Sebastian Hähnge schwitzt nicht mal. Immer und immer wieder bittet der KURIER-Fotograf den 35-Jährigen zum Seitfallzieher. Hähnge verzieht keine Miene, trifft jeden Ball perfekt. Der gebürtige Magdeburger hat den Fußball-Osten bereist, spielte beim 1. FC Magdeburg, in Chemnitz, Dresden, Jena und Rostock, traf in der Bundesliga. Nun posiert er im altehrwürdigen Stadion Lichterfelde (4300 Plätze, fertiggestellt 1929) für seinen neuen Arbeitgeber. „Für mich ist Viktoria kein Abstellgleis. Wir können was erreichen mit dieser Truppe.“
Ex-Profi Danny Kukulies (33, Greuther Fürth) unterstützt die sportliche Leitung. F: Volkmar Otto
Wirklich aussprechen will es beim FC Viktoria 1889 Berlin Lichterfelde-Tempelhof keiner, doch im Klub, der mit 70 Mannschaften die größte Jugendabteilung Deutschlands stellt, herrscht Aufbruchstimmung. Zielvorgabe: Attacke auf die Nummer 3. Hertha und Union haben weit die Nase vorn, der BAK kickt in selben Liga, dahinter lauern die Himmelblauen.
Und es lässt sich gut an. Viktoria ist als Aufsteiger in der Regionalliga bislang ungeschlagen. „Perspektivisch wollen wir in die dritte Liga, keine Frage“, sagt Präsident Christoph Schulte-Kaubrügger. Langfristig soll es, geht es nach dem Willen des 47-Jährigen, sogar noch höher gehen. „Unser Traum ist bekannt – eine Fußball-Arena auf dem früheren Gelände des Flughafens Tempelhof, wo Viktoria und der Berliner Fußball insgesamt ihre Wurzeln haben“.
1908: Viktorias Meistermannschaft beim Spiel gegen die Stuttgarter Kickers. F: FC Viktoria 89
Der Mann, der neben Alt-Star Hähnge als sportlicher Leiter die Zukunft des Vereins anschieben soll, heißt Lutz Lindemann. Der 64-Jährige spielte 21 Mal für die Nationalmannschaft der DDR, stand 1981 mit Carl Zeiss Jena im Europapokal-Finale. Viele der Spieler, die heute in der ersten Mannschaft, dem „Leuchtturm“ wie Lindemann sagt, spielen, waren da noch nicht geboren. „Denen muss ich mit meinen Erinnerungen gar nicht kommen.“
Lutz Lindemann will am Ende seiner Laufbahn ein junges Team nach vorn bringen. F: Volkmar Otto
Und dennoch gehören die Fußballgeschichten zu seinem Leben, und Lindemann erzählt sie gern. Anekdoten, die für die Profis heute unvorstellbar sind. „Im Europapokal sind wir 5 Uhr morgens in Jena los, mit dem Bus nach Schönefeld. Von dort über Prag nach Rom, nachts waren wir im Hotel. Am nächsten Tag war Training und abends kriegten wir vom AS Rom, dem italienischen Meister, mit 0:3 die Hütte voll. Vor 80 000 Zuschauern. Tags darauf wurden wir in einer Sitzung fertiggemacht, ehe es mit dreimal Umsteigen zurück nach Jena ging. Am Freitag zweimal Training und dann gegen Lok Leipzig. Die haben uns eh gehasst, noch dazu weil wir zwei Tage vorher im Westen waren.“
Und nun die Regionalliga. Warum tut Lindemann sich das nach mehreren Stationen im Profifußball an? „Am Ende seines Arbeitslebens muss man sich überlegen, was man noch erreichen will. Hier in Berlin ist es realistisch, etwas Großes aufzubauen.“ Es klingt wie eine Floskel. Doch Lindemann meint den Satz ernst. Er hätte bei den Sportfreunden Siegen bleiben können, Mäzen Manfred Utsch pumpt seit Jahren Millionen in den Verein. Aber: „Mit mehr Geld macht man mehr Fehler. Und letztlich entscheidet doch der, der das Geld gibt.“
Platzwart Marco Wendt (45) sorgt für perfektes Geläuf, liebt „seinen“ Rasen. F: Volkmar Otto
Bei Viktoria hat Lindemann alte Bekannte um sich versammelt, wie Zeugwart Franky Lange. Der hat zwar offiziell nichts zu sagen, trotzdem hört alles auf das Kommando des 61-Jährigen. Der sportliche Leiter lacht: „Der Junge ist ein ungehobelter Klotz. Alles läuft bei ihm im Befehlston, am besten mit einer Beschimpfung. Wehe, einer der Spieler legt seine Stutzen auf links gedreht in den Wäschekorb. Dem droht Fürchterliches.“
Franky Lange ist seit 22 Jahren hauptberuflich Betreuer, arbeitete vorher bei TeBe. F: Volkmar Otto
Zurück zur laufenden Saison. Zwar ist Viktoria bislang ungeschlagen, aber auch ohne Sieg. Fünf Remis, fünf Punkte. Der Klub braucht den Kick. Damit Real Madrid nicht wie 1960 nur zum Freundschaftsspiel vorbeischaut. Vielleicht ja zur Champions League in der Arena auf dem ehemaligen Flugfeld. Irgendwann. Bei diesen Aussichten schwitzt Stürmer Sebastian Hähnge dann doch noch. Vor Lachen.
Viktorias Meistermannschaft von 1908. F: FC Viktoria 89