2024-03-28T15:56:44.387Z

Allgemeines

Der Kreisligatorjäger

Benjamin Christ, 28, trifft wahlweise für die Gehörlosen-Nationalmannschaft oder in der Kreisliga für den GTSV Essen. Seine Bilanz in der vergangenen Saison: 83 Tore in 26 Spielen.

Die beiden Tage im Juni werden sie wohl nie vergessen. Samstags die Meisterschaft, sonntags der Aufstieg. Im letzten und entscheidenden Relegationsspiel. Auswärts. Nach 0:2-Rückstand. Gegen eine Mannschaft mit einem unschätzbaren Vorteil: Ihre Spieler können hören.

Die, von denen diese Geschichte handelt, können es nicht. Zumindest nicht ausreichend, um sich mit den Mitspielern abzusprechen. Erst recht nicht über größere Distanzen auf einem hektischen und lauten Kreisliga-Platz. Die Geschichte handelt vom Gehörlosen-Turn- und Sportverein Essen, der dieses Jahr Historisches vollbracht hat, weil er in der Essener Kreisliga C gestartet ist und gleich den Aufstieg geschafft hat. Und sie handelt von Benjamin Christ, weil der mit absurd klingenden 83 Toren in nur 26 Saisonspielen einen erheblichen Anteil daran hatte.

Christ, 28, ist so etwas wie das Gesicht des Vereins. Nicht nur wegen seiner Tore oder wegen seiner auffälligen Lockenmähne. Christ würde sich selbst nie so sehen, aber ist eine Art Star in der Szene. Auch in der Gehörlosen-Nationalmannschaft spielt er eine Hauptrolle. Erst kürzlich bei der Weltmeisterschaft traf er gleich zum Auftakt gegen Gastgeber Italien. Dann wurde er krank. Als er zur K.o.-Runde wieder fit war, führte er sein Team mit fünf Toren fast im Alleingang durch Viertelund Halbfinale. Erst im Endspiel war Titelverteidiger Türkei eine Nummer zu groß.

„Er kämpft bis zum Schlusspfiff und verliert nie den Glauben für die Sache“, erzählt Mitspieler Florian Hansing über den Torjäger, der „mit seinem Ehrgeiz die ganze Mannschaft ansteckt.“ Nicht zufällig war es Christ, der den GTSV nach dem frühen 0:2 im Aufstiegsendspiel gegen Holsterhausen II aufrichtete und mit zwei Toren für den Ausgleich sorgte.

Diesen immerwährenden Glauben lebt er auch außerhalb des Platzes vor. Während andere zweifelten, war er die treibende Kraft hinter der Idee, mit dem GTSV nicht länger nur Freundschaftsspiele zu bestreiten oder an der Gehörlosen-Meisterschaft teilzunehmen. Er wollte in die Kreisliga und es allen beweisen. Auch den Klubs, in denen sich „Spieler mit Hörbehinderung oft benachteiligt gefühlt haben und unzufrieden waren“, erinnert sich Christ, den es störte, „häufig als Hobbymannschaft abgestempelt“ zu werden. Irgendwann sagten sie sich: „Okay, probieren wir es als eigenständige Mannschaft.“ Genügend Erfahrungen bei Kreis- und Bezirksligisten konnte der Kader aufweisen. Nicht umsonst fuhren neben Benjamin Christ auch sein Cousin Marc, Denis Karczewski und Alexander Peters zur WM nach Italien.

Heraus kam eine sensationelle erste Saison mit zahlreichen Kantersiegen, 150 Toren und netten Erlebnissen mit fast allen Mannschaft. „Ein paar Diskriminierungen“ habe es zwar gegeben, berichtet Christ, aber nichts, worauf sie hätten reagieren wollen. Die meisten Gegner in der nicht gerade als harmonisch geltenden Essener Kreisliga C waren höflich, auch dass der Schiedsrichter bei jedem Pfiff eine Fahne heben muss, störte niemanden. Selbst die Schiris nicht. „Die meisten bekommen es gut hin und verstehen es. Sie sprechen langsam, laut und deutlich“, sagt Hansing.

Sorgen bereitet ihnen andere Sachen. Noch immer hat der GTSV keine richtige Heimat, wo er als gleichberechtigter Verein auftreten kann. Aktuell ist er Untermieter beim FC Karnap an der Lohwiese, trainiert werden kann nur montags und freitags – eher ungünstig für eine Mannschaft, die jeden Samstag in der Gehörlosen-Liga und jeden Sonntag in der Kreisliga ran muss. Zudem habe der Aschenplatz „weder reguläre Maße noch eine ausreichende Flutlichtanlage“. „Diesen Platz müssen wir mit drei Mannschaften teilen“, schrieb Hansing in einem Brief an die Stadt.

Die Antwort fiel ernüchternd aus: Eine zusätzlich Trainingszeit sei nur von 16 bis 18.30 Uhr möglich. „Auch hörgeschädigte Menschen gehen einem Beruf nach“, schrieb Hansing erbost zurück und fragte: „Sport und Teilhabe, Inklusion leben. Nur eine Illusion in der Stadt Essen?“ So sei es nicht möglich zu wachsen. Bis auf die Herren gibt es bislang nur das Futsal-Damen- Team. Der große Traum von der eigenen Jugendabteilung liegt erst einmal auf Eis. Dabei wünschen sich Hansing und Christ nichts mehr, als dass ihr Beispiel Schule macht und mehr Gehörlosen-Teams im offenen Ligensystem mitspielen. Sie müssten sich nur trauen. Obwohl Essen den Titel geholt hatte, gebe es noch bessere Mannschaften, „aber wir sind eingespielter“, sagt Christ.

Das soll auch in der Kreisliga B der Schlüssel zum Erfolg sein. Langfristig soll es noch eine Liga höher gehen. Und Christ traut es dem GTSV zu. Dem Torjäger mache es „sehr viel Spaß zu sehen, wie die Mannschaft zusammenwächst und sich entwickelt“. Der Auftakt ist schon mal geglückt. 5:1 hieß es am ersten Spieltag gegen die Zwote von Preußen 02. Torschütze des historischen ersten Treffers in der neuen Liga: Benjamin Christ.

Aufrufe: 04.10.2016, 15:02 Uhr
Bernd SchwickerathAutor