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WM 2014
Auch Gießen feiert den Halbfinaleeinzug der deutschen Fußballer in Brasilien. Hier im Melchiors. Foto: Wißner
Auch Gießen feiert den Halbfinaleeinzug der deutschen Fußballer in Brasilien. Hier im Melchiors. Foto: Wißner

Und wieder scheint die Sonne

PUBLIC VIEWING Ludwigstraßen-Fußballfieber im Minuten-Protokkoll / Open-Air-Feeling lockt

GIESSEN - Spätestens seit dem Algerien-Spiel schien die deutsche WM-Euphorie gedämpft. Zuletzt wurde viel über die wahre Qualität und die Fitness der Nationalelf, die Sturköpfigkeit Jogi Löws und die Aufstellung der Defensive diskutiert. Hatte dies Einfluss auf die Stimmungslage und Fußballbegeisterung der Gießener?

Unabhängig davon war klar: Gießen bietet eine bunte Vielfalt an Public-Viewing-Örtlichkeiten, um WM-Spiele in der gewünschten Atmosphäre zu verfolgen. Die Ereignisse des Viertelfinal-abends, der streng genommen schon am Nachmittag begann, im Minutenprotokoll.

15:45 Uhr: Die Trikotdichte unter den Passanten in der Ludwigstraße steigt. Einige von ihnen werden angesichts des entfernt wolkenverhangenen Himmels im Kinopolis schauen – dort gibt es gesicherte Sitzplätze, klimatisierte Räume und klaren Sound. Innerhalb von nur 30 Minuten sichern sich bereits 150 Personen per Reservierung ihren Sessel. Letztlich werden über 600 Personen in gleich zwei Sälen die Begegnung verfolgen.

15:55 Uhr: Auch im Dachcafé wird eine besondere Art des Public Viewing angeboten: Hoch oben, mit Blick über Gießen und mit einer WM-Speisekarte. Einen „Sweet-Kick-Off“-Cocktail kann man bereits jetzt bestellen.

16:00 Uhr: Fast zeitgleich öffnet das „Ritzi’s“ seine Pforten. Wirt Hansi Ahlborn klärt auf: „Aus kaufmännischer Sicht lohnt sich so eine Public Viewing-Zeit aufgrund der erhöhten Personal- und Aufbaukosten eigentlich gar nicht.“ Aber, und das ist Ahlborn wichtig, „das Geschäft ist mir bei so einem Fußball-Event völlig egal, es zählt das tolle Gruppenerlebnis!“ Das könne heute höchstens Jogi Löw zerstören, wenn er an seiner Aufstellung festhalte.

16:30 Uhr: Die Sonne ist nun komplett weg, ebenso die Sitzplätze entlang der Ludwigstraße – und noch anderthalb Stunden bis zum Anpfiff. Die Gießener haben ihre WM-Begeisterung trotz Wetter-Kapriolen also nicht verloren.

17:00 Uhr: Regen. Glücklich, wer unter Planen oder dicht bewachsenen Bäumen wie beispielsweise im „Liebigseck“ seinen Platz und sein Bier gefunden hat. Der Rest bangt und hofft.

17:15 Uhr: Im „Apfelbaum“-Biergarten ist die Stimmung wahrnehmbar optimistisch. „Als die Aufstellung bekannt wurde, hat sich die Stimmungslage der Leute massiv verbessert“, erklärt Jannick (27), der mit seinen Freunden Tobias (18), Max und Yannick (beide 22) wegen des Open-Air-Gefühls hierher gekommen ist. Zwar hätten die vier Studenten gerne noch eine Umstellung in der Abwehr gesehen, dennoch sind sie – mit Klose im Sturm – sicher: „Wir gewinnen das Ding mit 3:1!“

17:30 Uhr: Nebenan im „Melchiors“ hat Bedienung Yuen-Yee (27) bereits alle Hände voll zu tun. „Es füllt sich stetig, die Leute sind friedlich und sehr gut drauf.“ Vielleicht auch deshalb, weil ihr Chef Eliya Lahdou kurzfristig einen DJ engagiert hat, der den Gästen einheizen soll. „Das wird bei uns heute eine große Party, egal wie das Spiel ausgeht“, ist der Gastronom zuversichtlich.

17:45 Uhr: Blick in den auffällig wenig frequentierten Seltersweg hin zum „Türmchen“. Hier und einige Meter weiter im „Stadtcafé“ haben sich ebenfalls viele Fußballfans niedergelassen. Die Atmosphäre ist hier deutlich ruhiger. Dass gleich Anpfiff ist, merkt man nicht.

17:55 Uhr: Die Hymne. Überraschend stehen entlang der Ludwigstraße viele Fans von ihren erkämpften Sitzplätzen auf – das nennt man wohl Identifikation mit dem Team. Gesungen wird sowieso. Die lockere Stimmung ist verflogen und die Anspannung förmlich greifbar.

18:03 Uhr: Anpfiff – und Sonne! Ein wenig merkt man den Eventcharakter des Public Viewings schon. Einige bemalte und fanartikelbehangene „Anhänger“ schauen häufiger auf ihr Smartphone als auf die Leinwände.

18:05 Uhr: Nebenmann Helmuth (62) führt abwechselnd Bier und Zigarette an den Mund und prognostiziert nach zwei Minuten ohne Tor in einem Rutsch zunächst ein „Abschlachten“ der Franzosen, dann ein klares 0:0, dann ein torreiches Spiel über die Verlängerung und abschließend noch ein Elfmeterschießen – vier Prognosen in einer Minute ernten Unverständnis der Umstehenden, aber es waren auch ähnlich viele Bier in gleicher Zeit.

18:15 Uhr: Hummels. Die Führung für Deutschland wird im „Melchiors“ anmoderiert wie im Stadion. Die Fans, aus ihrer Lethargie der ersten Minuten gerissen, gehen ordentlich mit und skandieren den Namen des Torschützen lautstark.

18:26 Uhr: Ein vermeintliches Foulspiel an Klose im Strafraum führt zu Lagerbildung innerhalb des Publikums. ARD-Kommentator Steffen Simon beendet die Diskussionen mit einem fast salomonischen Adjektiv: „Es war GRENZWERTIG.“ Damit können alle leben.

18:47 Uhr: Halbzeit. Die Ludwigstraße wird von zwei Seiten akustisch eingenommen. „Geh mal Bier holen“ konkurriert mit „Atemlos“ auf der anderen Straßenseite. Die Security-Männer müssen zwar zuhören, haben aber sonst kaum etwas zu tun, alles läuft entspannt ab.

19:05 Uhr: Milder Wind, tolle Aussicht, dafür recht leise – Public Viewing in der Skybar des Dachcafés ist definitiv nicht alltäglich. Kaffee und Wasser werden hier Bier und Wurst vorgezogen. Helene Fischer ist weit weg. „Das Spiel geben wir nicht mehr aus der Hand“, ist sich Manuela (28) sicher, „dafür stehen wir hinten zu gut – die Abwehr ist schon weltmeisterlich!“

19:41 Uhr: Aus der „Straßenschlucht“ hört man entsetzte Schreie, als André Schürrle die Vorentscheidung verpasst.

19:48 Uhr: Laute „Deutschland“-Rufe sollen im „Apfelbaum“-Biergarten dem Team helfen, den Sieg über die Zeit zu bringen. Schürrle scheitert erneut, letztmalig richtig großer Aufruhr. Jetzt ist es ein Nervenspiel, angespannte Stadion-Stimmung pur.

19:54 Uhr: Endlich Abpfiff, darauf Applaus und großer Jubel. War die Stimmung während des Spiels eher verhalten, ist sie jetzt überraschend gelöst. Die ersten Kleingruppen rennen zum Berliner Platz oder zu ihren Autos. Das Hupen beginnt. Dem Pessimismus nach dem Algerien-Spiel ist nun eine entspanntere Sichtweise gewichen, die sich an den Gesichtern der Gießener Fans ablesen lässt. Das Halbfinale kann also kommen! Und Helmuth hatte natürlich Recht…oder?

Aufrufe: 05.7.2014, 09:34 Uhr
Dennis BellofAutor