingslager zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen sind. Dieser Teamgeist war entscheidend für die Deutsche Meisterschaft. Das ist gerade im ID-Bereich herausragend gewesen, da die Spieler in ihrem Privatleben doch eher „Einzelkämpfer“ sind. Wir hatten nicht die besten Einzelspieler, aber die beste Mannschaft.

Aufrufe: 027.10.2016, 16:30 Uhr
SHZAutor