2024-03-18T14:48:53.228Z

Querpass

Blindes Vertrauen

Einblick in die (sonn-) tägliche Arbeit der Sehbehinderten-Reporter des ASC

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Wie sehen sich blinde oder stark sehbeeinträchtigte Menschen eigentlich ein Fußballspiel an? Louise Braille kann bei diesem Vorhaben bekanntlich nur schwer Abhilfe schaffen. Diese Frage müssen sich ganz besonders emphatische Fans und Förderer des DSC Arminia Bielefeld gestellt haben, als sie einen Audio-Livestream ins Leben gerufen haben. Unter besonderem Zutun von Sebastian Kraus hat sich ein engagiertes Team beim ASC etabliert, das sich als Sehbehinderten-Kommentatoren bereitwillig zur Verfügung stellen Am 27. September 2011 erlebte die erste „sehbehindertenfreundliche“ Reportage im Westfalenpokalspiel in Hövelhof ihre Premiere. Nach einer ca. halbjährig währenden Übergangsphase wurde dann auch offiziell das Team Audio „gegründet“, das seitdem das schönste Spiel der Welt mit viel Witz und Enthusiasmus hör- und erlebbar macht.
Ende des vergangenen Jahres haben die ehrenamtlichen Arminen aber einen herben und schmerzhaften Verlust erleben müssen: Nach kurzer und schwerer Krankheit ist der langjährige DSC-Behindertenfanbetreuer Thorsten „Totti“ Röwekamp am 20.12.2016 verstorben. Er war wegen seiner herzensguten, fröhlichen Art bekannt und beliebt. Sein Engagement im DSC erstreckte sich weit über den Livestream hinaus. Außerdem hatte er stets ein offenes Ohr und eine helfende Hand.

Da zusätzlich ein weiterer Mitarbeiter an den WDR 2 verloren ging, herrschte nun Handlungsbedarf. Und das war der Moment, als ich eine Mail von Cheforganisator Jörg „Benno“ Winkelmann erhielt, der mir von ihrer Arbeit erzählte und den Gedanken einer möglichen Partizipation meinerseits verriet.

Da es schon immer ein kleiner Traum von mir gewesen war, ein Fußballspiel kommentieren zu dürfen, war das DIE Gelegenheit. Ich fackelte nicht lange und fand mich so zum Blitzpraktikum am vergangenen Sonntag im Abstiegsduell gegen den 1. FC St. Pauli pünktlich um 12:30 Uhr in der Schüco-Arena ein.

Kommentatoren - Protokoll

12.45 Uhr: Etwas später als geplant erreiche ich bei leicht einsetzendem Nieselregen die Schüco-Arena und erblicke wider Erwarten an meinem Ankunftsziel nicht den bekannten ASC-Pavillon. Eine freundliche Ordnerin vertraut aber meinem Anliegen ohne Überprüfung meiner Identität blind und schleust mich ungesehen und unbemerkt an den Kontrolleuren vorbei.

12:55 Uhr: Vorstellung im Presseraum: Ein Handshake hier, ein vertrautes Lächeln da. Neue und bekannte Gesichter tauchen vor meinem Auge auf. Es gibt ein paar warme Worte zur Begrüßung und hilfreiche Instruktionen von den heutigen Kommentatoren Charles und Alex. Der andere Novize (Matthias, ein Sportstudent im 5. Semester) und ich lauschen aufmerksam und begeben uns sogleich zum Ort des Geschehens. Im F-Block sind zahlreiche Tische für die Pressevertreter aufgebaut und ein höchst geschäftiges Treiben ist wahrzunehmen. Und unverhofft kommt oft: Schon zum zweiten Mal an diesem Wochenende lauf ich dem weißen Brasilianer, Ansgar Brinkmann, bei einem Fußballspiel über den Weg. Wir müssen beide beim Erblicken des anderen und dem Realisieren dieser (erneuten) Begegnung herzlich lachen. Er ist eben ein treuer Fan beider erster Mannschaften beim DSC.

13:05 Uhr: Sebastian Kraus, der technische Direktor des ASC, erklärt uns einfach und verständlich die Funktionsweise des benötigten Equipments. Zum Glück ist schon alles aufgebaut und eingestöpselt, sodass wir nur mit staunenden Augen und geöffneten Ohren seinen Erläuterungen folgen müssen. Mit einer Grundportion an technischer Affinität, so versichert er uns, sei es sehr unproblematisch ,den Geräten Herr zu werden. Plug and Play ist das Zauberwort! Ansonsten sind alle wichtigen Ein- und Ausgänge mit entsprechenden Hinweisklebestreifen bestens ausgeschildert.

13:15 Uhr: Matthias und ich erhalten sogenannte Empfängergeräte, die ein wenig an ausrangierte Insulinpumpen erinnern, um Ohrenzeuge der Reportage werden zu können - "Learning by Hearing" lautet die Devise. Während der 1. Vorsitzende der BundesBehindertenfanArbeitsGemeinschaft, Alexander Friebel, seine Unterlagen sortiert und das Ipad postiert, dreht sich Charles in aller Ruhe seinen Tabak. Mit seinem wallenden silber-grauen Pferdeschwanz und dem Totenkopf-Siegelring erinnert der selbsternannte Alt-Rocker eher an einen postmodernen CowboyPiraten.

13:25 Uhr: Die Technik bereitet keine Zicken und so können die beiden Kommentatoren, die sich schon schnell als ein eingespieltes und wortgewandtes Duo erweisen, die Zuhörer mit den wichtigsten Hintergrundinformationen ausstatten. Souverän und schnell werden z.B. die Spielbekleidung der Teams beschrieben, die Mannschaftsaufstellungen genannt und das taktische System der hauseigenen Mannschaft präsentiert. Das Schöne hierbei. Es gibt keine Vorgaben seitens des DSC, sodass frei und fröhlich der ein oder anderere überraschte Kommentar ungeniert dem Reporter über die Lippen kommen darf („Anders als es vielleicht viele Arminen erwartet haben, steht Wolfgang Hesl im Tor“)

13:30 Uhr: Das Spiel beginnt. Ich bin überrascht, wieviele spannende und informative Fakten sich in wenigen Minuten einbauen lassen. Gefühlt werden in der Anfangsphase der halbe Saisonverlauf beider Mannschaften anschaulich und unterhaltsam referiert. Beide stecken mitten im Abstiegskampf. Schnell erkenne ich: Man muss über eine enorm hohe Sprechfrequenz und langen Atem verfügen, um verbal am Ball zu bleiben! Denn schließlich soll all das, was sich vor dem eigenen Auge abspielt, möglichst zeitnah kommentiert werden. Nicht zu vergessen, ist hierbei, das Spielgeschehen sprachlich adäquat zu verorten. Schließlich sollen sich die beeinträchtigten Gäste bestmöglich orientieren können, um sich das Spiel besser vorstellen zu können. Je nach dem, wo sich der Ball befindet, stellt es dann den Reporter vor gewisse Herausforderungen, die in der Kürze der Zeit einiges an Improvisationstalent abverlangt oder im schlimmsten Fall zeitweise vernachlässigt werden muss. („Yabo hat den Ball, doch er wird von einem Paulianer kurz hinter der Mittellinie angegangen, sodass er den Ball hinten rum spielen muss!“)

13:50 Uhr: Wenn das Spiel mal vor sich hindümpelt oder es nicht allzuviel Spannendes zu berichten gibt, darf oder muss man auch das Geschehen rund um das Spielfeld beschreiben. So findet Ewald Lienens enormer Freiheitsdrang mehrfache Erwähnung („Ja, wieso steht denn Ewald Lienen schon wieder so weit weg von seiner Box? Und warum sagt der 4. Offizielle nichts? Er ist doch direkt vor ihm? Also von einem Ex-Bielefelder erwartet man wirklich ein bisschen mehr Respekt!“) oder das muntere Treiben der Fans im Stadion („Beide Fankurven sind deutlich zu hören. Sowohl auf dem Rasen als auch auf den Rängen schenken sich beide Teams nichts!“)

14:05 Uhr: Die erste Halbzeit neigt sich langsam dem Ende zu und ich erkenne ein wunderbares Zusammenspiel zwischen Alex und Charles. Denn eine zentrale Tugend bei der Berichterstattung ist es, sich einander nicht ins Wort zu fallen und regelmäßig - auch zur Schonung der eigenen Stimme und Nerven - dem Gesprächspartner das Wort zu überlassen. Sie erweisen sich als Routiniers. Ihre Übergaben und das verbale Passspiel klappt wesentlich reibungsloser und flüssiger als auf dem Platz. Ich muss regelmäßig schmunzeln.

14:15 Uhr: Pünktlich läutet der souveräne Schiedsrichter Robert Hartmann, der sogar in der einen oder anderen Situation etwas nachsichtig war, die Halbzeitpause ein. Ein guter Zeitpunkt, um kurz das Gesehene Revue passieren zu lassen. Und beide Kommentatoren sind sich einig: Das gelbe vom Ei war es noch nicht. was die Zuschauer da geboten bekommen haben. Arminia kann sogar über das 0:0 sehr glücklich sein, hatte doch St. Pauli mit flottem Konterfußball die besseren Chancen gehabt. („Ein Glück, dass der Schiedsrichter völlig zu Recht das Abseits erkannt hat, sonst sehe es gar nicht gut für den DSC aus.“ “Wolfgang Hesl!!!! Mit einer Glanzparade verhindert er eine frühe Führung der Paulianer durch Bouhaddouz!“)

14:20 Uhr: Lagebesprechung. Im gegenseitigem Einvernehmen vereinbaren wir, dass Matthias den Vorzug erhält an der Seite von Charles die Partie weiter moderieren zu dürfen, um die Hörer nicht mit zu viel Fluktuation am Mikrofon zu überfordern. Ein Blick auf den Spielplan verrät, dass meine Premiere aber gar nicht in so weiter Ferne ist. Am 12. März 2017 wird es dann gegen den Traditionsverein Nürnberg soweit sein.

14:30 Uhr: Ausgestattet mit Tee, Cola und Fassbrause (dessen Inhalt ich nach einem entsetzten Ausruf eines Mitglieds des ASC provisorisch in Pappbecher umfüllen musste, um nicht des Verdachts, selbige Flaschen als Wurfgeschosse zu benutzen, zu erliegen :D Anfängerfehler! :D) gehen wir erfrischt in die zweite Halbzeit.

14:34 Uhr: Nach dem Seitenwechsel gelangt dem auffälligen 10er St. Paulis, Buchtmann, nach einer merkwürdigen Kopfballstafette wie zufällig an den Ball. Und ihm gelingt relativ unbedrängt der Führungstreffer gegen den bis dahin tadellos agierenden Hesl. Ärgerlich! Während Charles mit der Vermeidbarkeit dieses Treffers hadert und vor sich hin schimpft („Das kann doch nicht wahr sein! Wie kann der da frei zum Schuss kommen?“), konstatiert Matthias nüchtern-souverän-fachmännisch: „In der Tat. Ein total unnötiger Gegentreffer! Aber es ist ja nicht das erste Mal in dieser Saison. Wie so oft agiert da Arminia vieeeeeel zu halbherzig!“ Und das, obwohl sie einen Hartherz in ihren Reihen haben. Den Florian. Höhöhöh

14:50 Uhr: Wirklich schöne Fußball-Kost ist das nicht, was die Fans vorgesetzt bekommen. Trotzdem erspielt sich die Kramny-Elf mehr Feld-Vorteile, ohne wirklich daraus Kapital schlagen zu können. St. Pauli hingegen scheint schon den Sieg ab der 72. Minute verwalten zu wollen. („Kein Wunder, dass sich der Paulaner Zeit lässt mit der Führung im Nacken“) Ein spürbarer Effekt durch die Einwechslungen scheint sich durch Nöthe und Staude auch nicht wirklich bemerkbar zu machen. Die Sehbehinderten-Reporter der Gäste nutzen diese Zeit, Charles und Matthias mit Gesten zu necken und es entwickelt sich ein nonverbaler höchst munterer Schlagabtausch, den Charles kampfeslustig liebevoll aufnimmt („Na wartet, meine Lieben, ihr werdet euch noch wundern und euer Fett weg kriegen!“ :D )

15:00 Uhr: Die letzten 15 Minuten sind angebrochen, es sieht alles nach einem knappen Sieg für das Team aus dem Norden aus. In wirkliche Verlegenheit konnten die Arminen trotz des größer werdenden Drucks den Gästekeeper Philipp Heerwagen nicht bringen. Zuvor sorgt Fabian Klos aber für einen Aufreger. Der vierte Offizielle stürmt auf den Platz und hält ihn zurück, bevor Schlimmeres passiert. Ein kleines Rudel bildet sich. Der Schiedsrichter Hartmann reagiert besonnen und belässt es bei einer mündlichen Verwarnung. Glück für den Käptn der Blauen!!!

15:13 Uhr: Die Gangart ist wesentlich rauher geworden, die Pfiffe im Stadion gegen Schiedsrichter Hartmann vermehren sich, der in einigen Situationen etwas überfordert wirkt. Die Nerven sind zum Reißen gespannt. Denn der Ausgleich lag Staude auf dem Fuß. Doch Heerwagen verhinderte mit einem grandiosen-Reflex das (überfällige?) Remis. Nach einer Kopfballverlängerung bekommt Staude den Ball überraschend auf den Fuß. Er zieht volley ab, wird aber für seine Geistesgegenwart nicht belohnt. Matthias weiß es besser: „Ach hätte da mal Klos gestanden, dann stünde es jetzt 1:1. Er sollte Recht behalten.

15:17 Uhr: Die Moral bleibt ungebrochen. Arminia drängt geradezu auf den Ausgleich und kann sich in den letzten Minuten eine Ecke nach der anderen erspielen. Drei von fünf Minuten der Nachspielzeit sind vergangen. Fünf, da ein Spieler St. Paulis nach einer missglückten Flanke von Görlitz liegen geblieben war. Ein Ereignis, das Charles nicht ganz so gesehen hatte und ihm im Eifer des Gefechts das blaue Herz höher schlagen ließ („Wenn der nicht mehr kann, soll er vom Platz runtergehen, also wirklich... was soll das denn?!“)

15:18 Uhr: Tooooooor für den DSC. Unfassbar! Was für eine Dramatik! Auf dem letzten Drücker gelingt keinem geringerem als Kapitän Fabian Klos der erlösende Treffer. Fast schon ironisch, da er ansonsten wieder sehr blass geblieben war und bis auf einem an ihm verweigerten Elfmeter nicht wirklich in Erscheinung getreten war. Doch das ist vergessen. Die Ecke von Christoph Hemlein kann St. Pauli im eigenen Strafraum nicht klären. Aus dem Gewühl kommt Klos an den Ball und drückt ihn über die Linie. Matthias und Charles übertragen die Euphorie und Erleichterung energisch und unüberhörbar – sie können sich kaum auf den Sitzen halten. Wie der Rest im Stadion :D

15:20 Uhr: Das Spiel ist vorbei. 1 Punkt im Klassenerhalt sind gesichert. Beide Reporter verabschieden sich merklich mitgenommen und erschöpft von ihren Zuhörern. Mit Dankes- und Abschiedsformeln beendet Charles einen spannenden und höchst unterhaltsamen Livestream. Anschließend stärken Matthias und ich uns im Presseraum mit vorzüglicher Soljanka, während wir den Einschätzungen der beiden Cheftrainer lauschen, die kaum Fragen und Wünsche offen lassen.

Aufrufe: 021.2.2017, 16:30 Uhr
Romina BurgheimAutor