2024-05-02T16:12:49.858Z

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"Elf unfassbare Fußball-Geschichten"

Neues Fußball-Buch +++ Erste Geschichte: Das geheimnisvolle blaue Armband vom Aufsteiger Darmstadt 98

Kennen Sie Tull Harder vom HSV, den vielleicht besten Stürmer aller Zeiten? Oder die unglaubliche Geschichte vom blauen Armband von Darmstadt 98? Oder den denkwürdigen Eklat um die Wahl von Bayerns Winkelhofer zum Torschützen des Monats? Einmalig war auch der Elfmeterpfiff beim St.-Pauli-Aufstieg, der ein Abpfiff wurde. Wissen Sie, welches Land als einziges noch nie gegen Brasilien verloren hat? Oder dass ein deutscher Klub tatsächlich auf die Deutsche Meisterschaft verzichtet hat? Kennen Sie die erstaunliche Geschichte vom Fußball-Spiel, das einen echten Krieg ausgelöst hat? Oder dass ein Bundesliga-Schiedsrichternach 32 Minuten zur Halbzeit pfiff? Nein? Dann sollten Sie sich dieses kleine Fußball-Büchlein mit elf unfassbaren Fußball-Geschichten nicht entgehen lassen...

„Auferstanden aus Ruinen“, titelte das Kicker-Sportmagazin, die Welt sprach von „Deutschlands schönster Fußball-Romanze“, die Headline der Bild-Zeitung lautete „Der besoffenste Aufsteiger“, die Frankfurter Rundschau schrieb „Helden für die Ewigkeit“ und der Sender N24 brachte den TV-Beitrag „Das unglaublichste Fußball-Märchen Deutschlands“. Das ZDF heute-journal machte sogar mit dem Aufstieg der Lilien als Hauptthema auf: „Stadt im Höhenflug: Darmstadt in der 1. Liga“. Und in der Tat war der Bundesliga-Aufstieg von Darmstadt 98 im Jahr 2015 der unglaublichste aller Zeiten.

Der kleinste Kader der 2. Liga, der geringste Etat von nur 5 Millionen Euro und ein Team aus gescheiterten Profis, teils kamen sie direkt vom Arbeitsamt zum Stadion am Böllenfalltor. Vor der Saison wurden insgesamt gerade mal 25.000 Euro in Ablösesummen investiert und zum Zeitpunkt des Aufstiegs gab es nur 12 Mitarbeiter. Was in den Jahren 2013 bis 2015 beim SV Darmstadt 98 passiert ist, ist mit Worten kaum zu beschreiben. Lilien-Kapitän Aytac Sulu versuchte nach dem Darmstädter „Uffstiech“ das Phänomen mit dem Wort „geisteskrank“ zu erklären. Stürmer Marco „Toni“ Sailer sagte: „Wir denken nur von Feier zu Feier. Jetzt ist mein Ziel erst einmal 7,9 Promille.“ Trainer Dirk Schuster auf die Frage, wie lange er nach dem entscheidenden 1:0 gegen St. Pauli geschlafen hat: „Keine Ahnung. Ich war voll.“ Und der Darmstadt-98-Boss Rüdiger Fritsch antwortete auf die der Frage nach der Bundesliga-Tauglichkeit des abgehalfterten Böllfenfalltor-Stadions nur trocken: "Wenn Pep kommt, wischen wir vorher noch mal durch." Highlight der Aufstiegsfeier im Darmstädter „Ratskeller“ war der Auftritt von Vize-Präsident Volker Harr. Weil er vor der Saison gewettet hatte, dass die Lilien höchstens Vierter werden, musste er bei der Party einen Striptease hinlegen. Nur im weißen Schlüpfer stand er auf der Bühne, ein sensationelles Foto, das durch Deutschlands Presselandschaft ging. Der Vize-Boss selber dazu: „Eine megageile Party!“

Darmstadts Aufstiegs-Märchen waren bereits in den zwei Jahren zuvor zwei unfassbare und dramatische Ereignisse vorhergegangen, die das Team der zuvor Gescheiterten fest zusammengeschweißt hat.

Rückblende: 18. Mai 2013: Der SV Darmstadt 98 spielt am letzten Spieltag am „Bölle“ gegen die Stuttgarter Kickers. Ein Schicksalsspiel, die Lilien müssen gewinnen, um in der 3. Liga zu bleiben. Es steht 0:1, die Schlussphase läuft, und die 13.600 Zuschauer im Stadion peitschen ihre Mannschaft mit aller Macht nach vorn. Ein Pfostentreffer, dann das 1:1 durch einen Linksschuss von Elton da Costa. Die Stimmung im Stadion kocht. Kurz vor Schluss dann Dramatik pur, ein Lattentreffer, dann der bittere Abpfiff von Schiedsrichter Günter Perl. Alles aus, Darmstadt 98 ist abgestiegen. Ausradiert von der Fußball-Landkarte. Spieler mit gültigem Arbeitsvertrag für die vierte Klasse im Kader: null. Dann die unfassbare Wende: Kickers Offenbach wird kurz darauf die Drittligalizenz entzogen, die Lilien bleiben nachträglich doch noch in der 3. Liga. Mit schmalem Budget werden Profis von der Resterampe des Marktes verpflichtet.

Gleich in der nächsten Saison sorgt Darmstadt 98 für die nächste atemberaubende Geschichte. Die Lilien treffen und siegen, treffen und siegen – es nimmt überhaupt kein Ende mehr. Wöchentlich wird erwartet, dass die unheimliche Siegesserie reißt. Tut sie aber nicht und plötzlich werden sie mit 72 Punkten hinter Heidenheim und RB Leipzig Dritter, der Aufstieg in die 2. Liga ist zum Greifen nahe. Am 16.5.2014 spielt Darmstadt 98 in der Aufstiegsrelegation gegen Arminia Bielefeld. Die Lilien-Fans sind aus dem Häuschen, 16.300 Zuschauer im ausverkauften Böllenfalltorstadion. Dann zerstören Bielefelds Müller, Sahar und Hille eigentlich schon den Traum der Lilien von einer Zweitliga-Rückkehr: eine bitterböse 1:3-Heimpleite im Relegations-Hinspiel. „Arminia Bielefeld so gut wie gerettet“, schrieben die Zeitungen unisono. Als die Lilien zum Rückspiel bei Zweitligist Arminia Bielefeld auflaufen, tragen alle elf Spieler ein blaues Armband. Die Aufschrift: "Du musst kämpfen. Es ist noch nichts verloren."

Welt-Redakteur Lutz Wöckener über den Hintergrund des blauen Armbandes:

„Er war ein hoffnungsvolles Fußballtalent und hessischer Jugendmeister im Tennis. Dann, im Alter von elf Jahren, entdeckten sie in seinem Kopf einen Gehirntumor. Jonathan Heimes kämpfte und besiegte den Krebs. Doch die Tumore kamen zurück. Im Gehirn, im Rückenmark. Seit 14 Jahren geht das nun so, viermal hat er um sein Leben gerungen – und gewonnen. "Du musst kämpfen. Es ist noch nichts verloren", lautet sein Lebensmotto, und ohne Johnny Heimes wäre die unglaublichste Story im deutschen Fußball nicht möglich gewesen. So erzählen sie es jedenfalls in Darmstadt, da wo die Lilien zu Hause sind. In den Fankneipen, auf den Tribünen, auf dem Platz. Der Spruch des glühenden Anhängers vom SV Darmstadt 98 wurde von der Mannschaft adaptiert und gab ihr einen Sinn, eine Überschrift, ein Ziel. Er war die Triebfeder eines Aufstiegs, der im Sommer 2013 in der Regionalliga Süd begann und – nonstop – in die Bundesliga führte.“

Was folgte war die größtmögliche Dramatik beim Spiel auf der Bielefelder Alm. Darmstadt 98 überrannte den verdutzten Zweitligisten fast und hätte schon während der 90 Minuten die nötigen vier Tore erzielen müssen. Es wurden nur die drei von Dominik Stroh-Engel (23.), Hanno Behrens (51.) und Jerome Gondorf (79.), weil Bielefelds Torwart Stefan Ortega ein paar Male glänzend reagierte und zweimal jemand auf der Linie rettete. 22 Torschüsse gaben die Darmstädter in der sensationellen Partie ab, Gondorfs 3:1 brachte die Verlängerung. Dann wurde dieser Fußball-Krimi noch dramatischer: Kacper Przybylko (110.) traf für die Arminia. Trotz der fantastischen Aufholjagd schien Darmstadt 98 leer auszugehen. Mit der letzten Aktion des Spiels fällt das 4:2 für die Lilien durch Joker Elton da Costa, in der 122. Minute. Darmstadt ist nach 21 Jahren wieder zweitklassig und schafft das nächste Fußball-Wunder. Die Süddeutsche Zeitungtitelte „Auferstehung in einer Explosion des Glücks“.

Wer sich die Darmstädter Helden näher anschaut, erhält eine Liste von gescheiterten und aussortierten Profis: Abwehrchef und Kapitän Aytac Sulu schaffte es nicht bei 1899 Hoffenheim und spielte für den österreichischen Zweitligisten Altach. Stürmer „Toni“ Sailer wurde in Heidenheim nicht mehr gebraucht. Flügelspieler Marcel Heller wurde bei Eintracht Frankfurt ausgemustert, ebenso Torjäger Dominik Stroh-Engel beim Drittligisten Wehen Wiesbaden. Rechtsverteidiger Leon Balogun war drei Monate arbeitslos, Benjamin Gorka nach Stationen in Aalen und Osnabrück sogar ein ganzes Jahr vereinslos. Florian Jungwirth und Michael Stegmayer galten früher als deutsche Supertalente, die dann aber böse abstürzten. Jungwirth führte die deutsche U19-Auswahl 2008 zum EM-Titel, später wurde er beim VfL Bochum aussortiert. Stegmayer durchlief alle Junioren-Nationalmannschaften, war Deutscher A-Jugend-Meister mit dem FC Bayern, kickte auch für den VfL Wolfsburg, landete dann aber beim FC Vaduz in Liechtenstein. Die Liste ließe sich problemlos erweitern.

Roh, rau und echt: Unglaublich ist auch das Stadion am „Bölle“, dieser Kultstätte des Fußballs. „Stinkig, schimmlig, eklig“, schrieb die taz treffend, wobei letzteres der drei Adjektive auch explizit auf die Spielweise der Hessen gemünzt war. Eigentlich war das marode Bauwerk nicht mal mehr zweitligatauglich. Steinstufen, DIXI-Klos und staubige Wege umgeben dieses Stück Fußball-Geschichte aus dem Jahr 1921, dessen Fassungsvermögen aus Sicherheitsgründen auf 16.500 beschränkt wurde. Die an eine Schulturnhalle erinnernde Umkleidekabine befindet sich direkt neben dem Presseraum. „Die Kabine stinkt enorm“, erklärte Darmstadt-Keeper Christian Mathenia im Aufstiegsjubel. „Die Bundesligisten können sich auf Schimmel und kalte Duschen freuen“, ergänzte Stürmer Dominik Stroh-Engel. Der Kabinentrakt ähnelt einem Luftschutzbunker, zwischen den Stufen im Stadion wuchert ab und zu Unkraut und der Presseraum sieht aus wie der Klubraum eines Dorfvereins. Es fehlt an so ziemlich allem, was in den neugebauten Fußball-Arenen selbstverständlich ist. Die Ordner am Eingang knipsen die Karten noch mit einer Metallzange ab. Seit dem ersten Aufstieg 1978 hat sich eigentlich nicht viel geändert. "Die Vorfreude auf die Bundesliga ist riesig" sagte Angreifer "Toni" Sailer. Auf seinem linken Unterarm steht ein Spruch, den er sich kurz vor dem Aufstieg hat tätowieren lassen: "Du musst kämpfen. Es ist noch nichts verloren.“

Aufrufe: 027.7.2015, 08:00 Uhr
Rüdiger FröhlichAutor